Der soziologische Befund, Wissen würde zunehmend unsere (globalen) wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse strukturieren, hat in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens große Resonanz erfahren. Wissensgenerierung und -tradierung bzw. die dafür zuständigen Institutionen sind damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. So überrascht es wenig, dass von öffentlicher Seite mit dem Konzept der Wissensgesellschaft Erwartungen und Ansprüche an die pädagogischen Institutionen und Professionen herangetragen werden (Stichwort: Lebenslanges Lernen, PISA usw.), sind sie doch traditionell mit der Aufgabe der Wissensvermittlung assoziiert. Nun ist eben jenes traditionelle Verständnis der pädagogischen Aufgabe(n) durch die gesellschaftlichen Transformationsprozesse und ihre Auswirkungen auf das Verständnis von Wissen in Frage gestellt. Der vorliegende Sammelband ‚Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft’ greift diese Debatte auf und versucht erziehungswissenschaftliche Argumente und Standpunkte „im Spannungsfeld zwischen unumgänglichen Adaptionserfordernissen und kritischer Distanz“ (9) angesichts gesellschaftlicher Erwartungen auszuloten.
Der im Titel des Buches angezeigte Fokus auf Bildung wird von den Herausgebern in ihrer Einführung bekräftigt: Ausgangspunkt für die in diesem Sammelband dokumentierte Vortragsreihe an der Universität Osnabrück waren eine Reihe von Fragen nach den „normativen Implikationen und praktischen Folgen“ der mit der Zeitdiagnose „Wissensgesellschaft“ angesprochenen gesellschaftlichen Transformationen für das „Bildungsprojekt der modernen (und sich fortlaufend modernisierenden) Gesellschaft“ (10). Zugleich weisen die beiden Herausgeber darauf hin, dass die Beiträge „teils sehr unterschiedliche Aspekte der Thematik aufgreifen“ (15) – ein Eindruck, der sich mit der Lektüre bestätigt.
Jörg Ruhloff eröffnet das erste Kapitel ‚Unzeitgemäße Betrachtungen’ (I) mit der Frage, ob bzw. inwiefern die im Konzept der Wissensgesellschaft behauptete Aufwertung des Wissens, nicht eher zu einem ‚Schwund des Wissens’ beiträgt. Die in Rede stehende soziologische Zeitdiagnose betone die zunehmende Bedeutung des Wissens als Produktivkraft, die auf eine Radikalisierung neuzeitlicher Vorstellungen der Naturbeherrschung verweise (vgl. 23). Damit würde die moderne Auffassung von Bildung hinsichtlich ihrer ihr zugehörigen „Zeitgestalt der Allmählichkeit“ (25) zur „Effizienzzeit des Lernens“ (28) umgedeutet. An die Zeitgestalt der Bildung anschließend problematisiert Andreas Dörpinghaus in seinem Beitrag „die Selbstverständlichkeit des Zusammenhangs von Bildung und Zukunftsgewandtheit“ (35) in der Wissensgesellschaft. Dörpinghaus skizziert die widersprüchlichen Auswirkungen auf die Gestaltung der Lebenszeit des Menschen, die mit der „Erfindung der Zukunft“ (36) in der Moderne einhergehen. Als wesentliche Konsequenzen nennt er die „Beschleunigung der Bewegungen und Praktiken in der Zeit“ (39) und eine damit verbundene permanente „Erwartung von Neuem“ (41), die gleichzeitig zur raschen Veralterung von Innovationen führe. Da Zeitgestaltung und Bildungserfahrungen eng miteinander verknüpft seien, habe ein solch beschleunigtes Lebenszeitkonzept eine Ausrichtung des Bildungsgedankens auf Steuerbarkeit und Nutzen zur Folge. Bildung – so sein Resümee – bedarf aber gerade „der Verzögerung als Ermöglichung von Erfahrungen“ (43). So sei Bildung weniger auf die Zukunft, als vielmehr auf die Gestaltung der eigenen Vergangenheit gerichtet.
