EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)

Marcel Klaas/ Alexandra FlĂĽgel/ Rebecca Hoffman/ Bernadette Bernasconi (Hrsg.)
Kinderkultur(en)
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2011
(329 S.; ISBN 978-3-5311-6468-7; 34,95 EUR)
Kinderkultur(en) Für den unbedarften Leser, die unbedarfte Leserin erschließt sich der vorliegende Band nicht auf den ersten Blick. Die Beiträge erscheinen in ihrer Ordnung nach Spiel, Bildung, Grundschule und Freizeit / Reisen unverständlich, auch scheinen wichtige Aspekte heutiger Kinderkultur wie etwa die Bereiche Familie, Medien, Sport, Freizeitaktivitäten im Verein sowie Fragen zur materiellen Kinderkultur, zu den Peers und die Frage der sozialen Ungleichheit als kulturelle Ungleichheit in der Kindheit zu fehlen. Liest man die einleitenden Überlegungen der Herausgeber, die einen kurzen und prägnanten Abriss neuerer Ansätze zur Kindheitsforschung geben und sich vorsichtig dem Phänomen „Kinderkultur“ nähern, allerdings genauer, so wird deutlich, dass der Sammelband einen offenen, kreativen Zugang zum Leben heutiger Kinder ermöglichen könnte, zumal Kinderkultur in ihren vielfältigen Aspekten, in ihrer Kultur für Kinder und der Kultur der Kinder als eine wenig theoretisch reflektierte und systematisierte Forschungsrichtung vorgestellt wird.

Vergegenwärtigt man sich, dass der Band aus einem Symposium mit dem Titel „Kinderkultur(en)“ hervorgegangen ist, das 2009 als Auseinandersetzung mit „den Arbeiten Gisela Wegener-Spöhrings“ (15) abgehalten wurde, und liest man den ehrenden Beitrag von Wolfgang Nahrstedt am Ende des Bandes, der zur „Aufnahme ihres Ruhestandes“ geschrieben wurde (318), wird erkenntlich, dass wir es – etwas versteckt – mit einer eigenwilligen Form der Festschrift für Gisela Wegener-Spöhring zu tun haben, eine Ehrung allerdings, die als sehr gelungen bezeichnet werden kann. Zwar ist es etwas ungewöhnlich, dass Schriften der Jubilarin sich im dem Band finden, aber die sechs Texte von Gisela Wegener-Spöhring aus den Jahren 1991 (2 Aufsätze), 1992, 1994, 1998 und 2004, die in dem vorliegenden Band erneut veröffentlicht wurden, sind so etwas wie Navigationszeichen durch die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kindheit und Kindern. Die Neuabdrucke spiegeln zum einen die Interessen und Arbeitsgebiete der Geehrten wider und sind zum anderen Anregungstexte, in deren Kontext die anderen Aufsätze in der Publikation zu lesen sind; eine gelungene Form der Auseinandersetzung mit einem wissenschaftlichen Weg.

Schon der erste Aufsatz von Gisela Wegener-Spöhring aus dem Jahr 1991, der den einzelnen Themenblöcken vorangestellt ist, umreißt programmatisch die Forschungsrichtung, die Art und Weise wie Kinder und ihr Tun verstanden werden und mit welchen Methoden die Pädagogik sich ihnen überzeugend nähern könnte (wenn sie denn wollte). Kinderkultur wird als Beobachtung von Spielszenen im Schwimmbad vergegenwärtigt. Derjenigen Kultur, die Erwachsene für Kinder schaffen, wird dezidiert die Kultur, die Kinder selbst entwickeln, als Herausforderung für Pädagoginnen und Pädagogen gegenüber gestellt: „Zu einer Kinderkultur haben wir Erwachsene kaum Zutritt“ (27).

Der Text zeigt – neben der theoretischen Begründung und der offenen Reflexion der Erfahrungen der Forscherin im Feld – eine sehr genaue Beobachtungsgabe und eine sehr engagierte Positionierung für die Spielwelt und den Alltag der Kinder: „Vor allem gilt es zu akzeptieren, dass Spiel- und Kinderkultur nicht die harmlos-kindliche Spielerei darstellt, zu der wir Pädagogen das kindliche Spiel oft gern reglementieren“ (31). Kindheitsforschung in diesem Sinne ist immer auch Arbeit der Erwachsenen an den eigenen Kindheitsbildern und Vorurteilen und an den eigenen Machtfantasien: „Ich plädiere dafür“, schreibt Gisela Wegener-Spöhring, „dass wir uns bemühen, erst einmal zu verstehen, wenn uns die Kinder denn einen Blick in ihre Kultur tun lassen“ (ebd.).

Damit ist das Zentrum des gesamten Bandes umschrieben, von dieser Position aus lassen sich die weiteren Aufsätze in Gegenrede, Ergänzung, Erweiterung oder Diskussion verstehen. Es geht um eine Kindheitsforschung, die sich als pädagogische Forschung versteht, und den Eigensinn der Kinder nicht vorschnell soziologischen oder psychologischen Theorien und auch nicht einer Bildungsdiskussion aus Erwachsenenperspektive opfern will.

Folgerichtig schließt sich im folgenden Themenblock „Spiel“ ein Aufsatz von Wegener-Spöhring (1994) an, der das Spielen als Freiheit der Kinder akzentuiert und das soziale Lernen im Spielen herausarbeitet. Der folgende Beitrag von Johannes Bilstein nimmt diese Spur auf und untersucht – in einer grundlegenden, auch historischen Perspektive – das Glück im Spiel, und führt seinen Lesern – auch an den Schattenseiten der unkontrollierbaren Göttin des Glücks – vor Augen, dass das Leben eine „unendliche Kontingenz“ hat, und „dass eben jederzeit alles passieren kann“ (69). Auch hier wird ein Motiv aufgegriffen, das schon zu Beginn thematisiert wurde: Spiel und Kinderkultur sind – wie das gesamte Leben auch – keine harmlosen Zeitvertreibe und Tätigkeiten, bei denen alles auf dem Spiel stehen kann.

