In der vorliegenden Studie greift der Autor einen klassischen pädagogischen Topos auf und beleuchtet ihn neu mit den Mitteln sozialwissenschaftlicher Empirie. Ausgangspunkt der Dissertation ist die pädagogische Grundfrage, wie es möglich sein kann, dass in pädagogischen Situationen zugleich auf Lernende eingewirkt wird und diese dennoch selbsttätig lernen. Der Autor spricht in Anlehnung an Benner vom Paradoxon der „Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit“ und fragt, wie die am Schulunterricht Beteiligten mit diesem Paradoxon umgehen. Als Ankerpunkt der videografischen Unterrichtsanalysen dient das Situationsmodell des „klassischen pädagogischen Moments“. In solchen Situationen wird der dargestellte pädagogische Grundwiderspruch zwar nicht dauerhaft aufgelöst, aber doch situativ überwunden. Um klassische pädagogische Momente und andere Modi des Umgangs mit Selbsttätigkeit und Fremdaufforderung im Unterricht empirisch beobachten zu können, orientiert sich der Autor an einem ethnomethodologischen Verständnis pädagogischer Situationen.
Im Durchgang durch die empirischen Analysen gelingt dem Autor eine Dekomposition des Modells klassischer pädagogischer Momente in zwei Elemente: fokussierte Aufmerksamkeit und disziplinierte Subjektivität. Diese beiden Momente pädagogischer Situationen stehen weder im zwingenden Widerspruch zueinander noch treten sie in jedem Fall zusammen auf. Unter Verwendung einer Kreuztabelle typisiert der Autor vor diesem Hintergrund neben klassischen pädagogischen Momenten drei weitere Modi pädagogischer Situationen. Während sich klassische pädagogische Momente durch eine Verknüpfung von hoher Aufmerksamkeitsfokussierung und hoher subjektiver Beteiligung auszeichnen, benennt der Autor Situationen mit niedriger Aufmerksamkeitsfokussierung und schwacher subjektiver Beteiligung als „Langeweile“, „Nebentätigkeiten“ und „away“. Situationen mit hoher Aufmerksamkeitsfokussierung, aber geringer subjektiver Beteiligung werden mit der Metapher der „Fassade“ umschrieben. Situationen mit hoher subjektiver Beteiligung und geringer Aufmerksamkeitsfokussierung schließlich werden als „autonomes Lernen“ gekennzeichnet.
Mit der vorliegenden Monographie hält der Leser nur einen Teil des von Michael Hecht verfassten Textes in der Hand. Der andere Teil ist online im Internet zugänglich. Dort sind alle untersuchten Situationen in Videoausschnitten dokumentiert; darüber hinaus sind auch ganze Teilstudien aus dem Druck- in den Hypertextteil ausgelagert. Der Drucktext beginnt mit der Diskussion bislang ausgearbeiteter Modelle zum pädagogischen Verhältnis von Fremdaufforderung und Selbsttätigkeit. Diese Modelle werden einander gegenübergestellt und es werden Lücken und Engführungen aufgezeigt: In einem ersten Kapitel werden Varianten der Thematisierung des pädagogischen Grundwiderspruchs „Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit“ in erziehungstheoretischer, bildungstheoretischer und didaktischer Perspektive erörtert. Im zweiten Kapitel werden klassische pädagogische Momente als Situationen der „Lösung“ dieses Grundwiderspruchs vorgestellt. In Auseinandersetzung mit Fallschilderungen pädagogischer Klassiker arbeitet der Autor wesentliche Prozessmerkmale dieses Modus pädagogischer Situationen heraus. Im dritten Kapitel werden Arbeitsbündnisse als eine weitere Form vorgestellt, die Vermittlung des Widerspruchs von Fremdaufforderung und Selbsttätigkeit zu denken. Der Stellenwert dieses professionstheoretischen Konzeptes für die Untersuchung bleibt allerdings ungeklärt, da es systematisch weder in den empirischen Analysen noch in der abschließenden Diskussion der Befunde wieder aufgegriffen wird. In einem vierten und fünften Kapitel werden die sozialtheoretischen Grundlagen eingeführt, die eine empirische Beobachtung des Zusammenhangs von Fremdaufforderung und Selbsttätigkeit im Unterricht ermöglichen. Kapitel vier setzt sich mit sozialtheoretischen Konzepten der Aushandlung von Situationen auseinander. Kapitel fünf fokussiert die Frage nach der methodischen Herstellung sozialer Realität durch die Beteiligten. Im Vergleich zu den übrigen Ausführungen recht knapp wird am Ende des fünften Kapitels die Anlage der empirischen Untersuchung und das methodische Vorgehen vorgestellt.
Unvermittelt findet sich der Leser dann im sechsten Kapitel in der ersten von insgesamt 8 Teilstudien wieder. Die 8 Teilstudien werden zwei thematischen Blöcken zugeordnet. Der erste Block behandelt Aspekte der „Herstellung von Aufmerksamkeit“ (Kapitel 6). An dieser Frage orientieren sich die Teilstudien zu Anfängen (nur online), zur zeitlichen Koordination („Takt“), zum Aufstehen (nur online), zu Blicken und zu Meldungen (nur online). Mit diesen Teilstudien bearbeitet der Autor schwerpunktmäßig das Thema der Fremdaufforderung. Der zweite Block behandelt Aspekte der „Selbsttätigkeit als disziplinierte Subjektivität“. Hier sind die Teilstudien zu Enden, Vorwegnahmen und strukturellen Gefährdungen der Unterrichtsordnung, zu Klassenräumen (nur online) und zu „(Un-)Tätigkeit“ zusammengefasst. In diesen Teilstudien bearbeitet der Autor schwerpunktmäßig das Thema der Selbsttätigkeit. Das im Durchgang durch die Empirie entstandene theoretische Modell des Verhältnisses von Fremdaufforderung und Selbsttätigkeit als Verschränkung von Aufmerksamkeitslenkung und disziplinierter Subjektivität bildet den Zusammenhang der dargestellten Teilstudien. Bedauerlicherweise wird dieses Modell erst im Anschluss an die Teilstudien im achten Kapitel ausgeführt, während es im knappen, die Teilstudien einleitenden Absatz und in den empirischen Analysen selbst nur vage erkennbar wird. Im letzten Kapitel werden darüber hinaus weiterführende pädagogische Überlegungen aus den empirischen Beobachtungen abgeleitet.