Während bei Andreas Dörpinghaus die Entstehung des Neuen insbesondere vor dem Hintergrund des Zeit- und Erwartungsdrucks der Wissensgesellschaft thematisiert wird, fokussiert Hans-Christoph Koller die Frage, inwiefern wissenschaftstheoretische Erklärungsansätze der Entstehung neuen Wissens zum Verständnis der „Genese des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen“ (49) beizutragen vermögen. Zwischen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozessen und Prozessen der Transformation von Welt- und Selbstentwürfen (Rainer Kokemohr) seien strukturelle Analogien gegeben, weshalb die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Innovationen als „heuristisches Modell zur Beschreibung der Verlaufsformen und Bedingungen von Bildungsprozessen“ (52) dienen kann. Koller diskutiert diese These zunächst entlang der Konzeptionen wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung von Popper, Pierce und Gadamer. Schließlich schlägt Koller mit dem Konzept der dekonstruktiven Lektüre Jacques Derridas einen differenztheoretischen Ansatz vor, um transformatorische Bildungsprozesse in einer Weise zu fassen, die vielleicht „eine neue Perspektive für ein angemessenes Verständnis von Bildung in der Wissensgesellschaft“ (65) eröffnet. Bemerkenswert erscheint, dass dies der einzige Text in diesem Sammelband ist, der die Frage der Bildung in der Wissensgesellschaft auf der Grundlage wissen(schaft)stheoretischer Überlegungen zu bearbeiten intendiert.
Das Kapitel ‚Differenz und Gerechtigkeit’ (II) wird von einem Beitrag Micha Brumliks eröffnet, der sich mit ‚Weltbürgerlicher Tugend im Zeitalter der Globalisierung’ beschäftigt und Überlegungen zur Menschenrechtsbildung skizziert. Manuela Westphal präsentiert im Anschluss Studien zu Migrationsbiographien, die die besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen von Menschen mit Migrationshintergrund herausstellen. Diese Fähigkeiten würden – im Unterschied zu defizitorientierten Befunden – als Schlüsselqualifikationen Eingang in pädagogische Konzepte finden. In der theoretischen Auseinandersetzung mit den Untersuchungsergebnissen arbeitet Westphal die Schwierigkeiten heraus, die sich aus einer „zuweilen idealistischen Überschätzung“ (94) von Migrationserfahrungen ergäben und plädiert für eine interkulturelle Bildung, die die „unausweichliche inhärente Fremdheit“ der Anderen ebenso anerkennt wie „reale soziale Macht- und Ungleichheitsverhältnisse“ (106). Hans-Uwe Otto fordert in seinem Beitrag die stärkere Einbindung außerschulischer Institutionen und Bildungsformen bzw. der Kinder- und Jugendhilfe in bildungspolitische Überlegungen und die (Um-)Gestaltung des Schulsystems.
Die Beiträge des zweiten Kapitels nehmen – wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise – zwar Bezug auf Differenz und Gerechtigkeit, indem sie Bildung im Kontext einer zunehmend globalisierten Welt der Migrationsbewegungen und sozialen Ungleichheiten skizzieren. Der Zusammenhang der Fragen und Ausführungen mit dem Thema des Sammelbandes ‚Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft’ ist jedoch bloß assoziativ herzustellen. Interessante Bezüge wären durchaus gegeben, wie auch die Herausgeber in ihrer Einleitung ausführen; leider werden sie kaum argumentativ eingeholt.
In ‚Brüche und Umbrüche des Wissens’ (III) erörtert Ewald Terhart zunächst Erfahrungen sowie organisatorische und lehrmethodische Aspekte im Zusammenhang mit der Implementierung modularisierter universitärer Lehrstrukturen. Dorle Klinka nimmt ihren Ausgangspunkt bei den Herausforderungen, die sich für die Biografieforschung im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen und damit einhergehender größerer Orientierungsunsicherheit ergeben. Am Beispiel von Lehramtsstudierenden benennt sie Schwierigkeiten und Erkenntnisräume der (auto-)biografischen Auseinandersetzung, die für Bildungsprozesse in der pädagogischen Ausbildung und für pädagogisches Handeln umfassender fruchtbar zu machen sein könnten. So ermöglichten (Lebens-)Krisen „die Initiierung von Bildungsprozessen“, die sich „von reiner Wissensvermittlung“ (165) unterscheiden. Während Dorle Klinka mit ihrem Beitrag eine bemerkenswerte Perspektive für die Konturierung von Bildung im Kontext gesellschaftlicher Transformationen eröffnet, überrascht ihre abschließende Gegenüberstellung von Bildung und ‚reiner Wissensvermittlung’ gerade auf der Grundlage (auto-)biographischen Datenmaterials.
