EWR 8 (2009), Nr. 5 (September/Oktober)

Uwe Sanders / Friederike von Gross / Kai-Uwe Hugger (Hrsg.)
Handbuch Medienpädagogik
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008
(602 S.; ISBN 978-3-531-15016-1; 49,90 EUR)
Handbuch Medienpädagogik Die Medienpädagogik meldet sich zu Wort, und zwar in Form eines umfangreichen und (nahezu) allumfassenden Handbuchs. Die HerausgeberInnen Uwe Sanders, Friederike von Gross und Kai-Uwe Hugger unternehmen dabei den nicht unbescheidenen Versuch "sowohl Studierenden, pädagogischen Berufspraktiker als auch Wissenschaftlern einen fundierten und systematisch aufgebauten Überblick über Theorien, Forschung, Geschichte, gegenwärtige Diskussionspunkte und Handlungsfelder der noch verhältnismäßig jungen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin" (13) zu bieten. Das vorliegende Handbuch soll dabei sowohl facettenreich als auch kompakt zur medienpädagogischen Professionalisierung seinen Teil beisteuern. Dass es den HerausgeberInnen gelungen ist, einen umfassenden Einblick in die Theorielandschaft der Medienpädagogik zu bieten, wird nicht nur mit Blick auf den Umfang des 86 Beiträge umfassenden Buches deutlich.

Ob dieser Einblick jedoch einen systematischen Überblick zulässt und auch für PraktikerInnen lohnend ist, darf zunächst in Frage gestellt werden. Fraglich bleibt einleitend für die Lesenden, wodurch sich ein "Handbuch" von einem Glossar oder Sammelband unterscheidet. Wird die systematische Ordnung eines Wissensgebiets als Leitprinzip eines Handbuchs gesehen, dann erfüllt das vorliegende Werk seine Aufgabe folgendermaßen: Das Handbuch ist in sieben Abschnitte unterteilt, wobei der zweite Abschnitt "Theoretische Bezüge der Medienpädagogik" mit den Unterkapiteln "2.1 Erziehungswissenschaftliche Theorien", "2.2 Sozialwissenschaftliche und psychologische Theorien", "2.3 Medienphilosophische Theorien" und "2.4 Theorieansätze und Hypothesen" ein Drittel des Handbuchs ausmacht. Eingeleitet wird das Handbuch historisch mit Beiträgen zu "Geschichte und Strömungen der Medienpädagogik". Das dritte Kapitel widmet sich der medienpädagogischen Forschung und der vierte Abschnitt der Medienentwicklung. Die "Diskussionsfelder der Medienpädagogik" werden im fünften Kapitel erörtert und im sechsten Abschnitt werden Praxisbezüge zur Medienpädagogik hergestellt. Im abschließenden und kürzesten Kapitel werden "berufliche und professionelle Aspekte der Medienpädagogik" beleuchtet. Die unterschiedlichen Beiträge, die von der "Medien und Reformpädagogik" nach Heinz Moser (15-22), bis hin zur Frage nach der "Projektorientierung" von Fred Schell (587-592) reichen, eröffnen dabei eine solche Vielfalt an Themen, dass es zunächst den Anschein hat, als habe das Buch tatsächlich die Vielfalt der medienpädagogischen Theorielandschaft abgebildet.

Neben thematischen Klassikern, wie der Frage nach der Bedeutung der "Bewahrpädagogik" von Bernward Hoffmann (42-51), der strukturalen Bildungstheorie von Winfried Marotzki und Benjamin Jörissen (100-110) oder der Erörterung des Medienkompetenztheorems durch Kai-Uwe Hugger (93-98), finden sich auch exotischere Thematisierungen wie Klaus Arnolds Kritik an der "Lasswell-Formel" (198-204) oder die kritische Auseinandersetzung mit Hertha Sturms "fehlende[r] Halbsekunde" von Uwe Sanders (290-293). Die vielfältigen Beiträge, mit unterschiedlicher Länge, werden dabei unkommentiert den sieben Abschnitten zugeordnet. Es bleibt dabei den Lesenden überlassen, die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Ansätzen herzustellen. Das macht KennerInnen zwar den Überblick über die systematische Zuordnung des medienpädagogischen Gebiets möglich, medienpädagogischen Neulingen jedoch wird ein solcher allerdings erschwert.

