Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte und vom MZES unterstützte Projekt DLL ist multiperspektivisch ausgerichtet und kombiniert verschiedene Forschungsmethoden: GrundschülerInnen wurden mittels Tiefeninterviews und standardisierter Interviews befragt; mit Eltern und LehrerInnen wurden ExpertInneninterviews durchgeführt. Die Publikation „Kinder und Politik“ konzentriert sich überwiegend auf die Projektergebnisse der explorativ angelegten quantitativen SchülerInnenbefragung von N = 736 ErstklässlerInnen aus 17 Mannheimer Grundschulen, die in Stadtteilen mit unterschiedlichen sozioökonomischen Profilen liegen. Die GrundschülerInnen wurden zu Beginn und erneut am Ende des ersten Schuljahres standardisiert befragt (Paneldesign). Auch die 21 Tiefeninterviews mit sechs- bis achtjährigen Kindern, die als Pilotstudie für die quantitative Befragung dienten, fließen in die Publikation ein.
Drei Forschungsfragen und die dazugehörigen Ergebnisse bilden den roten Faden der Publikation:
- Über welche politischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Orientierungen verfügen Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung?
- Welche Veränderungen bezüglich der politischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Orientierungen zeigen sich nach einem Schuljahr?
- Welche Unterschiede zwischen Kindern unterschiedlicher Nationalität, unterschiedlichen Alters, zwischen Kindern aus Wohngebieten mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status und zwischen Mädchen und Jungen lassen sich nachweisen?
Das erste Kapitel „Einführung: Kinder als junge Staatsbürger“ (van Deth) führt in das Projekt DLL ein. Herausgearbeitet wird das Konzept der politischen Sozialisation von Kindern, das demokratietheoretisch ausbuchstabiert wird. Diese theoretische Grundlage wird in der Publikation immer wieder gegen eine – allerdings eher implizit verbleibende – entwicklungspsychologische Perspektive abgegrenzt.
Kapitel zwei „Welche Fragen zum richtigen Zeitpunkt? Entwicklung eines standardisierten Kinderfragebogens“ (Rathke) beschreibt detailliert den Weg der Konstruktion des standardisierten Kinderfragebogens auf Basis der Ergebnisse aus den vorangegangenen Tiefeninterviews. Der Ertrag der Tiefeninterviews liegt auf zwei Ebenen. Die drei Bereiche des Kinderfragebogens sind:
- gesellschaftliche Themen und Probleme (u. a. Fragen zur Bekanntheit bestimmter Themen wie Umweltverschmutzung, Hunger, Krieg, Arbeitslosigkeit);
- politisches Wissen (u. a. Fragen zum Wissen ĂĽber nationale Symbole, politische Institutionen, Demokratie und Europa) sowie
- demokratische Werte und Normen (u. a. Vorstellungen eines „guten Bürgers“, Fragen zur Akzeptanz sozialer Normen und Geschlechterrollenorientierungen).
Analog zu den drei inhaltlichen Bereichen des Kinderfragebogens sind auch die folgenden Ergebniskapitel des Buches aufgebaut, die den Kern der Publikation bilden: „Politische Themen und Probleme“ (van Deth), „Politisches Wissen bei Kindern – nicht einfach nur ja oder nein“ (Vollmar) und „Demokratische Werte und Normen“ (Abendschön). Aus den sehr differenziert referierten Einzelbefunden soll im Folgenden nur ein kleiner Teil herausgegriffen werden, der die Bedeutung der Befunde für die politische Sozialisationsforschung und für die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung deutlich macht.
