
Der Gegenstand der Dissertation von Katja Wohlgemuth ist – ausgehend von der eingangs skizzierten Problemstellung – der Begriff der Prävention. Sie untersucht das Begriffsverständnis im sozialpädagogischen und -politischen Kontext. Dabei nähert sich die Autorin dem Begriff systematisch über eine theoriegeleitete Heuristik und empirisch über seine Verwendung in den Hilfen zur Erziehung. Ihr Ziel ist es, Einblicke in die Verständnisweisen der „Zauberformel“ Prävention in der Disziplin und Profession der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Sozialpolitik zu erhalten.
Zunächst nimmt Wohlgemuth eine Klärung der Verwendungsweisen des Begriffs in verschiedenen Kontexten vor und arbeitet definitorische Elemente des Präventionskonzepts heraus. Konstitutiv für Prävention sei die Idee des Verhinderns (21) und damit die beabsichtigte positive Beeinflussung einer zukünftigen, als negativ erachteten Entwicklung. Damit ist ein weiteres Element von Prävention angesprochen: die ihr innewohnende Normativität (22), vor deren Hintergrund erst eine Unterscheidung in erwünschte und nicht erwünschte, in negative und damit zu verhindernde oder positive und damit anzustrebende Ereignisse möglich sei. Damit komme Prävention eine kontrollierende und normalisierende Funktion zu, insbesondere mit Blick auf ihre so genannte kausale Argumentationslogik (s.u.). Als weiteres konstitutives Element hält Wohlgemuth den konservativen Charakter von Prävention (ebd.) fest, da es das Ziel von Prävention sei, gegenwärtige gesellschaftliche Strukturen und Normen zu bewahren. Zudem folge der Präventionsbegriff verschiedenen Logiken: Zum einen der Idee der Kausalität (23), d.h. derjenigen eines kausalen und zugleich (technologisch) steuerbaren Zusammenhangs zwischen gegenwärtiger Situation und zukünftiger Entwicklung. Zum anderen ist die Annahme der Finalität (24) wesentlich. Dieser Logik ist ein ermöglichender, emanzipativer Charakter eigen, der nicht von einer intentionalen Beeinflussung von Personen ausgeht, sondern vielmehr durch die Veränderung von Strukturen und Verhalten versucht, Möglichkeiten zur Befähigung von Personen zu schaffen. Auch hier geht es um ein Verfügbarmachen von Zukunft, wenngleich unter anderen Vorzeichen als bei der auf Finalität zielenden Argumentation. Anhand dieser definitorischen Elemente arbeitet die Autorin zentrale, idealtypische Dimensionen des Präventionsbegriffs heraus und unterscheidet analytisch vier Präventionsformen.
Auf der Basis dieser Heuristik untersucht die Autorin die Präventionsdiskurse innerhalb der sozialpädagogischen Disziplin seit den späten 1970er Jahren, als der Präventionsbegriff in die Soziale Arbeit importiert wurde. Dabei habe seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die kausale Logik in ihren beiden Varianten (anstrebend und verhindernd) die Oberhand, was in der Disziplin kritisch konnotiert wird.
In einem weiteren Schritt analysiert Wohlgemuth Prävention im sozialpolitischen Kontext und unterscheidet drei Verwendungsweisen des Begriffs. U.a. soll sich Prävention als sozialpolitisches Instrument rechnen (90).
Im dritten Zugang wird ergründet, wie der Präventionsbegriff im professionellen Kontext von Fachkräften thematisiert wird, welche Implikationen er transportiert und welche Funktion er für die Fachkräfte hat (139). Die Autorin setzt methodisch Gruppendiskussionen ein und wertet diese auf der Basis der Dokumentarischen Methode aus. Ihre Studie fußt auf einem Sample von 16 Fachkräften aus dem Arbeitsfeld Hilfen zur Erziehung in zwei deutschen Großstädten.
Wesentlich ist, dass der Präventionsbegriff im Unterschied zur disziplinären Debatte nicht kritisch verwendet wird. Dominant ist die Idee, mittels präventiver Maßnahmen Probleme frühzeitig zu erkennen und diese zu verhindern, um Kinder und Jugendliche zu schützen und Familien zu entlasten. Problematische Aspekte wie die generalisierende Logik des Verdachts werden nicht genannt. Im Gegenteil wünschen sich die Fachkräfte mehr präventive Anteile an ihrer Arbeit. Der Begriff selbst wird als unscharf beschrieben und ließe sich kaum gegen andere Fachtermini u.a. dem der Intervention abgrenzen. Wohlgemuth schlussfolgert, dass der entgrenzte Präventionsbegriff seine Attraktivität u.a. aus der Argumentation bezieht, dass letztlich jegliche Maßnahme dazu beiträgt eine negative Entwicklung zu beenden oder zumindest zu unterbrechen. Darüber hinaus arbeitet die Autorin drei Präventionsverständnisse heraus, die sie der Einzelfallarbeit, der einzelfallübergreifenden Arbeit und der Prävention als sozialpolitisches Projekt zuordnet.
