Der Festband zum 60. Geburtstag von Detlef Garz strebt an, die Kernpunkte von Garz’ bisheriger Arbeit aufzugreifen und damit jene Bereiche sozialwissenschaftlicher Forschung zu beleuchten, die Garz mit den Autoren der einzelnen Beiträge verbinden. Fokussiert werden somit pädagogisch relevante Zusammenhänge zwischen Biographie, Krise, Entwicklung und Bildung in Lebensverläufen sowie deren gesellschaftliche Grundlagen und Rahmenbedingungen. Es handelt sich hierbei um ein thematisches Zentrum, die Beiträge sind jedoch an divergenten analytischen Perspektiven orientiert, deren Bandbreite von methodischen über sozialisationstheoretische bis hin zu historisch-biographischen Zugängen reicht.
Eine methodische Perspektive nimmt Klaus Kraimer ein, dessen Beitrag auf die Beförderung des Verstehens bei der Rekonstruktion autobiographischer Texte sowie in der empirischen Erziehungswissenschaft allgemein abzielt. Zu den zentralen Voraussetzungen eines methodisch kontrollierten Verstehens zählt Kraimer die systematische Datensammlung, die konsequente Orientierung am Fallmaterial sowie eine auf partikulare Fragestellungen bezogene sequenzanalytische Interpretation des Falls. Wenn Kraimer trotz der Kürze seines Beitrags versucht, dabei auch das Wesen der sozialen Arbeit in Theorie und Praxis zu bestimmen und die soziale Arbeit ansatzweise in der Philosophie zu verorten, so tut er dies leider zu Lasten argumentativer Stringenz.
Biographien stellen auch den Untersuchungsgegenstand von Ulrich Oevermann dar. Die Betrachtung biographischer Verläufe unter dem Aspekt der Krisenbewältigung ermöglicht Oevermann, die grundsätzliche Gegenüberstellung von Routine und Krise analytisch fruchtbar mit den Konzepten des Lernens (im Sinne eines routinisierten Einübens) und der Bildung (als einem durch Krisen provozierten Veränderungsprozess) in Verbindung zu bringen. Bildungsprozesse, so die These, vollziehen sich als eine Abfolge grundlegender dispositioneller Transformationen in der Logik der Bewältigung von Krisen. Oevermann bringt die krisentheoretische Analyse von Biographien in Zusammenhang mit der objektiven Hermeneutik, wobei er insbesondere das dialektische Verhältnis zwischen Emergenz und Determination akzentuiert, ein Wechselspiel von eigener Gestaltung einer offenen Zukunft und extern bestimmenden Faktoren in der Entwicklung eines Individuums. Die disziplinpolitische Forderung, bei der fallrekonstruktiven Biographieforschung von subsumtionslogischen Vorgehen (wie sie etwa in den auf Standardisierung angewiesenen quantifizierenden Evaluationen und Qualitätskontrollen verwendet werden) abzusehen, bildet den Schlusspunkt von Oevermanns Reflexion.
Mehrere Beiträge widmen sich sozialisations- und entwicklungstheoretischen Fragen. Zu ihnen gehört auch jener von Wolfgang Althof, der nach der Erkenntnisförderlichkeit des Begriffs der Selbstsozialisation zur theoretischen Aufwertung der Rolle von Aufwachsenden im Prozess ihrer Entwicklung fragt. Diese Frage lässt implizit bereits Kritik an entsprechenden Theoretisierungen vermuten. In der Tat legt Althof denn auch dar, dass die Fokussierung auf Selbstsozialisation, welche logisch auf das komplementäre Konzept der Fremdsozialisation verweise, einer Unterschreitung des gegenwärtigen Standes der Sozialisationsforschung entspreche. Dies unter anderem deshalb, weil eine Unterscheidung zwischen Sozialwerdung und -machung (Fend) schon länger existiere; ferner aufgrund der Feststellung, dass Theoriegruppen zur Begründung eines Konzepts der Fremdsozialisation sozusagen ausgedient hätten; und schliesslich weil Entwicklung und Sozialisation immer eine dialektische Einheit von Vergesellschaftung (also des pädagogischen Beitrags) und Individuierung (d.h. des persönlichen Beitrags) voraussetzen würden, kurz: weil die Engführung des Diskurses auf Selbstsozialisation eine einseitige Betrachtung sozialisatorischer Prozesse darstelle und begrifflich zu Unrecht die für die Subjektgenese konstitutiven Fremdeinflüsse abspalte. Dass diese strikte Auftrennung allerdings auch in jenen Theorien nicht vorgenommen wird, die dezidiert subjektbezogene Perspektiven einnehmen und die konstruktive Eigenaktivität des Individuums bei der Sozialisation hervorheben, droht leider in der Logik der Argumentation unterzugehen.