In den acht Teilstudien werden zahlreiche Aspekte der Organisation von Aufmerksamkeit und innerer Beteiligung im Unterricht erhellt. Jeder einzelne der ausgewählten Aspekte wird gründlich aufgefächert und vor dem Hintergrund des aktuellen internationalen Forschungsstandes diskutiert. Dabei wird eine kategorial-vergleichende Analysestrategie eingesetzt. Aufgrund der Aufgliederung der Beobachtungen in Teilstudien wird der Zusammenhang zwischen den einzelnen untersuchten Aspekten bedauerlicherweise empirisch nur schwach aufgezeigt. Er wird erst im Überblick über diese Studien und auf einer abstrakteren Ebene ausgearbeitet. Gut vorstellbar wäre daher zur weiteren Differenzierung und Verdichtung der vorgelegten Befunde eine Fortführung der Analysen mit stärker prozessrekonstruierenden und kontextualisierenden Verfahren. So könnte beispielsweise die Differenz zwischen Unterrichtssituationen im kanadischen und im deutschen Kontext für die Erkenntnisgewinnung genutzt und die Einbettung der analysierten Sequenzen in die insgesamt 100 aufgenommenen Unterrichtsstunden stärker berücksichtigt werden.
Die vorliegende Untersuchung erlaubt – gerade auch wegen ihrer aus einer normativ pädagogischen Theorietradition hergeleiteten Fragestellung – weitreichende Einblicke in die spezifische Struktur von Unterricht als Interaktionsordnung. Die zentrale Leistung der vorliegenden Studie besteht darin, dass die für pädagogische Situationen so zentralen Aspekte der Fremdaufforderung und der Selbsttätigkeit als vor Ort durch die Beteiligten erzeugte Phänomene empirisiert werden: Selbsttätigkeit wird als demonstrierte disziplinierte Subjektivität, Fremdaufforderung als Herstellung gezeigter Aufmerksamkeit rekonstruiert. Damit wird es möglich, die realisierten Aufmerksamkeits- und Beteiligungsdemonstrationen als Resultanten der Unterrichtssituation zu verstehen, die je nach ihrer Ausgestaltung ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Selbsttätigkeit und der Aufmerksamkeitsfokussierung eröffnet oder verstellt.
An einem Punkt hat allerdings die pädagogisch fokussierte Perspektive Hechts eine Engführung zur Folge: Selbsttätigkeit der Lernenden kommt nur insofern in den Blick, als dass sie entweder in der pädagogisch strukturierten Unterrichtsordnung aufgeht, sich ihr partiell entzieht oder sich ihr widersetzt. Damit wird sie lediglich als Antwort auf die pädagogische Erwartung einer aufnehmenden Zuwendung zum Lerngegenstand zugänglich. Wie sich Selbsttätigkeit allerdings vor dem Hintergrund der je eigenen Tätigkeitslogik der Lernenden darstellt, wie sie sich also jenseits pädagogischer Zielvorstellungen konstituiert, bleibt in dieser Untersuchung unbeobachtet.
Die Studie „Selbsttätigkeit im Unterricht“ ist eine Fundgrube für Studierende und Forschende, die sich mit pädagogischen Interaktionen beschäftigen. Im Zuge einer sozialtheoretisch geleiteten empirischen Exploration der Phänomene Aufmerksamkeit und Selbsttätigkeit werden zahlreiche Einzelaspekte des Unterrichtsgeschehens anhand von Videobeispielen differenziert veranschaulicht. Dabei werden die Leser auch mit einer Vielzahl selten rezipierter englischsprachiger Studien vertraut gemacht.
Mit der vorgelegten Untersuchung schlägt Hecht einen Weg der Vermittlung pädagogischer und sozialwissenschaftlicher Perspektiven auf Erziehung und Unterricht in Auseinandersetzung mit empirischen Beobachtungen vor. Sie trägt damit nicht unwesentlich zur Klärung der Frage nach der Empirisierbarkeit klassischer pädagogischer Denkmuster bei.
EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)
Selbsttätigkeit im Unterricht
Empirische Untersuchungen in Deutschland und Kanada zur Paradoxie pädagogischen Handelns
Wiesbaden: VS Verlag 2008
(393 S.; ISBN 978-3-531-16384-0; 34,90 EUR)
Jörg Dinkelaker (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Dinkelaker: Rezension von: Hecht, Michael: Selbsttätigkeit im Unterricht, Empirische Untersuchungen in Deutschland und Kanada zur Paradoxie pädagogischen Handelns. Wiesbaden: VS Verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116384.html
Jörg Dinkelaker: Rezension von: Hecht, Michael: Selbsttätigkeit im Unterricht, Empirische Untersuchungen in Deutschland und Kanada zur Paradoxie pädagogischen Handelns. Wiesbaden: VS Verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116384.html