Die Rede von der „Neuen Steuerung“ ist inzwischen nicht mehr so neu, wie der programmatische Oberbegriff für die überwiegend aus dem Wirtschaftsbereich importierten Steuerungsinstrumente durch die (Bildungs-)Verwaltung es zunächst vorgibt: Spätestens seit den 2000er Jahren werden Elemente der Neuen Steuerung auch im Schulsystem praktiziert – und vielfältig debattiert. Das Modell der Neuen Steuerung ist inzwischen ebenso in der bildungspolitischen Praxis fest verankert wie dessen Wirkung zu einem Gegenstand der Bildungsforschung geworden ist.
Das von Herbert Altrichter und Katharina Maag Merki herausgegebene „Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem“ dokumentiert diese „Ankunft“ des Modells Neuer Steuerung als Forschungsthema. Als Handbuch verspricht es auch, einen systematischen Überblick über die zumeist noch lose verstreut behandelten Teilaspekte Neuer Steuerung sowie deren empirischer Untersuchung anzubieten. Welche Teilaspekte das sind, wie sie aufeinander bezogen sind und welche Wirkungen und Nebenwirkungen sie jeweils entfalten, wie diese untersucht und wiederum in theoriegenerierende weitere Forschungsfragen oder auch politische Interventionen übersetzt werden können, erfahren die Leserinnen und Leser des knapp 470 Seiten starken Handbuchs in den 16 Beiträgen von insgesamt 21 Autorinnen und Autoren.
Die Verfasserinnen und Verfasser der Aufsätze sind überwiegend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich seit geraumer Zeit mit so unterschiedlichen Schwerpunkten wie z.B. Bildungsregionen, Lehrerfortbildung, Schulinspektionen, Personalauswahl, Bildungsmonitoring oder Schulprogrammentwicklung im Feld der Schulforschung bewegen. Das Handbuch steht somit vor der Herausforderung, diese unterschiedlichen Teilaspekte Neuer Steuerung umfassend und hinsichtlich einer theoretisch gehaltvollen wie empirisch soliden Unterfütterung des Modells Neuer Steuerung systematisch zusammenzuführen.
Herbert Altrichter und Katharina Maag Merki eröffnen das Handbuch mit einem Beitrag zur Steuerung und Entwicklung des Schulwesens, in dem sie sich vom tragenden Begriff „Steuerung“ im Titel des Handbuchs der Governance-Perspektive zuwenden. Diese ist durch eine Forschungshaltung gekennzeichnet, die systematisch davon ausgeht, dass z.B. Entscheidungen nicht von Einzelnen Akteuren unidirektional durchgesetzt werden, sondern vielmehr in Konstellationen von Akteuren aus verschiedenen Ebenen des Schulsystems ausgehandelt werden und neben intendierten Effekten viele nicht-intendierte Nebenwirkungen dieses Steuerungshandelns in Kauf genommen werden müssen.
Den Grundlagen der Governance-Perspektive widmen Altrichter und Maag Merki zehn Thesen, in denen sie die theoretische Pluralität der Wurzeln des Konzepts, die zu untersuchenden Gegenstände und deren Manifestationen sowie den empirischen Anspruch von Governance-Analysen zum Ausdruck bringen. Vor diesem Hintergrund legen die Herausgeber in ihrem einleitenden Kapitel den Anspruch dar, den jeder Beitrag für das Handbuch leisten soll: Die Ergebnisse der hier berichteten empirischen Untersuchungen sollen eine Definition des jeweiligen Steuerungselements sowie eine theoretische Erörterung der daran geknüpften normativen Steuerungsintentionen beinhalten, auf den internationalen Forschungsstand Rücksicht nehmen und auf dieser Basis schließlich Konsequenzen für Bildungsforschung, -politik und Schul- und Verwaltungspraxis formulieren (38ff).
Die ersten beiden Beiträge richten sich auf Regulierungsmöglichkeiten sowie die Frage der Intentionen, die ihrer Nutzung zugrunde liegen.
Isabell van Ackeren und Stefan Brauckmann zeigen in einer international vergleichenden Perspektive, dass spezifische Kombinationen der Steuerungsinstrumente „Autonomie“ und „Rechenschaftslegung“, zusammen mit unterschiedlich weit reichenden politischen Regulierungsmöglichkeiten, zu Variationen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Schulsysteme führen.
