EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)

Rolf Becker (Hrsg.)
Integration durch Bildung
Bildungserwerb von jungen Migranten in Deutschland
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011
(292 S.; ISBN 978-3-531-15568-5; 29,95 EUR)
Integration durch Bildung Die gesellschaftliche Sozialintegration von Migrant/innen über die erfolgreiche Partizipation im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt ist, wie Rolf Becker bereits zu Beginn des von ihm herausgegeben Sammelbandes herausstellt, eine der bedeutsamen Herausforderungen der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Spätestens seit dem PISA-Schock und in Anbetracht der in diesem Zuge festgestellten, substantiellen Bildungsdisparitäten zuungunsten von Migrant/innen, wird dieser Themenkomplex in der sozialwissenschaftlichen Forschung breit behandelt. In den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes werden viele der dabei verfolgten Diskurslinien aufgegriffen. Dadurch entsteht zum einen ein Überblickswerk, das breit in die Thematik einführt, das zum anderen aber auch eine Reihe neuer Studienergebnisse enthält und so die Diskurse weiter vorantreibt.

Neben der dichten und sehr informativen Einleitung von Rolf Becker, die insbesondere weniger kundigen Leser/innen einen gelungenen Einstieg in den gewählten Themenkomplex ermöglicht, ist der Sammelband in zwei unterschiedlich umfangreiche Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt finden sich insgesamt sieben Beiträge, die sich mit dem Teilaspekt Migrant/innen im Schulsystem auseinandersetzen. Der zweite, mit drei Beiträgen wesentlich kürzere Abschnitt, richtet seinen Fokus auf Migrant/innen im Ausbildungs- und Erwerbssystem.

Den ersten Abschnitt eröffnet ein Beitrag von Alexander Tarvenkorn. In diesem zeigt er auf, wie eng die Migrationspolitik der Bundesrepublik und die Bildungsbeteiligung der Migrant/innen in Deutschland miteinander verbunden sind. An amtlichen Statistiken aus den letzten 50 Jahren zeichnet er nach, dass sich migrationspolitische Entscheidungen auch in der Bildungsbeteiligung der Migrant/innen im Schul-, Hochschul- und Ausbildungssystem widerspiegeln.

Die positiven Auswirkungen vorschulischer Betreuung auf die spätere Bildungslaufbahn von Migrant/innen hat Rolf Becker bereits vor mehreren Jahren als einer der ersten Forscher im deutschsprachigen Raum empirisch belegt. Anknüpfend an die damaligen Untersuchungen bestätigt er diesen Befund nun zusammen mit Patricia Tremel an Längsschnittdaten des Sozio-ökonomischen Panels. Es zeigt sich, dass sich die Benachteiligung von Migrantenkindern hinsichtlich der Bildungsbeteiligung durch den Besuch vorschulischer Betreuung zwar verringert, eine vollständige Kompensation der Rückstände jedoch nicht gelingt.

Bernhard Nauck setzt sich in seinem Beitrag auf konzeptueller Ebene mit der Frage auseinander, wie eine theoretisch sinnvolle Erweiterung der Konzepte Sozialkapital und kulturelles Kapital zur Erklärung von Bildungskarrieren und Bildungserfolg bei Migrant/innen aussehen könnte. Als Antwort auf diese Frage schlägt er ein Modell vor, das zwar auf dem Kapitalsortenansatz Bourdieus fußt, dessen Mängel Nauck allerdings durch die Berücksichtigung der handlungstheoretischen Überlegungen Lins und der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen aufzuarbeiten versucht. Das daraus resultierende Modell wirkt konzeptuell vielversprechend, bedarf allerdings im nächsten Schritt einer entsprechenden empirischen Anwendung und Überprüfung.

Auch Hartmut Ditton und Juliane Aulinger setzen sich mit Erklärungsansätzen der Bildungsungleichheiten zuungunsten von Migrant/innen auseinander. Anhand von Ergebnissen aus verschiedenen Studien diskutieren sie, inwieweit die gängigen Erklärungsansätze inhaltlich überzeugend und ausreichend differenziert sind. Sie kommen zu dem Schluss, dass viele Erklärungen zu stark vereinfachen und so der aktuellen Befundlage nicht gerecht werden. Dies gilt insbesondere für Erklärungsansätze, die von institutionellen Diskriminierungseffekten im deutschen Schulsystem ausgehen, und für Ansätze, die eine durchgängige kompensierende Wirkung von Frühförderung und Ganztagesbetreuung annehmen.

Die sicherlich am häufigsten genannte Fördermaßnahme zum Abbau von migrationsbezogenen Bildungsungleichheiten ist die Sprachförderung. Bislang liegen jedoch nur wenige Befunde vor, anhand derer beurteilt werden kann, wie wirksam entsprechende Maßnahmen sind. Der Beitrag von Rolf Becker und Michael Beck versucht diese Forschungslücke weiter zu schließen. Mit Daten aus der Berliner Längsschnittstudie ELEMENT gehen sie der Frage nach, wie sich vorschulische und schulische Sprachförderung auf die Deutschnoten und die Übertrittsempfehlungen von Schüler/innen mit Migrationshintergrund am Ende der Grundschulzeit auswirken. Die Ergebnisse zeigen, dass die frühzeitige Sprachförderung im vorschulischen Bereich langfristige positive Auswirkungen auf die Schulleistungen hat. Die untersuchten kompensatorischen Maßnahmen, die während der Schulzeit unternommen werden, erweisen sich hingegen als ineffektiv.