Inwiefern ein modernes Sozialisationsverständnis auch Elemente einer Prägung durch soziokulturelle Einflüsse beinhalten muss, illustrieren Mark Tappans Ausführungen zur Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität. Ihm zufolge weisen Jungen nicht aufgrund biologischer Merkmale einen männlichen Verhaltensstil auf, sondern weil sie kulturell vorgeformte Männlichkeitsideologien auf ihr Verhalten anwenden. Dabei komme den Medien eine herausragende Bedeutung bei der Figurierung einer scheinbar idealtypischen Männlichkeit zu. In einer Intervention zur Steigerung der Medienkompetenz brachten Tappan und Mitarbeiter deshalb Jungen bei, mediale sowie populärkulturelle Botschaften über die Männlichkeit kritisch zu verarbeiten. Dabei konnten sie hypothesenkonform zeigen, dass die Entwicklung der Geschlechtsidentität nicht ein unveränderbarer prädeterminierter Prozess ist, sondern wesentlich auch ein durch diskursive und symbolische Praktiken vermittelter, wandelbarer Vorgang einer kulturellen Reproduktion von Männlichkeit. Den Hinweis auf alternative Erklärungsansätze zur Entwicklung der Geschlechtsidentität (man denke etwa an tiefenpsychologische, lerntheoretische oder systemische Modelle) bleibt uns Tappan allerdings schuldig.
Ausgehend von der Beobachtung, dass Forderungen nach mehr „Mut zur Erziehung“ erneut Konjunktur haben, widmet sich Franz Hamburger der Frage, wohin Bernhard Bueb – einer der prominentesten Vertreter entsprechender Forderungen – die Pädagogik führen will. Hamburger reflektiert, inwiefern das Verlangen nach erzieherischer Strenge als Reaktion auf Zeit- und Kulturzerfallsdiagnosen wie jener von Bueb verstanden werden kann, wonach viele „ziel- und führungslos durchs Land [irren]“, und er zeigt auf, wie der Ruf nach ordnender Erziehung mit Heilsbotschaften verknüpft wird, die dem Mythos des Niedergangs der Kultur antagonistisch entgegenstehen. Hamburger liefert vor diesem Hintergrund eine kritische Rezeption der Buebschen Pädagogik, welche weitgehend auf der vorbehaltlosen Anerkennung von Autorität und Disziplin beruhe. Was ein solches erziehungstheoretisches Programm in praxi bedeuten kann, konkretisiert Hamburger eindrücklich anhand einer Darstellung der von 1962 bis 1966 verhängten Strafen in einem süddeutschen Erziehungsheim, als die Praktiken des Beschämens und des Schlagens, das heisst einer strengen Disziplinierung bis hin zur Isolierung von Jugendlichen zur Tagesordnung gehörten.