Nun stellt sich die Frage, inwieweit die einzelnen Beiträge inhaltlich zu einer systematischen Orientierung über die Theorien und Praxisfelder der Medienpädagogik beitragen. Da es unmöglich ist, hier alle Beiträge zu erörtern, werden exemplarisch einige Unterkapitel aufgegriffen. Ein zentrales Anliegen der Beiträge sollte es – nach Angabe der HerausgeberInnen sein – einen kompakten Überblick über die medienpägogischen Themen, Theorien, Thesen und Praktiken zu bieten. Ganz in diesem Sinne führt z.B. Bernd Schorb die Integrale Medienpädagogik als "theoretische und empirische Basis" (75) der "Handlungsorientierten Medienpädagogik" (75-85) ein. Dabei erörtert er die Grundannahmen, Grundbegriffe, die Zielsetzungen, Funktionen, Voraussetzungen und Perspektiven der handlungsorientierten Medienpädagogik und liefert einen umfassenden und komprimierten Überblick, der auch Orientierung über das handlungsorientierte Feld der Medienpädagogik gibt. Konträr dazu widmet sich Lothar Mikus im Rahmen des vierten Abschnitts "Entwicklung der Medienpädagogik" äußerst knapp und unsystematisch der Frage nach der Bedeutung von "Fernsehen und Video" (402-405) für die Medienpädagogik. Nach einem kurzen historischen Rückblick deutet er zwar an, dass Fernsehen und Video in der produktiven Medienarbeit einsetzbar sind, seiner eigenen Forderungen an die Medienpädagogik, "didaktische Konzepte nach Vorstellung der Medienbildung und Medienkompetenzförderung voranzutreiben" (405) wird er dabei jedoch selbst nicht gerecht. Nun könnten interessierte Leserinnen und Leser zur Vertiefung der theoretischen Verortung des Fernsehens auf die Beiträge von Friedrich Krotz über Marshall McLuhan oder Dorothee M. Meister über "Medien in der Erwachsenen- und Weiterbildung" ausweichen. Doch solche Querverweise müssen jeweils selbstständig hergestellt oder über das angefügte Stichwortregister gesucht werden – von direkten Verweisen fehlt jede Spur. Die Inhomogenität des systematischen Anspruchs spiegelt sich in vielen der Beiträge wider.

Doch nun zurück zur Systematik des Handbuchs: Nach den beiden gelungenen Abschnitten zur Geschichte (1) und den eher medienpädagogischen als "erziehungswissenschaftlichen" Theorien (2.1), die u.a. Mediensozialisation (Stefan Aufenanger), Medienerziehung (Gerhard Tulodziecki), Mediendidaktik (Michael Kerres) und Medienökologie (Sonja Ganguin) beinhalten, folgt ein Einblick in die "Sozialwissenschaftlichen und psychologischen Theorien" (2.2). So wird in die theoretischen Grundlagen der Cultural Studies (Andreas Hepp), des Konstruktivimus und der sozialphänomenologischen Handlungstheorie (Ralf Vollbrecht), des Symbolischen Interaktionismus (Lothar Mikus) und der Systemtheorie (Tilmann Sutter) eingeführt, wobei leider nur im letztgenannten Beitrag auch kritische Perspektiven zu Wort kommen. Während die beiden Beiträge zur "Kritischen Medientheorie" von Christina Schicha und zu den "Kognitiven Theorien" von Ulrike Six durchaus noch grundlagentheoretisch motiviert sind, stellt sich die Frage, ob die anderen Beiträge dieses Abschnitts wie z.B. die "Soziale Netzwerkanalyse" (Christian Stegbauer) und der "Uses-and Gratification-Approach und Nutzenansatz" (Kai-Uwe Hugger) nicht eher methodische Ansätze oder "Forschungsstrategien" (173) als eigene Theoriegebäude abbilden.

Solche theoretischen Sprünge müssen die Lesenden auch im Übergang von den einzelnen Abschnitten vollziehen: So führt ein Absatz zur "Persuasionstheorie" (208-209) unvermittelt zum nächsten Kapitel der "medienphilosopischen Theorien" (2.3) am Bespiel von Günther Anders (Frank Hartmann, vgl. 211-216). Die weiteren exemplarischen Erörterungen über Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Jacques Derrida, Harold A. Innis, Friedrich Kittler, Marshall Mc Luhan und Vilém Flusser geben anregende Hinweise und kompakte Einblicke. Gefolgt werden diese biographischen Notizen von einem kunterbunten Unterkapitel zu "2.4 Theorienansätzen und Hypothesen", das von der "Wissenskluft-Perspektive (Heinz Bonfadelli) bis zum "Eskapismus-Konzept" (Myriam Reimer) reicht.

Als besonders gelungen kann der dritte Abschnitt zur "Forschung in der Medienpädagogik" bezeichnet werden. Dort wird ein Überblick über die typischen Methodologien der Medienpädagogik gegeben und u.a. von Helga Theunert in die Qualitative, von Renate Möller in die Quantitative und von Sonja Ganguin in die Biographische Medienforschung eingeführt. Auch die Medienwirkungsforschung (Jürgen Grimm), die Medienethnologie (Jörg Bergmann) und z.B. die Inhaltsanalyse (Yvonne Ehrenspeck, Alexander Geimer, Steffen Lepa) werden kurz und prägnant theoretisch erfasst.

