- Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind eine heterogene Gruppe
- Migrationsbedingte Pluralisierungsprozesse sind konstitutiv fĂĽr die Schule in Deutschland
- Eine sozial gerechte Bildungspraxis erfordert institutionellen Wandel
- Lernen und Lehren ist eine soziale Aktivität
- Professionalisierung ist eine Voraussetzung fĂĽr schulischen Wandel
Das Buch umfasst neben einer knappen Einführung der Herausgeberinnen in die Thematik insgesamt neun, unabhängig voneinander aufgebaute Kapitel. Einführend identifizieren Fürstenau und Gomolla die aktuelle Forderung nach mehr Elternbeteiligung als eine Reaktion auf die Ergebnisse der Schulleistungsstudien, die große Differenzen zwischen Schülerinnen und Schülern deutscher und nicht-deutscher Herkunft zulasten der Zugewanderten belegt hatten. Zugleich weisen sie darauf hin, dass die Rolle der Eltern und die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus nicht nur im Hinblick auf migrationsbedingte Heterogenität zum Thema wurde und wird, sondern auch weitere Heterogenitätsmomente in den schulischen Bildungsvoraussetzungen die kontinuierlich zu stellende Frage aufwerfen, wie bzw. durch welche Strategien alle Eltern einbezogen, informiert und gebildet werden können. Insgesamt betten sie die Thematik der Elternbeteiligung in den breiteren Kontext des Verhältnisses von Schule und Familie/Elternhaus ein. Dabei markieren sie das Forschungsdesiderat, dass es kaum wissenschaftliche Studien gebe, welche die Zusammenhänge zwischen Familie und Schule und die Verbindungen von Elternbeteiligung und schulischem Erfolg untersuchen würden; vielmehr dominiere eine „Praxis- und Ratgeberliteratur“ (14).
Unter diesem Desiderat leidet auch das vorliegende Lehrbuch. Die Konzeption des Buches, eine Kombination aus theoretischem Grundlagenwissen, Forschungsbefunden und Praxisbeiträgen zu liefern, geht stark in Richtung der Praxisbeiträge und der deskriptiven Darstellung von Strategien der Elternbeteiligung. Fünf der insgesamt neun Kapitel haben Praxisbegleitprojekte oder -beispiele in Deutschland und der Schweiz zum Thema. Radmilla Blickenstorfer stellt in Kapitel 3 unter dem Titel „Strategien der Zusammenarbeit“ unter anderem ein im Rahmen des Zürcher Schulentwicklungsprojekts „Qualität in multikulturellen Schulen“ entwickeltes Modell zur Elternbeteiligung vor. Maren Elfert und Gabriele Rabkin skizzieren im Beitrag „Family Literacy“ (Kapitel 5) das so bezeichnete internationale Bildungsprogramm für Kinder und Eltern am Beispiel eines Hamburger Pilotprojekts, das selbst wiederum Teil eines groß angelegten Modellversuchsprogramms zur „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (FörMig) ist. Der Beitrag von Birgit Steckelberg (Kapitel 6) stellt das Projekt „Miteinander Wege finden – Interkulturelle Bildungslotsinnen Hannover“ vor, ein Qualifizierungsprojekt für Frauen mit Migrationshintergrund. Veronika Fischer und Julian Lüddecke liefern jeweils einen Praxisbeitrag aus Nordrhein-Westfalen. Es geht um ein neu gegründetes Elternnetzwerk, bei dem sich Migrantenselbstorganisationen zusammengeschlossen haben (Fischer, Kapitel 7) und um Konzepte der Kooperation mit Eltern im Rahmen der Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA) und ihres Projekts „Rucksack in der Grundschule“ sowie um Erfahrungen, die ebenfalls aus dem Modellprogramm FörMig stammen (Lüddecke, Kapitel 8).