Fritz Oser skizziert Gedanken zu einer Theorie der Bildung, wonach Lernende durch die Aneignung bildungsrelevanter Inhalte mehr erlangen als diese Inhalte selbst und so beispielsweise durch die Verarbeitung eines Literaturkanons mehr als diesen Kanon, nämlich etwa eine den Kanon transzendierende kulturelle Sensitivität erreichen. Die emergenztheoretisch und gestaltpsychologisch relevante Auffassung, dass die ganze Bildung mehr sei als die Summe ihrer Teile, entspringt einerseits einer kritischen Auseinandersetzung mit einer modernen technokratischen und ökonomistischen Gesellschaft, welche zunehmend auf die Vermessung von Bildung ausgerichtet ist, sowie andererseits vor dem Hintergrund der These, dass Bildung nicht als Produkt, sondern als Prozess zu konzipieren sei. Dabei bestimmt Oser die Bildung in Abgrenzung von der Annahme, dass Bildungsstandards etwas mit Bildung zu tun hätten, als das „Darüberhinausgehende“, als eine Verhaltensdisposition, welche die eigentlichen Bildungsgegenstände überschreitet und beiläufig (d.h. als nicht normierbare Folge der Beschäftigung mit einem Bildungsinhalt) entsteht. Den logischen Widerspruch zwischen den beiden von ihm postulierten konträren analytischen Konzepten einer Bildung als Prozess und einer Bildung als Disposition löst Oser dabei leider nicht auf.
Micha Brumlik widmet sich den Eigenheiten deutsch-jüdischer Emigration nach Palästina sowie den Möglichkeiten und Bedrängnissen, welche mit der Kultur einer jüdischen Jugendbewegung und der entschlossenen Umsetzung einer marxistischen Weltanschauung in die Praxis verbunden waren. Er zeichnet nach, wie Gründer und Mitglieder des Kibbuz Hasorea, einer linkssozialistisch organisierten Gemeinschaftssiedlung, die der in Deutschland um die Jahrhundertwende entstandenen bündischen Subkulturbewegung entsprungen ist, ideologisch durch Leben und Werk Martin Bubers und Stefan Georges inspiriert waren, und er liefert Erklärungsansätze für die Frage, wie es zu diesem ambiguen geistigen Bezugspunkt und der Intensivierung eines religiös begründeten Gemeinschaftsdenkens kommen konnte.
Stefan Müller-Doohm richtet den Blick auf drei „idealtypische Modelle“ des Intellektuellen – Benjamin, Adorno und Habermas – und bestimmt deren Verhältnis zu Kritik und Öffentlichkeit, um schliesslich ein Denk- und Handlungsmuster zu beschreiben, welches die intellektuellen Stile dieser drei herausragenden Intellektuellen in einem übergreifenden Sinn verbindet. Dabei rekurriert er auf Benjamins metaphorische Charakterisierung des Intellektuellen als Feuermelder und Notbremse in einer durch gesellschaftliche Widersprüche bedrohten Zeit. Er schildert Adornos Haltung des Intellektuellen als Dissident in der Öffentlichkeit, der Konformitätszwängen und illegitimer Macht konsequent opponiert. Und er beleuchtet Habermas‘ Unterscheidung zwischen rettender Kritik, welche auf die Aufrechterhaltung einer Vision des von Unterdrückung befreiten Lebens abzielt, und bewusstmachender Kritik, welche die Aufhebung von Herrschaft und Unrecht durch Erkenntnisfortschritte als Selbstaufklärung bezweckt und aus dem Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit verständigungsorientiert Handelnder resultiert. In diesem Licht konturiert Müller-Doohm den intellektuellen Idealstil überzeugend als eine Form der Agonalität im Sinne einer Haltung zur Erzeugung von Differenz und damit Diskursivität im öffentlichen Diskurs.
Auf welche Weise gesellschaftliche Diskurse dabei auch den Lauf der Geschichte zu beeinflussen vermögen, reflektiert Hauke Brunkhorst. Er sieht durch die globale Nutzung neuer Kommunikationsmedien und Verkehrsmittel eine Weltöffentlichkeit entstehen, die auf der Bühne der ‚Weltinnenpolitik’ zunehmend an Einfluss gewinne und beispielsweise durch ‚global blaming’ und ‚global shaming’ zu einem zentralen Instrument der Menschenrechtspolitik geworden sei. Die Weltgesellschaft und ihre Kultur seien normativ integriert in die öffentliche Meinungs- und Willensbildung sowie in die Handlungsabsichten der politischen und wirtschaftlichen Akteure, das heisst in eine res publica ohne Staat. Eine rechtsbewusste Gesellschaft hat es gemäss Brunkhorst beispielsweise möglich gemacht, dass Menschenrechtsverletzungen öffentlich als Rechtsbruch erfasst und (z.B. durch Tadel oder Protestbewegungen) moralisch abgestraft werden. Die Frage nach den Grenzen der Partizipationsmöglichkeiten einer solchen Weltgemeinschaft deutet Brunkhorst zwar an, sie wäre jedoch an anderer Stelle eingehender zu behandeln.