Wer jedoch Hinweise zur Forschungspraxis erhofft, wird enttäuscht. Ebenso enttäuschend ist das Kapitel zur "Medienentwicklung und Medienpädagogik", das eigentlich ein Kapitel zu zentralen Leitmedien der Medienpädagogik darstellt und verkürzt über die Medien Buch, Zeitung und Zeitschrift, Kino, Radio, Fernsehen und Video führt. Einzig Werner Sesinks Beitrag zu den "Neuen Medien" lässt den Versuch erkennen, Medien systematisch als Lernräume zu verstehen. Die einleitend prominent erwähnten Computerspiele finden in diesem Kapitel eben sowenig Platz wie im Rest des Buches.

Im fünften Abschnitt werden "exemplarisch elf gegenwärtige medienpädagogische Diskussionsfelder" (13) dargestellt und Felder wie "Globalisierung" (Rainer Winter), "Lehren und Lernen mit Neuen Medien/E-Learning" (Claudia de Witt), "Emotionalisierung und Medien" (Udo Göttlich), "Gender und Medien" (Brigitte Hipfl) oder "Medien und Wirklichkeiten" (Klaus Merten) diskutiert. Obwohl die Beiträge durchaus interessante Aspekte beleuchten, bleibt unklar, warum gerade diese Themenfelder herangezogen werden und zum Beispiel medienphänomenologische Überlegungen ausgeklammert werden.

Im sechsten Kapitel werden die Praxisbezüge der Medienpädagogik thematisiert. Die Praxisfelder Kindergarten, Schule, außerschulische Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Bürgermedien, Jugendschutz und Institutionalisierung werden aufgegriffen und skizziert – der "Praxisbezug" bleibt dabei jedoch ein theoretischer. So werden zwar Relationen zwischen den jeweiligen Praxisfeldern und passenden theoretischen Ansätzen hergestellt, eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Praxis der Medienpädagogik kommt jedoch zu kurz. Diesen Gesichtspunkt verspricht das abschließende und siebte Kapitel "Berufliche und professionelle Aspekte der Medienpädagogik" aufzunehmen. Dort eröffnet Eva-Maria Oehrens einen erfrischenden Einblick in neue Aktionsfelder und Kai-Uwe Hugger in die Professionalisierung und den Arbeitsmarkt für MedienpädagogInnen. Es werden auch Fragen nach pädagogischem Studium und Weiterbildung (Sigrid Blömeke), nach Qualität in der Medienarbeit (Roland Bader) und Projektorientierung (Fred Schnell) erörtert. Abschließend treffen die Lesenden auf eine wohl umfassende Stärke des Buches: auf das Autoren-Register mit den 75 Mitwirkenden.

Resümierend lässt sich festhalten, dass es den HerausgeberInnen gelungen ist ein facettenreiches, vielfältiges und umfassendes Werk vorzulegen. Aus unterschiedlichsten Perspektiven werden zentrale Themen, Methoden, Konzepte, Problemfelder und Ansätze erörtert und mitunter kritisch diskutiert. Der Umstand, dass dabei einige Ansätze sich gegenseitig ausschließen, mit unterschiedlichsten Lern- und Bildungsbegriffen und Medientheorien gearbeitet wird, ist weniger eine Schwäche des Buches als die reale Situation in der deutschsprachigen Medienpädagogik. Das Ziel, einen systematischen Überblick zu ermöglichen, wurde zwar durch die Strukturierung des Buches versucht, muss aber mit Blick auf die Diversität und Inhomogenität der einzelnen Beiträge als verfehlt bezeichnet werden. Das Handbuch lädt KennerInnen und Neulingen der Medienpädagogik zum Querlesen ein, ein chronologisches Durchlesen erscheint dabei weniger empfehlenswert. Abschließend darf hier angemerkt werden, dass das "Handbuch Medienpädagogik" einen lesenwerten Einblick in die medienpädagogische Theorielandschaft bietet – auch wenn die Lesenden bereits mit einem gewissen Orientierungssinn ausgestattet sein sollten. Selten zuvor wurden so viele namhafte Medienpädagoginnen und -pädagogen in einem Werk versammelt und die Medienpädagogik so ausführlich beleuchtet.
Konstantin Mitgutsch (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Konstantin Mitgutsch: Rezension von: Sanders, Uwe / Gross, Friederike von / Hugger, Kai-Uwe (Hg.): Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115016.html