Laut Bildungsbericht 2012 besitzen von den 81,7 Mio. Menschen, die in Deutschland leben, rund 15,7 Mio. Menschen einen sog. „Migrationshintergrund“. In der Alterskohorte der 6- bis unter 20jährigen ist das fast jeder dritte und bei den unter 1-Jährigen liegt dieser Wert bereits bei 35 Prozent. Dass Reformmaßnahmen im Bildungssystem aufgrund der Veränderung der Schülerschaft dringend vonnöten sind, darauf macht (auch) der hier zu rezensierende vierte Band der von Sara Fürstenau und Mechtild Gomolla herausgegebenen Lehrbuchreihe „Migration und schulischer Wandel“ aufmerksam. Die ersten drei Bände sind den Themen Elternbeteiligung (2009), Unterricht (2009) und Mehrsprachigkeit (2011) gewidmet. [1]
Im Vorwort legen die Herausgeberinnen die Intention der Lehrbuchreihe und die allen Bänden dieser Reihe zugrundeliegenden „fünf leitenden Prämissen“ (7) dar, in denen schulische und institutionelle Reformmaßnahmen und diversitätsbewusste Prinzipien einer interkulturellen Schulöffnung mit dem Ziel reflektiert werden, der heterogenen Schülerschaft gerecht zu werden. Hier nun geht es um reflexive und diskriminierungskritische Haltungen in Bezug auf die Praxis der Leistungsbeurteilung in Schulen.
In der Einführung diskutieren Fürstenau und Gomolla Möglichkeiten und Grenzen, Chancen und Gefahren der „schulischen Beurteilungs- und Selektionspraxis“ (14), indem sie einen Überblick über Studienergebnisse zur Leistungsbeurteilung geben, bevor sie die Inhalte der einzelnen Kapitel kurz erläutern.
Unter dem Titel „Leistungsbeurteilung in der Schule: Zwischen Selektion und Förderung, Gerechtigkeitsanspruch und Diskriminierung“ arbeitet Gomolla die Entstehungsgeschichte des modernen Schul- und Leistungsbewertungssystems heraus und zeigt Kritikpunkte der gegenwärtigen Beurteilungspraxis im Allgemeinen und daraus resultierende (negative) Auswirkungen für SchülerInnen mit „Migrationshintergrund“ im Speziellen auf, so etwa die Beeinflussung der Notengebung durch wahrgenommene und zugeschriebene Informationen wie sozialer Status, „Migrationshintergrund“ oder auch Geschlecht. Mit Blick auf die sozialpsychologische Forschung zur schulischen Diskriminierung werden die Chancen und Gefahren von Schulleistungstests beleuchtet. Dadurch werden das Konzept der institutionellen Diskriminierung, seine Wirkungsweise und schulischen Folgen für die betreffenden Schülerinnen deutlich. Gomolla kommt zu dem Schluss, dass askriptive Merkmale „der ethnischen und sozialen Herkunft“ (43) einen signifikanten Einfluss auf die gegenwärtige Beurteilungspraxis besitzen.
Auch Winfried Kronig zeichnet im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Über das Eigenleben von Leistungsbewertung“ die strukturellen Gründe mangelnder Objektivität des schulischen Bewertungssystems nach. Seiner Meinung nach spielt die Herkunft der SchülerInnen als „Argumentationsressource“ (60) leistungsunabhängiger Bildungschancen eine große Rolle, um Ausleseentscheidungen „im Nachhinein legitimieren zu können“ (ebd.). Kronig resümiert, dass die Schule in ihrer gegenwärtigen Konstitution „zur Verletzung des Leistungsprinzips zwingt“ (61).
Im dritten Kapitel „Stereotype Threat, Erwartungseffekte und organisatorische Differenzierung: Schulische Leistungsbarrieren und Ansätze zu ihrer Überwindung“ beschäftigen sich Janet Ward Schofield und Kira Marie Alexander mit „Phänomenen …, welche die Leistungsresultate von Kindern aus Einwandererfamilien und minorisierten Gruppen behindern können“ (65). Als „Stereotype Threat“ wird die Furcht von SchülerInnen bezeichnet, „ein bestehendes Stereotyp über eine Gruppe (z.B. eine ethnische Gruppe), der man selbst angehört, zu bestätigen, indem man in einem mit dem Stereotyp verbundenen Bereich tatsächlich schwache Leistungen erbringt“ (66). Die Autorinnen verdeutlichen, dass von allen im Titel genannten Phänomenen negative Auswirkungen im Hinblick auf die Schulperformanz ausgehen: Der „Stereotyp Threat“ erzeugt Furcht bei den betroffenen Schülerinnen, die sich dadurch nicht mehr auf die zu lösende Aufgabenstellung konzentrieren können. Die oftmals negativen Erwartungshaltungen der Lehrkräfte in Bezug auf Kinder mit „Migrationshintergrund“ wirken als selbsterfüllende Prophezeiungen, die negativen Einfluss auf die Leistungsbewertung ausüben. Zudem vergrößert die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulwesens die Leistungsdiskrepanz zwischen Kindern mit und ohne „Migrationshintergrund“.