Beiträge, die Forschungsbefunde und im weitesten Sinne theoretisches Grundlagenwissen zum Gegenstand haben, bilden die Kapitel 1, 2, 4 und 9. Gomolla liefert in Kapitel 1 einen einführenden Überblicksartikel zum Verhältnis von Schule und Familie insbesondere im Kontext eines sprachlich und sozio-kulturell heterogenen Schulumfeldes. Sie skizziert das ungleiche Verhältnis in historischer Perspektive und liefert empirische Befunde zur Kooperation von Elternhaus und Schule. Knapp geht sie auch auf die Relevanz der Kooperation für die schulischen Leistungen der Kinder ein. Sie schließt mit unterschiedlichen Strategien der Zusammenarbeit von Schule und Eltern – auch mit Gemeinden. Wenngleich nur am Rande, so differenziert sie Schule in unterschiedliche Schultypen: Kooperation werde im Grundschulbereich für wichtiger gehalten und gelinge dort besser als im Sekundarbereich (29). Hier deutet sie einen relevanten Aspekt an, der im Buch an einigen Stellen vernachlässigt wird: Die Herausgeberinnen betonen eingangs zu Recht, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund keine homogene Gruppe bilden. Ebenso wenig macht es Sinn, Schule als einheitliche Institution vorauszusetzen. Nicht nur, aber gerade im Vergleich von Grundschule und weiterführenden Schulen lässt sich historisch eine spezifische Entwicklung nachweisen; ebenfalls sind unterschiedliche Funktions- und Aufgabenzuschreibungen an unterschiedliche Schultypen und divergierende Selbstverständnisse der jeweiligen Professionellen beobachtbar [1] oder auch schulspezifische Unterschiede in der Zusammensetzung der Klientel gerade hinsichtlich einer sprachlich und sozio-kulturell heterogenen Schülerschaft. Alle diese Punkte kommen im Buch kaum zur Sprache; sie dürften sich sowohl auf Formen und Problemstellungen der Elternbeteiligung auswirken als auch Konsequenzen für die Professionalisierung haben.
Lesenswert sind insbesondere die Beiträge von Britta Hawighorst und Manuela Westphal. Erstere fragt nach dem konkreten Erleben des Zusammenspiels von Familie und Schule aus der Perspektive von Einwandererfamilien mit türkisch- und russischstämmigem Migrationshintergrund (Kapitel 2). Die Befunde aus eigenen Interviews geben Einblicke in ganz unterschiedliche Aspekte des Spannungsfelds Familie und Schule. So analysiert sie die herkunftsspezifischen Sichtweisen auf Unterricht und Schule, die Erfahrungen, die die Eltern in ihrer Zusammenarbeit mit Schule bereits gemacht haben und die familialen Hilfen und Unterstützungsleistungen. Sie zeigt die hohe Bedeutung von Schule in zugewanderten Familien, in Verbindung damit, dass insbesondere die türkischstämmigen Eltern den schulischen, oft impliziten Erwartungen u. a. an Unterstützungsleistungen mit Unsicherheit begegnen und sich vielfach auf sich allein gestellt erleben. Dies manifestiert sich u. a. bei Elternabenden und -sprechtagen, bei denen Elterngruppen mit Migrationshintergrund sehr zurückhaltend agieren oder gar nicht erst erscheinen. Aus den empirischen Befunden arbeitet Hawighorst Überlegungen für eine bessere, weil vorhandene Erwartungen und Annahmen explizierende Kooperation zwischen Schule und Elternhaus heraus, die die Förderung der Kinder und Jugendlichen als eine gemeinsame Aufgabe von Schule und Familie begreift.
Der Beitrag von Westphal (Kapitel 4) analysiert, wie das Konzept der interkulturellen Kompetenz in konstruktiver Weise für gelingende Elternarbeit eingesetzt werden kann. Zunächst differenziert sie das verbreitete Schlagwort „interkulturelle Kompetenz“ in unterschiedliche „interkulturelle Kompetenzdiskurse“ aus (90), danach problematisiert sie die Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften und skizziert zentrale Bestandteile einer reflektierten und mehrdimensional ausgerichteten Qualifizierung im Hinblick auf interkulturelle Kompetenz. Wesentlich ist für Westphal hierbei, dass sowohl „handlungspraktisch als auch theoretisch (…) Einsichten zu vermitteln (sind), die die normative und faktische Kraft der unterstellten Konflikt- und Differenzthesen aufarbeiten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beziehungsgestaltung zwischen Schule und Eltern durch ein asymmetrisches Verhältnis bestimmt ist. Eltern und Lehrkraft haben auch unterschiedliche pädagogische Bezüge auf das Kind und vertreten z.T. auch divergierende Interessen“ (100). Zum einen problematisiert sie hiermit deutlich die feldspezifischen, unterschiedlichen Interessen und Machtpositionen, zum anderen greift die Autorin einen Aspekt auf, der in den anderen Beiträgen nicht problematisiert wird: Sie zeigt die (Neben-)Wirkungen einer verbesserten Elternarbeit und einer „gelungenen Kooperation“ zwischen Schule und Elternhaus hinsichtlich der beteiligten Kinder bzw. Schüler/innen: Diese geraten in einen Klammergriff von Elternhaus und Schule. Sie schätzen es, wenn sowohl Eltern als auch Lehrkräfte nur unzureichende Einblicke in die jeweilige Welt der Schule bzw. der Familie haben und Schule einen für sie eigenständig und selbst gestaltbaren Freiraum bildet. Eine verstärkte Elternbeteiligung zu problematisieren, beispielsweise aus Schüler/innenperspektive, hätte man sich in einem Lehrbuch durchaus an zentralerer Stelle gewünscht.
Das Buch schließt mit einem Beitrag aus Großbritannien (Kapitel 9). Sally Tomlinson skizziert in ihrem Beitrag „Eltern und bildungspolitische Dynamik in Großbritannien“ die Entwicklung der Beteiligung von Eltern aus ethnischen Minderheiten im britischen Bildungssystem seit den 1960er Jahren. Hierbei arbeitet sie anhand verschiedener bildungspolitischer Akzentsetzungen Benachteiligungsfaktoren für diese Elterngruppen heraus.
Hinsichtlich der formalen Gestaltung ist festzuhalten, dass die Überschriften der einzelnen Beiträge sehr breit gewählt sind („Elternbeteiligung in der Schule“ oder „Strategien der Zusammenarbeit“). Sie zeigen somit kaum an, worin der Schwerpunkt des jeweiligen Kapitels liegt. Es wäre hilfreich gewesen, allein durch eine Spezifizierung – auch bei den Praxisbeiträgen („Family Literacy“) – die inhaltlichen Fokussierungen klarer hervorzuheben. Dies indiziert, was sich auch inhaltlich bemerkbar macht: Das Lehrbuch ist informativ, aber nicht an allen Stellen pointiert genug.
Im Sinne eines Lehrbuchs, enthalten bis auf die Einleitung alle Beiträge graue Kästen, die einzelne Aspekte der Thematik hervorheben. Teilweise werden dort Definitionen mitgeliefert, teilweise vertiefende Hintergrundinformationen. Jeder Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und mit einer Rubrik zu aus den jeweiligen Beiträgen entwickelten „Fragen und Denkanstößen“ sowie ausführlicheren Literaturempfehlungen zur Vertiefung der Themen. Damit wird der Band insbesondere auf die Zielgruppe der Studierenden der Erziehungswissenschaft und des Lehramts sowie Studienreferendare und Studienreferendarinnen ausgerichtet. Dabei richtet sich das Niveau der Hervorhebungen und insbesondere der Fragen und Denkanstöße in vielen Kapiteln insbesondere auf BA-Studiengänge. Weiterführender wäre es – auch für Einsteiger/innen – gewesen, gerade bei „Fragen und Denkanstößen“ stärker auf vergleichende Aspekte abzuheben um dadurch auch Widersprüchliches – das in den Beiträgen gleichwohl enthalten ist – aufzudecken oder zum Beispiel auch die Rezeption der konzeptionellen Einsichten in den vorliegenden Praxisprojekten kritisch zu hinterfragen. Aktuell werden alle Beiträge und Projektdarstellungen separat abgehandelt. Bezüge zwischen den Kapiteln muss sich der Leser/die Leserin ebenso selbst erarbeiten wie die Reflexion einiger Inhalte vor der Hintergrundfolie der eingangs skizzierten zentralen Prämissen der Buchreihe.
[1] Koch, Katja (2001). Von der Grundschule in die Sekundarstufe. Band 2: Der Ăśbergang aus der Sicht der Lehrerinnen und Lehrer. Opladen: Leske und Budrich.