Weniger um die Ausschöpfung von Regulierungsmöglichkeiten, sondern um die quasi davor angesiedelten Steuerungsvorstellungen in Bildungspolitik und -verwaltung geht es in dem auf Ergebnissen des 2007 abgeschlossenen Projekts MiSteL basierenden Beitrag von Kathrin Dedering. Systematisch spiegelt sie die Ergebnisse dieses Projekts an internationalen Forschungsbefunden und zieht das Fazit, dass künftige Forschung sich v.a. anwendungsorientiert auf die Nutzung von Evidenz bei Prozessen der Entscheidungsfindung in Akteurskonstellationen und deren Auswirkungen beziehen solle.
Einen ganz anderen Teilaspekt Neuer Steuerung thematisieren Yvonne Brückner und Mareike Tarazona: Ausgehend von der These, dass traditionelle bürokratische Strukturen Innovationen hemmen, diskutieren sie finanzierungsbezogene Zielvereinbarungen als erfolgsträchtiges Instrument Neuer Steuerung. Dass diese Instrumente bislang nicht weiter verbreitet sind, führen sie auf Widerstände gegen das Instrument Zielvereinbarung auf Seiten der Lehrenden sowie nicht zuletzt dessen mangelnde bildungspolitische „Durchsetzung“ zurück.
Herbert Altrichter und Matthias Rürup wiederum richten ihr Augenmerk auf die Frage, welche Folgen das Konzept Schulautonomie hat. Umfangreich referierte sekundäranalytische Studien zeigen, dass Autonomie offenbar v.a. zusammen mit Rechenschaftslegung zu besseren Lernergebnissen führt. In einem zweiten Schwerpunkt des Beitrags entfalten sie vor dem Hintergrund eigener Forschung Thesen zur Wirkung von Schulautonomie auf die Schulprofilbildung. Künftige Forschung solle sich vor diesem Hintergrund z.B. auf die Effekte von Wettbewerb zwischen Schulen, auf die Selektivität profilierter Schulen oder die innerschulische Steuerung richten.
Es folgen vier Beiträge, die sich mit datenbasierten Steuerungsinstrumenten auseinandersetzen. Katharina Maag Merki entwickelt am Beispiel ihrer theoretischen und empirischen Analysen im Zusammenhang mit Bildungsstandards, Lernstandserhebungen und zentralen Abschlussprüfungen ein ausführlich dargestelltes theoretisches Modell der Wirkungen dieser Instrumente Neuer Steuerung, in das sie systematisch internationale Befunde einordnet und vor dessen Hintergrund sie umfangreiche Folgerungen sowohl für Bildungsforschung und -politik ableitet.
Um das Steuerungsinstrument „Schulprogramme“ geht es auch im Beitrag von Martin Heinrich und Jürgen Kussau. Die Befunde der unübersichtlichen Forschungslage zur Schulprogrammarbeit siedeln sie im Spannungsfeld zwischen schulischer Selbstregelung und externer Steuerung an. Dass die Wirkung von Schulprogrammen auf die Schul- und Unterrichtsqualität noch nicht hinreichend exakt empirisch untermauert werden kann, stellt für sie gegenüber ihrer Beobachtung, dass hierarchisch koordinierte Schulprogramme aufgrund der mit ihnen verbundenen Evaluationen die mikropolitische Autonomie der Schulen beschneide, das kleinere Problem dar.
Schulinterne Evaluationen sind auch der Gegenstand des Beitrags von Nils Berkemeyer und Sabine Müller. Vor dem Hintergrund eines Angebot-Nutzen-Modells der Governance schulinterner Evaluation plädieren sie dafür, dass wirkungsorientierte Forschungen im Zusammenhang mit der Nutzung von Evaluationsergebnissen zukünftig nach schulintern verhaltensändernden Wirkungen von Evaluationsergebnissen sowie nach den Kompetenzen der Nutzer von Evaluationsergebnissen fragen.
Hier setzt der Beitrag von Herbert Altrichter an, der Effekte von Datenrückmeldung auf Schul- und Unterrichtsentwicklung erörtert. Hinsichtlich der Wirkungen des Instruments Datenrückmeldung plädiert er für verminderte Wirkungshoffnungen bei gleichzeitig intensiveren Bemühungen, Lehrerinnen und Lehrer bei der Nutzung von Rückmeldeergebnissen zu unterstützen. Zur Seite der Bildungsforschung hin spricht er sich für Interventionsstudien sowie mehrebenenanalytische, längsschnittliche Designs aus, in denen untersucht wird, wie die unterschiedlichen innerschulischen Akteursgruppen Feedback verarbeiten.