Hinsichtlich der Bekanntheit gesellschaftlicher Themen und Probleme analysiert van Deth, dass v. a. die Bereiche Kopftuch-Tragen, Hunger und Krieg weit vorne rangieren, während Themen wie Terroranschläge, Arbeitslosigkeit und v.a. Umweltverschmutzung den Kindern weniger bekannt sind. Darüber hinaus gibt es Veränderungen über die Zeit: Zwischen den beiden Wellen gewinnt u.a. das Thema Arbeitslosigkeit deutlich an Bekanntheit. Zudem zeigen sich systematische Unterschiede zwischen Kindern, denn insbesondere die Themen Hunger, Krieg, Terroranschläge und Migration sind zu beiden Erhebungszeitpunkten für die Kinder aus Wohngebieten mit niedrigerem sozioökonomischem Status weit weniger bekannt als für die Kinder aus besser gestellten Wohngebieten. Auch bei Kindern türkischer Herkunft liegt die Bekanntheit vieler Themen weit unter der von Kindern anderer Nationalität – ein Befund bzw. ein Rückstand, der sich zwischen beiden Wellen noch vergrößert. Die Differenzierungsmerkmale Geschlecht und Alter spielen im Gegensatz zum sozioökonomischen Status des Wohngebiets und der Nationalität für Aussagen zur „politischen Themenkompetenz“ hingegen eine geringere Rolle.
In Bezug auf das politische Wissen – untergliedert in die Bereiche politische Perzeption, Strukturwissen, Funktionswissen, politische Symbole und Demokratiebegriff – weist Vollmar nach, dass sowohl das Alter keine entscheidenden Differenzen im Niveau des politischen Wissens hervorbringt als auch das Geschlecht nur einen vergleichsweise geringen Einfluss auf das Wissensniveau hat. Indessen lassen sich Herkunftseffekte nach dem Muster des Themenbereichs „gesellschaftliche Themen und Probleme“ nachweisen: Türkische Kinder weisen in jedem Wissensbereich das niedrigste Niveau an politischem Wissen auf. Darüber hinaus gibt es Effekte des sozioökonomischen Umfeldes, die größer sind als die der nationalen Herkunft. Insbesondere in den Bereichen Funktionswissen (z. B. Aussagen zur Tätigkeit von PolitikerInnen) und Strukturwissen (Beispielitems: „Was, glaubst Du, ist Europa?“ „Wie wird man Bestimmer?“) ist das Niveau des politischen Wissens bei Kindern aus einem Wohnumfeld mit geringerem sozioökonomischem Status niedriger. Zugleich werden Zuwächse an politischem Wissen innerhalb eines Jahres nachgewiesen.
Die Befunde von Abendschön zu den demokratischen Werten und Normen der Kinder komplettieren die Aussagen Vollmers und van Deths. Die Autorin bestimmt vier auf empirischem Weg bestimmte Dimensionen des Themenfeldes Werte- und Normenbewusstsein:
- Dimension „Regeln und Normen“ (u. a. ein Versprechen halten)
- Dimension „Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau“
- Dimension „gute Bürgertugenden“ (benannt als „Bürger I“ u. a. im Sinne der Belohnung von gesetzestreuem Verhalten)
- Dimension „egozentrisches Bürgerbild“ (Beliebtheit und Geldbesitz). Diese Dimension wurde etwas unglücklich lediglich „Bürger II“ benannt.
Im abschließenden Kapitel „Kinder, Politik und die Zukunft der Demokratie: Können Kinder ‚Demokratie leben lernen’?“ (Abendschön/Vollmar) werden die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassend präsentiert und Perspektiven der weiteren Forschung innerhalb des DLL-Projektzusammenhangs umrissen. Eine Dokumentation von Datenerhebung, Stichprobe und Skalen, ein Abdruck des Kinderfragebogens und ein Codebuch runden die Publikation ab.
Die Publikation ist insgesamt sehr systematisch aufgebaut, was den Einstieg in die empirische Vorgehensweise und in die Ergebnisdarstellung erleichtert. Schade ist dabei lediglich, dass auf diese Weise inhaltliche Redundanzen zwischen den Kapiteln entstehen, die bereits EingefĂĽhrtes wiederholen, was die Lesefreude fĂĽr das Fachpublikum herabsetzt.