Ein thematisch anders gelagerter Beitrag stammt von Uwe Raven, der sich mit den Bedingungen einer professionalisierten Hilfe für pflegebedürftige Menschen im hohen Alter auseinandersetzt. Raven überprüft normative Grundlagen der Altenpflege sowie deren Begründungen. Im Zentrum seiner Überlegungen steht der einfache axiomatische Grundsatz, dass die Degeneration personaler Identität ein krisenhafter Prozess sei, der professionelle Unterstützung zu dessen Bewältigung erforderlich mache. Das hohe Alter bedeute für pflegebedürftige Menschen eine fundamentale Krise – Raven schlägt dafür den Begriff der Seneszenzkrise vor – insofern, als das Krisenlösungspotential vor dem Hintergrund des Verlusts von Handlungsautonomie abnehme und zugleich Aberkennungserfahrungen im Sinne emotionaler, sozialer und rechtlicher Missachtung etwa bei sozialem Ausschluss oder ‚Unterbringung’ in Heimen vielfach zunähmen. Zu bedauern ist, dass die mitunter schematische Schilderung von Aberkennungsverhältnissen in Heimen entsprechende stationäre Einrichtungen pauschalisierend zu verunglimpfen droht.
Insgesamt belegt der Sammelband, dass Garz’ Denken und Schaffen, auf das die meisten Autoren mehr oder weniger explizit Bezug nehmen, zu vielfältigen weiterführenden Forschungen inspirieren konnte. Leider bilden die einzelnen Analysen jedoch nur unter diesem Gesichtspunkt eine Einheit. Bedauernswert ist zudem, dass die meisten Reflexionen das Titelthema – „Natürlich stört das Leben ständig“ – nicht aufnehmen und dass das breite Spektrum der Untersuchungsgegenstände bei aller Reichhaltigkeit der Denkanstösse eine gewisse Beliebigkeit in der Komposition der Beiträge zur Folge hatte. Wer sich mit den behandelten Themen intensiver auseinandersetzen möchte, wird wohl nur gelegentlich auf diesen Band rekurrieren, da der inhaltlichen und methodischen Systematik (wie in anderen Festschriften auch) Grenzen gesetzt waren. Festhalten lässt sich allerdings: Trotz der hier skizzierten Defizite vermag der Band einige hergebrachte Denk- und Sinnfiguren im Zusammenhang mit Fragen zu Entwicklung, Biographie und Krise zu stören und uns auf diese Weise für neue Überlegungen empfänglich zu machen. Dass durch die einzelnen Beiträge nicht sämtliche Forschungstraditionen in die Krise geraten, ist unter anderem auf die Kürze und die Pluralität der Beiträge zurückzuführen. Eingedenk dieser selektiven Diversität darf in keinem der beforschten Bereiche eine systematische Erfassung des gegenwärtigen Diskussionsstandes erwartet werden. Manchmal sind Meteoren jedoch erhellender als Galaxien.
EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)
„Natürlich stört das Leben ständig“
Perspektiven auf Entwicklung und Erziehung
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009
(185 S.; ISBN 978-3-531-16609-4; 29,90 EUR)
Kaspar Burger (Fribourg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kaspar Burger: Rezension von: Bartmann, Sylke / Fehlhaber, Axel / Kirsch, Sandra / Lohfeld, Wiebke (Hg.): „Natürlich stört das Leben ständig“, Perspektiven auf Entwicklung und Erziehung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116609.html
Kaspar Burger: Rezension von: Bartmann, Sylke / Fehlhaber, Axel / Kirsch, Sandra / Lohfeld, Wiebke (Hg.): „Natürlich stört das Leben ständig“, Perspektiven auf Entwicklung und Erziehung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116609.html