Renate Valtin stellt im vierten Kapitel, „Noten oder verbale Beurteilungen: Was ist ein gutes Zeugnis?“, die Vor- und Nachteile der verbalen SchülerInnenbeurteilung mithilfe des Projekts „NOVARA (Noten- oder Verbalisierungsbeurteilung – Akzeptanz, Realisierung und Auswirkungen“ (89) vor. Die Relevanz von „Berichtszeugnissen“ (100) leitet sie zum einen aus der „Informationsarmut“ von Ziffernnoten ab, zum anderen beruft sie sich auf empirische Befunde, die belegen, dass die verbreitete „Sorge, Kinder würden ohne Noten nicht lernen … unbegründet“ (101) ist. Hieraus speist sich die Vorstellung, dass „verbale Beurteilungen eine sinnvolle Alternative zur problematischen Notengebung sein können“ (ebd.). Bei Eltern „erfreuen sich Noten großer Beliebtheit“ (93), wobei die „Vorteile der verbalen Beurteilungen“ (94) durchaus anerkannt werden. Lehrkräfte merken „den zeitlichen Mehraufwand bei der Erstellung der verbalen Beurteilung gegenüber der Benotung“ an, wobei diejenigen Lehrkräfte, die die „verbale Beurteilung praktizieren, diesen Mehraufwand … für gerechtfertigt halten, da er mit pädagogischen Vorteilen verbunden sei …“ (ebd.). Besonders im Hinblick auf SchülerInnen mit „Migrationshintergrund“ „benötigen Lehrkräfte Wissen über den Zweitspracherwerb, um die sprachlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler beurteilen zu können“ (98). Gleichwohl verweist Valtin darauf, dass auch Berichtszeugnisse „Fehlurteile“ hinsichtlich der drei Faktoren „Geschlecht, Bildungsstatus und Migrationshintergrund“ beinhalten können.
Im fünften Kapitel „Wandel der Beurteilung hin zur Arbeit mit Zielen und festgelegten Kompetenzen“ thematisiert Johannes König die schulische Leistungsbeurteilung im Hinblick auf die „bildungspolitischen und bildungsadministrativen Vorgaben, denen bei der Steuerung von Planungs- und Entscheidungsprozessen eine wichtige Funktion zukommt“ (108). Diese Richtlinien haben laut König eine Alternation erfahren: Von der „Inputsteuerung, die … durch Lehr- und Rahmenlehrpläne, Strukturreformen oder Regelungen zur Verwaltung und Ausstattung“ (ebd.) umgesetzt wurde zur „Outputsteuerung …, die … durch eine systematische Überprüfung von Erträgen schulischer Lehr- und Lernprozesse“ (ebd.) implementiert wird. König diskutiert die gegenwärtige „Institutionalisierung von Bildungsstandards“ anhand der Vorstellung des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) und stellt „Chancen und Probleme der Standardorientierung“ heraus.
Drorit Lengyel und Hans-Joachim Roth widmen sich im sechsten Kapitel „Beobachtung der Schreibentwicklung in der Sekundarstufe I“ der Darstellung von „Instrumenten, mit denen Kompetenzentwicklungen beim sprachlichen Lernen im Kontext des fachlichen Lernens festgestellt“ (124) und rückgemeldet werden können. Mithilfe des Verfahrens „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FörMig)“ (125) sollen Lehrkräfte „erkennen, was die Entwicklung eines fachlich adäquaten Textes ausmacht, an welchen Stellen die Schülerinnen und Schüler gerade mit ihrer Sprache „kämpfen“ und wo eine durchgängige sprachliche Bildung im Fachunterricht demgemäß ansetzen kann und soll“ (129). Beitragen soll FörMig zur „Sensibilisierung der Fachlehrkräfte für die Belange einer sprachlich heterogenen Schülerschaft auf dem Weg in die Bildungssprache“ (133).
Im siebten Kapitel „Die Bielefelder Laborschule - Leistung in einer Kultur der Vielfalt oder: Die Würde des heranwachsenden Menschen macht aus, sein eigener „Standard“ sein zu dürfen“, führt Susanne Thurn den Vergleich zwischen den Strukturmerkmalen einer „Leistungsschule der Belehrung und der vergleichenden Gerechtigkeit“, die geprägt ist vom „Prinzip der Selektion“ sowie „größtmöglicher Homogenität“ (139) und einer „Leistungsschule einer Kultur der Vielfalt“ (141), deren Konstanten die individuelle Förderung heterogener SchülerInnen ist, an. Ferner legt sie die Gründe dar, warum sie sich persönlich „für das zweite System“ (148) ausspricht.