Lothar Wigger widmet sich ebenfalls der Biografieforschung, indem er sich einem „Defizit der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung“ (171) zuwendet: Der Einordnung individueller (Bildungs-)Biografien in einen „größeren subjekt- und gesellschaftstheoretischen Kontext“ (171). Mit Pierre Bourdieus Habituskonzept ließen sich bildungstheoretische Interpretationen biografischer Erzählungen um diesen gesellschaftsanalytischen Aspekt erweitern, womit nicht nur die subjektive Begegnung mit den Herausforderungen des Lebens, sondern auch Fremdbestimmung und gesellschaftlicher Wandel in den Blick kommen könnten. Lothar Wigger unternimmt damit in diesem Band einen der wenigen Versuche bildungstheoretische Überlegungen mit einem gesellschaftstheoretischen Zugang zu konfrontieren, was im Hinblick auf die Analyse von Bildungschancen und -zumutungen im ‚Horizont’ einer soziologischen Zeitdiagnose weiterzuverfolgen wäre.
Auch Johannes Bilstein geht von einer die Gegenwart bestimmenden Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit aus. Unter Rückgriff auf eine historische Darstellung der Künstlerausbildung fragt Bilstein, inwiefern die Lehre der Kunst als ein „höchst interessante[r] Sonderfall für die Kunst der Lehre“ (194) vielleicht einen nützlichen Beitrag zu der schwierigen Frage leisten kann, wie junge Menschen auf das gegenwärtig so dominante „Ungenaue und Ungefähre“ (219) im Leben vorbereitet werden könnten.
‚Schulische Lernprozesse’ (IV) stehen im abschließenden Kapitel im Mittelpunkt der Überlegungen von Claudia Solzbacher und Ingrid Kunze. Die Entwicklung und Förderung von ‚Lernkompetenz’ sei – so konstatiert Solzbacher im Anschluss an Baumert und Weinert – aufgrund „ihrer hohen Bedeutung für die erfolgreiche Bewältigung der gesamtgesellschaftlichen und individuellen Herausforderungen der Wissensgesellschaft“ (219), ein zentrales schulisches Bildungsziel. Ihr Beitrag beschäftigt sich dementsprechend mit unterschiedlichen Dimensionen und Teilkompetenzen von „Lernkompetenz“ sowie mit Umsetzungsmöglichkeiten und „Gelingensbedingungen“ (230) derselben. Ingrid Kunze beschließt den Band mit einem Beitrag, der die jüngsten Standardisierungsbemühungen an den Schulen aus bildungsgangdidaktischer Perspektive problematisiert. Nachdem sie Möglichkeiten des „Unterrichts zwischen Individualisierung und Standardisierung“ (235) abwägt, kommt sie zu dem Schluss, dass es die „Prozessstandards bzw. Opportunity-to-learn-Standards“ (249) seien, die vom Standpunkt der Bildungsgangdidaktik aus fehlten.
Mit den letzten beiden Beiträgen werden bekannte, mit der ‚Wissensgesellschaft’ assoziierte Forderungen an die Schule (Lernen lernen, Bildungsstandards) aufgenommen und praxis- bzw. umsetzungsbezogen diskutiert und erweitert. Dass der Band – angesichts der eingangs von den Herausgebern aufgeworfenen Fragen nach einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive auf Bildung – mit Forderungen nach der Entwicklung von Lernkompetenz und Prozessstandards abschließt, ist ernüchternd. Gleichwohl dürfte so das Spektrum der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungsweisen mit dem Konzept der Wissensgesellschaft exemplarisch vorgestellt sein.
Wer sich von der Lektüre dieses Bandes eine differenzierte Auseinandersetzung mit Bildung und Wissensgesellschaft erwartet, wird viele unterschiedliche erziehungswissenschaftliche Ansätze zum Bildungsverständnis finden. Die Bezüge zur so genannten Wissensgesellschaft bleiben allerdings bis auf wenige Ausnahmen unspezifisch. Wissensgesellschaft dient vielmehr als Chiffre für Globalisierung, (Orientierungs-)Unsicherheit, Postmoderne und ganz allgemein gesellschaftlichen Wandel. So bietet der Band zwar keine ‚bildungstheoretische Zeitdiagnose’ über den Stand der Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft, LeserInnen und an der Thematik Interessierte erhalten eher ein Stimmungsbild, das verschiedene die aktuelle Bildungsdiskussion bestimmende Argumente aufgreift und insofern eine Reihe von Anregungen für weitere (kritische) Auseinandersetzung bereithält.
EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)
Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft
Wiesbaden: VS Verlag 2007
(256 S.; ISBN 978-3-531-15561-6; 29,90 EUR)
Christine Rabl (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christine Rabl: Rezension von: MĂĽller, Hans-RĂĽdiger / Stravoravdis, Wassilios (Hg.): Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaten 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115561.html
Christine Rabl: Rezension von: MĂĽller, Hans-RĂĽdiger / Stravoravdis, Wassilios (Hg.): Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaten 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115561.html