Alles in allem ist die Veröffentlichung „Kinder und Politik“ als ein elementarer Beitrag zur Grundlagenforschung im Bereich der politischen Sozialisationsforschung einzustufen, der das empirisch bearbeitete Themenfeld der politischen Sozialisation junger Kinder aus seiner unverdienten Randständigkeit holt. Dem AutorInnenteam kommt das Verdienst zu, mit ihren explorativen Analysen ein neues Forschungsfeld zu eröffnen, das politische Einstellungen von Kindern im Grundschulalter in den Vordergrund rückt und quantitativ bearbeitbar macht. Dezidiert wird hierbei das politikwissenschaftliche Erkenntnisinteresse unterstrichen, zugleich gibt es vielfältige interdisziplinäre Anknüpfungspunkte – ganz vordringlich an die neuere sozialwissenschaftlich ausgerichtete Kindheitsforschung.
Erstens ist ein wesentlicher Befund der Studie sowohl für die Forschungsbereiche der politischen Sozialisationsforschung als auch für die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung von Interesse. Die befragten Kinder haben die Fragen mehrheitlich verlässlich beantwortet. Das AutorInnenteam konnte für alle drei inhaltlichen Bereiche jeweils latente Konzepte und konsistente Strukturen herausarbeiten. Dies wird von den AutorInnen als „politische Kompetenz“ bzw. als kognitive Fähigkeit der Kinder dieser Altersgruppe betrachtet, mit politischen Themen, Problemen, Werten, Normen und politischem Wissen umzugehen. Hiermit – und mit ihrer empirischen Vorgehensweise insgesamt – liefern sie wertvolle methodische Hinweise für die Etablierung belastbaren Datenmaterials im Bereich der quantitativ ausgerichteten Kindheitsforschung, die zunehmend Kinder dieser Altersgruppe – und nicht die Aussagen ihrer Eltern – für sich entdeckt. Dies kann an den aufkommenden Kindersurveys (u. a. DJI-Kinderpanel, 1. World Vision Kinderstudie) der letzten Jahre beobachtet werden.
Zweitens liegen relevante Bezugspunkte im Befund der geringen Bedeutung des Alters als Determinante der politischen Einstellungen von Kindern. Hierbei machen die AutorInnen deutlich, dass entwicklungstheoretische Erklärungen „à la Piaget“, die jungen Kindern politische Kompetenzen absprechen würden, mit den Daten des DLL-Projekts keine empirische Bestätigung erfahren. Diese Argumentation könnte erweitert werden, indem die dritte Forschungsfrage des Projekts, diejenige nach den Differenzierungslinien zwischen den Kindern, stark gemacht und mit aktuellen Befunden und Argumentationsmustern der neueren Kindheitsforschung verknüpft wird. Dort nämlich wird nicht nur nachgewiesen, dass es weiterführend sein kann, „Kinder“ nicht lediglich unter der Entwicklungsperspektive und – wie es in der politischen Sozialisationsforschung zu sein scheint – als (passive) Sozialisanden zu betrachten. Vielmehr gilt es, Kinder als Akteure zu begreifen, die sich hinsichtlich ihres sozioökonomischen Status bzw. ihrer Milieuzugehörigkeit und ihrer nationalen Herkunft bzw. ihres Migrationshintergrunds unterscheiden. Ihre (kinder-)kulturellen Praktiken und Einstellungen sind der empirischen Analyse zugänglich.
Zudem wäre es lohnenswert, die Perspektive in der Publikation zu erweitern, indem nicht nur danach gefragt wird, was Kinder ab welchem Alter (doch) schon können (politische Kompetenz) und wissen (politisches Wissen), sondern die Altersgruppe der Sechs- bis Achtjährigen in der gesellschaftlichen Hierarchie von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu verorten. Dann wäre das Wissen der Kinder und auch ihr (noch) Nicht-Wissen damit in Beziehung zu setzen, welche Altersgruppen bzw. gesellschaftliche Gruppen legitimerweise neues Wissen produzieren und welche dies nur reproduzieren dürfen. Wenn man diese Sichtweise dann noch mit der in der Studie fokussierten Teilgruppe u. a. der türkischstämmigen Kinder in Beziehung setzt, kommt die Frage auf, wie die „Sonderstellung“ dieser Kindergruppe erklärt werden könnte – eine überaus spannende Forschungsfrage für die politikwissenschaftliche Forschung wie auch für die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung.