EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)

Frank Kleemann / Uwe Krähnke / Ingo Matuschek
Interpretative Sozialforschung
Eine praxisorientierte EinfĂĽhrung
enthält 1 CD-ROM
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(240 S.; ISBN 978-3-531-15233-2; 24,90 EUR)
Interpretative Sozialforschung Mit diesem Band wird ein Lehrbuch vorgelegt, das konsequent und mit ungewöhnlichen Mitteln in die Praxis des sozialwissenschaftlichen Interpretierens einführt. Um zu zeigen, was Forschende konkret tun, ist dem Buch eine CD-ROM beigefügt, die viele Ausschnitte aus Sitzungen von Interpretationsgruppen enthält. Zugehörige Auswertungen sind im Buch und auf der CD an Beispielen aus der Forschungspraxis dokumentiert. Diese Auswertungen können von den LeserInnen selbst erarbeitet oder fortgeführt werden. Buch und CD bieten dazu das erforderliche Material und im Anschluss beispielhafte „Lösungen“ zum Vergleich. Freilich lässt sich in einem solchen Buch aus dem Spektrum qualitativer Interpretationsverfahren nur eine Auswahl treffen: Dargestellt werden Konversationsanalyse, Narrationsanalyse, Objektive Hermeneutik und Dokumentarische Methode.

Es handelt sich um Verfahren, die in der erziehungswissenschaftlichen Forschung häufig angewendet werden; die Autoren des vorliegenden Buches stammen jedoch aus der Soziologie (alle drei sind promovierte wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Chemnitz). Diese fachliche Verwandtschaft zeigen auch die im Buch praktisch bearbeiteten Forschungsgegenstände: Telefongespräche einer Customer-Care-Hotline (analysiert mittels Konversationsanalyse), narrative Interviews zur Telearbeit (Narrationsanalyse), Zettelkommunikation zwischen Mietparteien (Objektive Hermeneutik) und Gruppendiskussionen zur Freizeitsituation Jugendlicher (Dokumentarische Methode). Einer Erarbeitung der Verfahren aus erziehungswissenschaftlichem Forschungsinteresse steht aber nichts entgegen. Es lassen sich strukturell vergleichbare Forschungsgegenstände anführen, für die sich die genannten Verfahren eignen: etwa die konversationsanalytische Interpretation eines Erstgesprächs in einer pädagogischen Einrichtung, die narrationsanalytische Auswertung mittels Interview erhobener pädagogischer Berufsbiografien, die objektiv-hermeneutische Interpretation des internen Schriftverkehrs einer pädagogischen Einrichtung oder die dokumentarische Analyse von Gruppendiskussionen mit NutzerInnen der Jugendarbeit.

Der Beschreibung, Erläuterung und Durchführung der Verfahren geht ein methodologisches Kapitel voraus, das Grundlagen interpretativer Sozialforschung zusammenfasst. Es werden dabei jene Aspekte der Methodologie besonders beleuchtet, die für die vier zu behandelnden Verfahren wichtig sind. Zu Recht weisen die Autoren jedoch darauf hin, dass dieses Kapitel ein gründliches Studium der Methodologie interpretativer Sozialforschung (auch bezogen auf die einzeln Verfahren) keinesfalls ersetzen kann.

Entsprechend wendet sich das vorliegende Buch auch nicht an AnfängerInnen, sondern an Studierende oder Postgraduierte mit zumindest Grundkenntnissen in qualitativer Sozialforschung. Eingeführt wird hier vor allem in die Strategien der Anwendung. Das Buch solle sich besonders für das Selbststudium eignen, könne aber auch der Vertiefung von Lehrveranstaltungen dienen. Ein wesentliches Element für das Selbststudium sind die vielen Übungsbeispiele (in Verbindung mit der CD-ROM), deren Bearbeitung die Autoren mit Nachdruck empfehlen.

Im Zentrum des Buches stehen die Kapitel, die jeweils einem der vier Interpretationsverfahren gewidmet sind. Diese Kapitel umfassen zusammen 160 Seiten. Es erleichtert die Orientierung und den Vergleich, dass sie jeweils nach denselben Abschnittsüberschriften aufgebaut sind: „Forschungsprogramm“, „Methodische Vorgehensweise“, „Anwendungsfelder und exemplarische Studien“, „Nutzen und Grenzen der Methode“, „Zusammenfassung“ sowie „Literaturverzeichnis“. Dabei erklären die Autoren für jedes Verfahren die Schritte der Auswertung und führen diese dann praktisch vor.

Da alle vier in diesem Buch behandelten Interpretationsverfahren eine längere Forschungstradition aufweisen, sind im Laufe der Zeit auch methodologische und methodische Ausdifferenzierungen erfolgt. So kommen die Autoren des vorliegenden Bandes nicht umhin zu reduzieren und zentrale Schritte auszuwählen, die in verschiedenen Varianten eines Verfahrens gleichermaßen bestimmend sind. Entsprechende Diskussionen werden, wenn sie nötig sind, geführt. Dort, wo die ursprünglichen Verfahren noch Desiderate offen lassen, versuchen die Autoren, Leerstellen durch eigene pragmatische Schritte zu füllen.

Nach diesem zentralen Teil des Buches vergleichen Kleemann, Krähnke und Matuschek in einem anschließenden kurzen Kapitel die vier Interpretationsverfahren – wobei nicht zuletzt eine tabellarische Gegenüberstellung für Klarheit in der Darstellung sorgt. LeserInnen, die ein Forschungsvorhaben planen, sollen Anhaltspunkte für eine Auswahl der Methode gegeben werden. Daraus lässt sich folgern, dass aus Sicht der Autoren die einzelnen Methodenkapitel auch selektiv erarbeitet werden können.

Im letzten Kapitel wird dann eine systematische Integration der Verfahren gezeigt, soweit man sie aufgrund ihrer Interpretationsmodi und ihrer methodologischen Vorgaben kombinieren kann. Das geschieht beispielhaft an der Auswertung eines Leitfadeninterviews – mithin auf der Basis eines Erhebungsinstruments, das auch in der erziehungswissenschaftlichen Forschung oft verwendet wird.

Ein großes Plus ist die Ausgestaltung des Buches. Der gesamte fortlaufende Text gewinnt sehr an Übersichtlichkeit durch prägnante Stichwörter auf dem Außenrand. Immer wieder finden sich auch innerhalb eines Abschnitts kurze Zusammenfassungen, die durch farblich unterlegte Kästen hervorgehoben sind. Viele kleine Beispiele sind schon am Seitenrand gut kenntlich gemacht. Ebenso leicht zu finden sind Tipps zur vertiefenden Lektüre, die in den Textfluss eingebaut sind. Schließlich ist ein Glossar zu erwähnen, das mit 74 Begriffen reichlich ausgestattet ist (neben einer Erklärung sind jeweils Seitenverweise genannt; im fortlaufenden Buchtext sind Begriffe aus dem Glossar farblich markiert).

Was das praktische Anliegen des Buches betrifft, so sind die gezeigten Auswertungsschritte stets nachvollziehbar, und der Text ist insgesamt gut verständlich. Anzahl und Umfang der Übungsaufgaben erlauben eine ausgiebige praktische Beschäftigung mit den Themen. Das Bedienmenü der CD-ROM ist klar gestaltet. Zu einem einzigen Kapitel kann es dort bis zu 20 so genannter Datensätze (Audio- und/oder Textfiles sowie grafische Darstellungen) geben. Wer als LeserIn ein einzelnes Interpretationsverfahren auswählt, mag dankbar für diese Fülle sein; wer aber alle Verfahren erarbeiten will, könnte an Grenzen stoßen. Hier sollten die Autoren vielleicht an eine didaktisch begründbare Kürzung denken oder eine Hilfe zur Auswahl aus den Datensätzen anbieten.

Diese kleine Einschränkung ausgenommen handelt es sich um ein durchweg gelungenes Lehrbuch, dessen mitgelieferte CD-ROM tatsächlich ein unverzichtbarer Bestandteil ist. Durch die konsequente inhaltliche Verschränkung von Buch und CD wirkt das Gesamt didaktisch gut gestaltet – und in dieser Hinsicht setzt die vorliegende Einführung Maßstäbe als ein Übungsbuch, das sich für das Selbststudium hervorragend eignet. Freilich basiert das Buch auf wissenschaftlichen und methodologischen Voraussetzungen: auf Prinzipien eines deutenden Verstehens von sozial konstruierten Sinnstrukturen, auf der Offenheit des Forschungsprozesses in Abgrenzung zu inhaltlichen Vorannahmen, auf der Absicht einer empirisch begründeten Theoriebildung und auf Annahmen über die Textförmigkeit des Datenmaterials. Diese Voraussetzungen konnten im Einleitungskapitel nur umrissen werden und wären sicher im Hinblick auf die einzelnen Verfahren noch mehr zu spezifizieren. Dies allerdings entspricht nicht dem Anliegen – und hier hat das Buch seine Grenze.
Christian Beck (Wörrstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Beck: Rezension von: Kleemann, Frank / Krähnke, Uwe / Matuschek, Ingo: Interpretative Sozialforschung, Eine praxisorientierte EinfĂĽhrung. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115233.html