Wohlgemuth resümiert, dass Prävention das Ziel verfolge, Kindern und Jugendlichen ein zufriedenes und (später) eigenständiges Leben zu ermöglichen. Dabei biete Prävention Hilfe für Familien, Kinder und Jugendliche in einer von den Fachkräften beschriebenen, sich zum Negativen verändernden Gesellschaft, sie biete Schutz vor sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen (vermehrter Drogenkonsum, mehr Vernachlässigungen). Schließlich biete Prävention Orientierung an einem traditionellen Wertekodex. Damit, so Wohlgemuth, „soll Prävention nicht nur Adressatinnen und Adressaten der Hilfen zur Erziehung eine Orientierung ermöglichen, sie tut dies auch für die professionellen Fachkräfte, indem sie dem wahrgenommenen Wandel zum Negativen ein positives bzw. anzustrebendes Gegenbild entgegensetzt und damit professionellem Handeln ein Ziel bzw. einen Sinn gibt“ (255f). Dies sei möglicherweise ein Grund für die Attraktivität des Begriffs.
Im Fazit hält die Autorin fest, dass der Präventionsbegriff in der Disziplin überwiegend eine kritische Konnotation erfahre u.a. mit Blick auf sein mechanistisches Menschenbild und seine Nähe zu Strategien sozialer Kontrolle. In der Sozialpolitik indessen gebe es weit weniger Problembewusstsein; vielmehr sei Prävention mit der „Verheißung der Machbarkeit“ (258) verbunden. Im Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung schließlich markiere Prävention zunächst einen Anspruch an das eigene professionelle Handeln und sei zugleich Teil des Selbstbildes. Prävention sei hier die Maxime des Handelns und nahezu ausschließlich positiv besetzt. Ein Problem ergebe sich lediglich aus dem Dilemma des diagnostizierten Werteverfalls einerseits, der Prävention mehr denn je erforderlich mache und andererseits der Wahrnehmung, dass Prävention im Arbeitsalltag zu kurz komme. Es gebe verschiedene Wege, wie Fachkräfte diese Paradoxie professionellen Handelns lösen könnten. Wohlgemuth beobachtet, dass es zur Umdeutung des Begriffs kommt, indem Prävention auf die Idee des Verhinderns von Schlimmerem reduziert werde, so dass quasi jegliche pädagogische Maßnahme als präventiv ausgelegt werden kann.
Alles in allem legt Wohlgemuth eine aktuelle und innovative Arbeit vor, die die vielfältigen Facetten des Präventionsbegriffs in drei Kontexten unter die Lupe nimmt. Dabei arbeitet sie Überschneidungen im Präventionsverständnis und Unterschiede in der Anwendung des Begriffs in der Disziplin, der Sozialpolitik und dem Arbeitsfeld Erzieherische Hilfen heraus. Die Argumentationen der Autorin sind plausibel und ermöglichen interessante, anschlussfähige Fragen.
Kritisch anzumerken ist, dass Wohlgemuth ihre Vorgehensweise wenig transparent darlegt und man über die theoretischen Grundlagen und die Hintergründe ihrer Analysen somit kaum etwas erfährt. Es bleibt unklar wie sie die Verwendung des Präventionsbegriffs in der sozialpädagogischen Disziplin untersucht. Dabei ist auch nicht nachvollziehbar welche Autoren sie als „legitime Sprecher“ der Disziplin ansieht, die dem Präventionsverständnis ablehnend und nahezu ausschließlich kritisch gegenüberstehen. Eine eher affirmative Lesart von Prävention taucht damit im disziplinären Diskussionszusammenhang z.B. gar nicht auf. Ebenfalls nicht transparent sind die Rekonstruktionen der sozialpolitischen Position. Eine methodisch reflektierte Vorgehensweise ist allein im Abschnitt zum Arbeitsfeld Erzieherische Hilfen zu erkennen; beide zuvor dargelegten Analysen lassen eine empirische Unterfütterung vermissen.
Dennoch macht die Autorin auf äußerst spannende Begriffsverwendungen aufmerksam, die es lohnt vertiefend und in regelmäßigen Abständen erneut zu untersuchen auch angesichts aktueller disziplinärer, sozial- und professionspolitischer Veränderungen.