Auch Barbara Rendtorff, die sich mit den geschlechtstypischen Aspekten im kindlichen Spiel auseinandersetzt, wehrt sich gegen allzu leichte und allzu offensichtliche Deutungen des Kinderspiels, zumal, wenn vorschnell Geschlechterunterschiede als Jungen- und Mädchenspiele „wie selbstverständlich“ und „ohne dass diese Aussagen genauer überprüft“ werden, „quasi-naturhaft“ festgestellt werden (72). Und nach einer etwas verschlungenen Argumentation stellt die Autorin am Ende fest, dass es „sehr viel weniger um die offenkundigen […] Erscheinungen“ gehen müsste, „als darum, die strukturellen Aspekte, die dabei in symbolischer Form auftauchen, besser zu verstehen – dies nicht zuletzt, um adäquat auf sie reagieren zu können“ (83). Verstehen gilt auch hier als Grundlage (pädagogischen) Handelns.

Die Bedeutung und die Ernsthaftigkeit der Kultur der Kinder schon in der frühen Kindheit wird auch im Beitrag von Gerd Schäfer deutlich, der sehr gelungen, in einer Verbindung von Theorie, Anschaulichkeit und Analyse von Kinderbeobachtungen, den Eigensinn kindlichen Gedankenspiels und die Fremdheit der Kinderkultur für die Erwachsenen vor Augen führt. Dass Kinderkultur nie für sich alleine steht, sondern im Zusammenspiel von Kindern und Erwachsenen gesehen werden muss, ist eine der zentralen Erkenntnisse, die Schäfer zu einer pädagogischen Kindheitsforschung überzeugend beiträgt (101).

Der Themenbereich Spiel wird noch durch zwei Beiträge zur Computerspielkultur (Wegener-Spöhring; Neuenhausen) abgerundet, die deutlich machen, dass die neuen Spielformen keineswegs pädagogisch vorverurteilt oder einfach abgewertet werden dürfen, sondern besondere Anstrengungen des pädagogischen Verstehens erfordern. Die anderen Themenbereiche Bildung, Grundschule sowie Freizeit / Reisen entwickeln sich nach einer ähnlichen Logik und sollen hier nicht im Einzelnen durchdekliniert werden.

Anregend ist der Band auch an den Stellen, wo die Kinderkultur in einen Dialog gesetzt wird zur Schulpädagogik, etwa wenn Wegener-Spöhring (132) sich mit Hartmut von Hentig und Hermann Giesecke auseinandersetzt, um eine unhintergehbare Spannung zwischen Innenorientierung und Außenorientierung angesichts einer auch in der Pädagogik aufscheinenden Erlebniskultur zu diskutieren. Der Grundsatz des „Menschenstärkens und Sachenklärens“ hat sich – so die Autorin – in der Erlebnisgesellschaft in seiner Bedeutung verschoben, und sie wendet sich ganz im Sinne ihrer pädagogischen Grundüberzeugung nicht gegen die Kinder, sondern fordert eine „Bildung der Erlebnisfähigkeit“ und immer noch und immer wieder die pädagogische Arbeit an der Aufhebung der Macht (146).

Auch hier wird der Faden wieder aufgegriffen. Der Beitrag von Rainer Peek fragt angesichts der Entwicklung von Standardprüfungen danach, wie der Unterricht „dem Einzelnen gerecht“ werden kann. Und ein weiterer Aufsatz von Gisela Wegener-Spöhring thematisiert den Sachunterricht als einen sozialen Raum, in dem Aufmüpfigkeit und Freude unerwünscht sind.

Empfohlen werden können auch die Beiträge zur kindlichen Tourismusforschung, die in gelungener Weise den im gesamten Band entworfenen Zugang zur Kinderkultur deutlich werden lassen. Hier zeigt sich auch die Stärke einer qualitativen Forschung, die durch die Arbeit mit Interviews, historischen Dokumenten oder Beobachtungen Zugänge der „kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung“ (278) zu Reisen von Kindern in die Erziehungswissenschaft einbringt.

Insgesamt ist der Band von Klaas, Flügel, Hoffmann und Bernasconi bedeutend weniger unklar als es zunächst den Anschein hat. An ausgewählten Themenfeldern werden vorsichtige Annäherungen an die Kinderkultur vorgestellt und intensive Diskussionen für ein Wahrnehmen und Verstehen der Kinderkultur geführt. Eine konsequente Orientierung am Alltag der Kinder und an der Fremdheit von Lebenswelten, die Pädagoginnen und Pädagogen oft so selbstverständlich erscheint, ist ebenso überzeugend wie die vorgeführten methodischen Zugänge zur Kindheit.

Der vorliegende Band kann als ausgezeichneter Beitrag für eine offene pädagogische Kindheitsforschung verstanden werden, die Aspekte unterschiedlicher Disziplinen in ihrer Theorie aufnimmt und sich vor Diskussionen mit schulpädagogischen Strömungen nicht scheut, aber stets mit ihrer Sympathie und mit ihren Methoden eng an der Lebenswelt der Kinder bleibt. In diesem Sinne fordert der Band zum Gespräch mit Gisela Wegener-Spöhring und den anderen Autoren auf und macht Lust, Weiteres zu lesen.
Burkhard Fuhs (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Burkhard Fuhs: Rezension von: Klaas, Marcel / FlĂĽgel, Alexandra / Hoffman, Rebecca / Bernasconi, Bernadette (Hg.): Kinderkultur(en). Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116468.html