Heike Diefenbach nimmt eine geschlechtsspezifische Betrachtung des schulischen Erfolgs von Migrant/innen vor. Ziel ihrer Analysen an amtlichen Statistiken und Daten des Sozio-ökonomischen Panels ist es, Interaktionseffekte von Geschlecht und Migrationshintergrund auf die Schulabschlüsse am Ende der Sekundarstufe aufzudecken. Die Ergebnisse stützen nicht das verbreitete Bild vom „Armensohn mit Migrationshintergrund“, sondern belegen, dass ausländische Schüler/innen beider Geschlechter vergleichsweise schlechtere Schulabschlüsse erreichen, wobei der negative Trend bei den Mädchen/Frauen etwas stärker ausfällt.

Der erste Teil des Sammelbandes schließt mit einem Beitrag von Rolf Becker und Frank Schubert, in dem die Rolle von primären und sekundären Herkunftseffekten für die Bildungschancen von Migrant/innen am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe genauer beleuchtet wird. Die auf der Grundlage der IGLU-E 2001 Daten und Daten des Sozio-ökonomischen Panels durchgeführten Analysen zeigen, dass sowohl primäre als auch sekundäre Herkunftseffekte zu den nachteiligen Bildungschancen von Migrant/innen führen. Um diese abzuschwächen, erweise sich allerdings die Verringerung der primären Herkunftseffekte um ein Vielfaches wirksamer als die der sekundären Herkunftseffekte.

Holger Seibert betrachtet zu Beginn des zweiten Teils des Sammelbandes die Arbeitsmarktchancen von Migrant/innen. Er untersucht, inwieweit bestehende Benachteiligungen am Arbeitsmarkt auf Rechtsstatuseffekte, also auf Effekte einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit, und auf ethnische Zuschreibungseffekte, die nicht nur Ausländer/innen sondern gesamte ethnische Gruppen betreffen, zurückzuführen sind. In den Ergebnissen zeigen sich für die Mehrheit der untersuchten ethnischen Gruppen ungleiche Arbeitsmarktchancen gegenüber den Personen ohne Migrationshintergrund. Das Vorliegen einer deutschen Staatsangehörigkeit schwächt diese Ungleichheiten bei den meisten Gruppen ab, teilweise hebt sie sie sogar vollständig auf.

Auch Melanie Kramer und Wolfgang Lauterbach nehmen die Arbeitsmarktchancen von Migrant/innen in den Blick. An Daten des Sozio-ökonomischen Panels gehen sie der Frage nach, inwieweit sich türkische Migranten hinsichtlich ihrer (segmentiellen) Arbeitsmarktmobilität von deutschen Männern unterscheiden. Sie stellen dabei fest, dass türkische Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor ungünstiger positioniert und einem deutlich höheren Arbeitslosigkeitsrisiko ausgesetzt sind. Trotz grundsätzlich hoher Mobilität am Arbeitsmarkt gelingt es den türkischen Arbeitnehmern wesentlich seltener von dem unqualifizierten in den qualifizierten und damit besser gestellten Arbeitsmarktbereich zu wechseln.

Der abschließende Beitrag von Frank Kalter, Nadia Granato und Cornelia Kristen ist bereits zuvor in englischer Fassung erschienen und wurde für den Sammelband ins Deutsche übersetzt. Im Fokus des Beitrags stehen die zweite Migrantengeneration und deren Positionierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. In längsschnittlichen Analysen der Mikrozensusdaten von 1989 bis 2004 zeigen sich diesbezüglich deutliche Assimilationstendenzen. Die Migrant/innen zweiter Generation nähern sich auf dem Arbeitsmarkt im zeitlichen Verlauf der Vergleichsgruppe an. Als Gründe für diese Annäherung werden die Abschwächung direkter Migrationseffekte, eine Abnahme des Einflusses der Bildungsqualifikation auf den Beruf und der sozialen Herkunft auf das Bildungsniveau genannt. Gleichzeitig wird allerdings betont, dass sich der Assimilationsprozess nur relativ langsam vollzieht.

Der von Rolf Becker zusammengestellte Sammelband fügt sich mit sehr anregenden Forschungsergebnissen und weiterreichenden theoretischen Überlegungen in die Diskussionen um die ungleiche Integration von Migrant/innen in das Bildungssystem und in den Arbeitsmarkt ein. Die meisten Beiträge knüpfen an breite Diskurslinien an und bestätigen sowie differenzieren in ihren Analysen vorwiegend den Forschungsstand. Der Sammelband erhält dadurch einerseits den Charakter eines Überblickswerkes, das auch zur Einarbeitung in den Themenkomplex genutzt werden kann. Andererseits finden sich auch einzelne Beiträge, wie beispielsweise die Beiträge von Heike Diefenbach sowie von Rolf Becker und Michael Beck, die sich mit weniger erforschten Teilaspekten auseinandersetzen und so den Leser/innen neue Einblicke in das Thema Integration und Bildung eröffnen.
Volker Mehringer (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Volker Mehringer: Rezension von: Becker, Rolf (Hg.): Integration durch Bildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115568.html