Es folgt eine Reihe von Texten, die sich auf einzelne Akteure bzw. Akteursgruppen schulischer Governance richten. Um die Auswahl und Qualifizierung von Lehrpersonen als Instrumente Neuer Steuerung dreht sich Ewald Terharts Aufsatz. Lehrerinnen und Lehrer werden hier als „zentraler Faktor“ (255) für die Qualität von Schulen betrachtet, deren Erstausbildung, Weiterbildung und auch Beurteilung verstärkt zum Gegenstand von Bildungspolitik und -forschung gemacht werden sollte.
Schulleitungen als Personen, die in mehrfacher Hinsicht als Schnittstellenakteure fungieren, stehen im Zentrum des Aufsatzes von Martin Bonsen. Ihm geht es darum, vor dem Hintergrund der Governanceperspektive veränderte Sichtweisen auf und Anforderungen an Schulleitungshandeln darzustellen. Nicht nur sind Schulleitungen Träger dezentralisierter Verantwortung, sie sind auch Projektionsflächen für Wirkungshoffnungen in Bezug auf Effektivität von Schulen. Bonsen zeigt auf, dass es einer schulbezogenen empirischen Führungsstilforschung bedarf, um normative Erwartungen in Bezug auf die Effektivität von Führungshandeln mit empirischer Evidenz flankieren zu können.
Hans-Georg Kotthoff und Wolfgang Böttcher fragen nach den Wirkungshoffnungen und tatsächlichen Wirkungen des Steuerungsinstruments „Schulinspektion“. Im internationalen Vergleich zeigen sie, dass Kombinationen der Feedback-, Unterstützungs-, Qualitätssicherungs- oder Erkenntnisfunktion von Schulinspektion dazu führen, dass sie als Mittel für die Initiierung von Wettbewerb, um Druck auf Schulen auszuüben oder um Einsicht in die Notwendigkeit von Entwicklung zu erzeugen, kommuniziert (und akzeptiert) werden. Sie werfen aber auch die Frage auf, inwiefern bzw. welche Funktionen von Schulinspektion die Autonomisierung von Schule unterstützen – oder beeinträchtigen, und ob sie sich in Bezug auf den mit ihr verbundenen Aufwand sowie in Bezug auf Schülerleistungen lohnt (325).
Die Qualifizierung von Schulpersonal ist auch Gegenstand des Beitrags von Katrin Fussangel, Matthias Rürup und Cornelia Gräsel. Sie referieren internationale Befunde der Wirksamkeit unterschiedlicher formaler und non-formaler Fortbildungstypen, wobei sich herausstellt, dass insbesondere längerfristige, kollektive, im Ansatz des situierten Lernens begründete Fortbildungsformen in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen haben. Am Beispiel von Ergebnissen ihres Projekts „Chemie im Kontext“ zeigen sie den positiven Einfluss klarer fachlicher und fachdidaktischer Fortbildungsinhalte auf Veränderungen des Unterrichts sowie einer Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern auf die Lernzuwächse ihrer Schülerinnen und Schülern.
Nachdem die Gruppe der vorigen Beiträge auf einzelne Akteure bzw. Akteursgruppen in Schulen konzentriert war, richtet der Beitrag von Marcus Emmerich sein Augenmerk auf die Regionalisierung von Schulentwicklung. Hier geht es angesichts sich zunehmend herausbildender „Räume begrenzter Staatlichkeit“ um die governanceanalytische Betrachtung, von welchen Akteuren und wie die in diesem Zuge neu entstehenden Gestaltungsräume genutzt werden. Es zeichne sich ab, dass Regionalisierung eine Ausdifferenzierung von Steuerungshierarchien hervorrufe und zu befürchten sei, dass Regionalisierung zur Etablierung einer herkunftsbedingten, auch auf Regionen bezogenen Ungleichheit führe.
Bedingungen von Bildung sind auch Thema in Bildungsberichten; um dieses Instrument und dessen Wirksamkeit geht es im Beitrag von Matthias Rürup, Hans-Werner Fuchs und Horst Weishaupt. Da bislang keine Modelle vorliegen, mit denen die Nutzung der Evidenzform „Bildungsbericht“ untersucht werden kann, plädieren sie für die künftige Durchführung theoretisch fundierter empirischer Verwendungsstudien, zeigen sich aber hinsichtlich des Potentials von Bildungsberichten, Entscheidungen zu beeinflussen oder „die öffentliche Diskussion bestimmter Themen zu forcieren“ (401), skeptisch.