Gegenstand des achten Kapitels „Ganzheitliches Beurteilen und Fördern als Feld der Schulentwicklung: Strategien im Schweizer Kanton Luzern“ von Markus Roos-Schüpbach ist das (Förder-)Konzept „Ganzheitlich Beurteilen und Fördern (GBF)“ (153), welches darauf ausgelegt ist, „unter Verzicht auf Schulnoten … die kindliche Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz von Lehrpersonen, Eltern und Kindern auf Grund einer breiten Datenbasis gemeinsam“ (153f) zu beurteilen. Die Einbeziehung der Eltern in die Leistungsbeurteilung wird damit begründet, dass die Fortschrittsfeststellung umfassend und „ressourcenorientiert“ (159) sein soll. Die Selbst- bzw. Peer-Beobachtung des Kindes erfolgt auf Grundlage festgelegter Kriterien. Grundlage der Leistungsbewertung ist das individuelle Portfolio. Im Förderkreislauf werden zunächst gemeinsame Ziele vereinbart, bevor Lernprozesse beobachtet und beurteilt werden, um im finalen Schritt die Lernenden adäquat zu fördern.
Im neunten und letzten Beitrag „Gerechtigkeit, Leistungsbeurteilung und Schuldifferenzierung in Deutschland und Schweden“ nimmt Florian Waldow eine systematische Gegenüberstellung zwischen Deutschland und Schweden vor, um länderspezifische Mechanismen der Leistungsbeurteilung offenzulegen. Während in Deutschland die „Fragwürdigkeit der Notengebung … nicht zu durchgreifenden Veränderungen des Beurteilungssystems hin zu einer psychometrischen Testkultur“ (173) geführt hat, „gilt das Testsystem weiterhin als wichtiger Garant der Notengebung in Schweden“ (176). Bezüglich der Auswirkung der Noten auf die Bildungslaufbahn bundesdeutscher SchülerInnen merkt Waldow deren Relevanz „für die Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die verschiedenen Typen von weiterführenden Schulen“ (178) an. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass „unterschiedliche soziale Gruppen unterschiedliche Erfolgschancen im Bildungssystem“ (ebd.) besitzen und dass „Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund … sowohl hinsichtlich der Bildungsbeteiligung als auch hinsichtlich des Kompetenzerwerbs deutlich benachteiligt sind“ (179). Verglichen mit dem deutschen Bildungswesen besitzen „Leistungsbewertung und Benotung … in Schweden für die Schuldifferenzierung eine geringere Bedeutung“, weil die Benotung ab dem Schuljahr 2012/2013 erst in der sechsten Jahrgangsstufe beginnt und „Zensuren während der Schulzeit … nicht versetzungsrelevant“ (180) sind. Dass aber das schwedische Schulsystem „frei von Noten- und Leistungsdruck wäre“, sei „jedoch nicht zutreffend“, weil „die Abschlussnoten der neunjährigen Einheitsschule …eine gewisse Rolle beim Übergang auf die höhere Sekundarschule [und, K.F.] beim Übergang in den Hochschulsektor“ (ebd.) spielen.
Der vorliegende Band der Lehrbuchreihe „Migration und schulischer Wandel“ stellt einen profunden, praxisnahen und gut lesbaren Beitrag für die interkulturelle Öffnung des deutschen Schulwesens dar. Dazu tragen die innerhalb der Beiträge vorzufindenden „Kästen“, die Begriffserklärungen und relevantes Hintergrundwissen komprimiert darbieten, ebenso bei wie die jeweiligen Zusammenfassungen, Denkanstöße und Literaturempfehlungen. Der Sammelband vereint wissenschaftliche Expertise mit alltagstauglichen Handlungsempfehlungen für die Schulpraxis. Damit kann es als nützliches Grundlagenwerk sowohl für Lehramtsstudierende und HochschulmitarbeiterInnen als auch für StudienreferendarInnen und Lehrkräfte dienen. Die Beiträge geben zusammen einen sehr guten und differenzierten Überblick über die Reformnotwendigkeiten und -möglichkeiten des deutschen Schulwesens und bieten zudem ein umfassendes Hintergrundwissen für eine diskriminierungskritische Reflexion konkreter Praktiken der Leistungsbeurteilung.
[1] Band 1 wurde in der Erziehungswissenschaftlichen Revue einzeln (http://www.klinkhardt.de/ewr/978353115378.html), die Bände 1-3 gesammelt besprochen (http://www.klinkhardt.de/ewr/978353115376.html) und der hier rezensierte Band 4 annotiert (http://www.klinkhardt.de/ewr/annotation/978353115380.html).
EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)
Migration und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung
Wiesbaden: Springer VS 2012
(188 S.; ISBN 978-3-531-15380-3; 16,95 EUR)
Karim Fereidooni (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Karim Fereidooni: Rezension von: FĂĽrstenau, Sara / Gomolla, Mechtild (Hg.): Migration und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung. Wiesbaden: Springer VS 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115380-1.html
Karim Fereidooni: Rezension von: FĂĽrstenau, Sara / Gomolla, Mechtild (Hg.): Migration und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung. Wiesbaden: Springer VS 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115380-1.html