Im abschließenden Beitrag stellen sich Katharina Maag Merki und Herbert Altrichter der Herausforderung, auf der Basis der – wie immer in Sammelbänden – inhaltlichen und auch qualitativ heterogenen Beiträge eine Zwischenbilanz für die empirische Untersuchung schulischer Governance im Mehrebenensystem zu ziehen. Eine bei der Lektüre des Bandes aufkommende kritische Anmerkung greifen die Verfasser gewissermaßen gleich selbst auf: Sie plädieren dafür, die vorhandenen Ansätze sowohl stärker theoretisch auszubauen als auch inhaltlich stärker aufeinander zu beziehen. Denn das Konzept der Educational Governance wird von den Herausgebern zwar mit dem Hinweis auf Theoriepluralität eingeführt; einige Beiträge lassen jedoch die Explikation der jeweils gewählten theoretischen Fundamente vermissen. Nur vereinzelt wird in den Beiträgen ein kritischer Blick auf Educational Governance geworfen bzw. Probleme schulischer Governance angesprochen; geschieht dies aber, werden z.B. Fragen der Macht, der Asymmetrie von Akteuren oder des Umgangs mit Ungleichheit thematisiert. Die theoretische und empirische Bearbeitung dieser Fragen ist durchaus anschlussfähig an einen bislang aus der Educational Governance-Perspektive wenig berücksichtigten, inhaltlich aber verwandten Forschungszweig – der Diskurstheorie und -analyse. Auch dort geht es um Fragen der Wirkmechanismen, die zur Entstehung von Macht führen, in deren „Fahrwasser“ sich Steuerungsinstrumente durchsetzen und ihre Wirkung entfalten können.
Alles in allem erfüllt das Werk die wesentliche, an Handbücher gerichtete Erwartung – auf der Basis forschungsbezogener, internationale Studien reflektierender Beiträge einen aktuellen und umfassenden Überblick über verschiedene Instrumente Neuer Steuerung anzubieten und zudem auf Forschungslücken und -desiderate hinzuweisen. Das Konzept des Handbuchs selbst allerdings macht dem Leser oder der Leserin einen systematischen Zugang zu dem sich neu entwickelnden Forschungszweig der Educational Governance nicht ganz leicht. Zwar sind die einzelnen Beiträge auf zumeist sehr gelungene Weise in einer anspruchsvollen, von Altrichter und Maag Merki vorgegebenen Struktur „durchkomponiert“ – die Anordnung der Beiträge im Handbuch selbst allerdings erschließt sich nicht sofort: Sind sie anhand der Kategorien „Akteure“, nach „Ebenen“ oder „Instrumenten“ geordnet? Dieser Einwand ist gleichwohl auf das Konzept Educational Governance selbst zurückzuführen und kann daher weder den Herausgebern noch den Autor/innen zugeschrieben werden: Im Konzept der Educational Governance wird von Interdependenzen ausgegangen, die kaum linear vorgeführt werden können, und die oftmals kleinteilig untersucht werden, so dass nahezu zwangsläufig ein fragmentarisiertes Bild des Forschungsfelds entsteht. Dies zu überwinden mahnen die Herausgeber selbst an – und liefern mit dem Handbuch eine Grundlage dafür. Denn nicht nur die programmatisch formulierten Thesen, die Altrichter und Maag Merki abschließend für künftige Forschung formulieren, auch die hier versammelten Beiträge können allein aufgrund ihrer weitgehend einheitlichen Struktur für eine systematische Gesamtschau auf die Wirkungen unterschiedlicher Steuerungsinstrumente genutzt werden.
EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)
Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem
(Educational Governance, Bd. 7)
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010
(468 S.; ISBN 978-3-5311-6312-3; 39,95 EUR)
Inka Bormann (Marburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Inka Bormann: Rezension von: Altrichter, Herbert / Merki, Katharina Maag (Hg.): Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem, (Educational Governance, Bd. 7). Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116312.html
Inka Bormann: Rezension von: Altrichter, Herbert / Merki, Katharina Maag (Hg.): Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem, (Educational Governance, Bd. 7). Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116312.html