Wie lässt sich diversitätsbewusste und diskriminierungskritische Schulentwicklung betreiben? Mit dieser Frage beschäftigt sich Rita Panesar in ihrem acht Kapitel umfassenden Praxisbuch Gerechte Schule. Das wissenschaftlich fundierte Werk ist aus ihrer langjährigen Erfahrung mit dem Anti-Bias-Ansatz hervorgegangen. Ein Vorwort von Mechtild Gomolla führt in die Thematik ein. Das Praxisbuch enthält Hinweise, die die Leser:innen zur Reflexion einladen und Verweise auf praktische Übungen und Checklisten im Anhang. Das Buch ist sowohl für Schulakteur:innen, als auch für Erziehungswissenschaftler:innen von Interesse, die sich mit den Themen Diversität und Schulentwicklung auseinandersetzen.
In Kapitel eins plädiert Panesar für eine pädagogische Professionalisierung, die die Werte der Demokratie und der Kinderrechte in der Schulpraxis Realität werden lässt. Sie stellt den Anti-Bias-Ansatz als Schulentwicklungsstrategie vor und bezieht sich dabei auf ihre Erfahrungen als Fortbildnerin.
Panesar führt im zweiten Kapitel in den rechtlichen Rahmen ein, der die Grundlage für die pädagogische Arbeit in der Schule bildet. Im ersten Unterkapitel, „Anspruch und Wirklichkeit“, gibt sie Beispiele dafür, dass das Recht auf Bildung nicht immer erfüllt ist. Im zweiten Unterkapitel definiert Panesar die Konzepte Inklusion und Interkulturelle Öffnung, die in Deutschland bildungspolitisch und rechtlich relevant sind. Danach erläutert sie die Terminologie, die sie im Buch anwendet: diskriminierungskritische und diversitätsbewusste Schulentwicklung.
Im dritten Unterkapitel erklärt Panesar anhand eines Modells, was unter Diskriminierung im Sinne des Anti-Bias-Ansatzes verstanden wird. Sie ergänzt das Modell mit wissenschaftlichen Definitionen und Beispielen zu Grundbegriffen wie Vorurteile, Handlungsmacht, vorherrschende Ideologien von Über- und Unterlegenheit und Intersektionalität.
Das vierte Unterkapitel behandelt die Definitionen von Rassismus und institutionellem Rassismus und gibt einen Überblick über weitere Diskriminierungsformen, wie u.a. Sexismus, Linguizismus oder Ethnozentrismus. Im fünften Unterkapitel geht es unter der Überschrift „Warum es so schwer ist, in Schulen über Diskriminierung zu sprechen“ (39) um verschiedene Gründe von Widerständen gegenüber diversitätsbewusster Schulentwicklung.
Im sechsten Unterkapitel endet Kapitel 2 mit dem Trilemma der Inklusion von Mai-Anh Boger (2017), um die Komplexität des Spannungsfeldes der Arbeit gegen Diskriminierung zu erfassen.
In Kapitel 3 wird im ersten Unterkapitel der Anti-Bias-Ansatz vertiefend als pädagogisches Arbeits- und Organisationsprinzip an Schulen im Kontext seiner Geschichte und Entwicklung und seiner Rezeption und Anwendung im Schulkontext in Deutschland vorgestellt. Im zweiten Unterkapitel werden Nähe und Abgrenzung zu verschiedenen pädagogischen Ansätzen begründet, wie zur sog. interkulturellen Bildung, zum color-blind approach/Farben-negierenden Ansatz (54) oder zum Antirasissmus. Der starre, nationalgebundene Kulturbegriff wird problematisiert und ein Kulturverständnis als dynamische soziale Praxis eingeführt.
Kern des dritten Unterkapitels ist die Erläuterung der Grundannahmen und Ziele des Anti-Bias-Ansatzes. Das darauffolgende Unterkapitel ergänzt mit einer Erläuterung der konkreten Arbeitsweisen mit Fortbildungen auf den Ebenen der Persönlichkeits- und der Organisationsentwicklung. Panesar widmet das fünfte Unterkapitel den „[v]erinnerlichte[n] Machtverhältnissen schulischer Akterur:innen und innerhalb schulischer Strukturen“ (66). Ein Raster präsentiert zwei Machtpositionierungen: verinnerlichte Dominanz und verinnerlichte Unterdrückung. Es werden typische Handlungsmuster, die Diskriminierung reproduzieren, und alternative Verhaltensweisen, die Diskriminierung überwinden, jeweils vorgestellt.
Kapitel 4 befasst sich mit gesamtschulischen Veränderungsstrategien. Als erstes weist Panesar auf die Grundvoraussetzungen für eine diskriminierungskritische und diversitätsbewusste Schulentwicklung hin: Dazu zählen u.a. das Engagement der Schulleitung, die Bereitschaft des Kollegiums, die Kontinuierlichkeit des Prozesses und die Vernetzung mit Eltern und weiteren externen Akteur:innen. Panesar stellt die Konkretisierung und ein strategisches Vorgehen für Schulentwicklung in drei Handlungsfeldern vor: Organisations-, Personal- und Unterrichtsentwicklung. Die folgenden Kapitel gehen vertiefend auf diese Handlungsfelder ein.
Kapitel 5 widmet sich der Organisationsentwicklung und gibt Anhaltspunkte für ein strategisches Vorgehen. Aspekte wie die Verhandlung von zeitlichen Kapazitäten und die Gewinnung von Kollegien werden als zentral angesehen. Panesar erklärt mithilfe des Modells der Kurve der Veränderung von Kurt Lewin (1963) typische Muster von Veränderungsprozessen und bezieht sich auf Autor:innen im Change Management, um Grundsätze vorzustellen, wie der Widerstand gegen Veränderung professionell begegnet werden kann. Als Überwindungsstrategie plädiert Panesar für eine Prozessorientierung in den Qualifizierungen, um angemessen und konstruktiv auf die Bedürfnisse der teilnehmenden Schulakteur:innen reagieren zu können. Die zentralen Prozessschritte (Diagnose, Zielformulierung und Evaluation) werden beschrieben, mit Beispielen versehen und von Checklisten im Praxisteil ergänzt.
Im Fokus des Kapitel 6 steht die vorurteilsbewusste Personalentwicklung. Das erste Unterkapitel widmet sich der Professionalisierung von Lehrkräften. Panesar weist auf die mangelnden Inhalte zu Diversität und Diskriminierung in der Lehramtsausbildung hin, was u.a. zu einer Belastung der Lehrkräfte führe. Anti-Bias-Fortbildungen für schulische Akteur:innen trügen dazu bei, diese Situation zu verändern und eine gerechtere Schule zu schaffen. Daraufhin plädiert die Autorin für eine transparente und wertschätzende Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams in der Schule und konkrete Maßnahmen für die Praxis werden vorgestellt. Panesar bezieht sich auf Studienergebnisse von Fereidooni (2016) und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2017), um auf den Diskriminierungserfahrungen von Lehrkräften im Kontext Schule hinzuweisen. Schließlich hebt sie die Bedeutung von Beschwerdestellen und festgelegten Verfahren in Fällen von Diskriminierung hervor, um einen professionellen Umgang in der Schule „ohne Dramatisierung und Bagatellisierung“ (172) zu ermöglichen.
Kapitel 7 geht auf das Handlungsfeld der Unterrichtsentwicklung ein. Sieben Aspekte von Diversität im Unterricht werden beleuchtet: starke Schüler:innen ohne Überlegenheitsgefühl; Diversität als Normalität; Schieflagen im Unterricht; Umgang mit Diskriminierung im Unterricht; Noten und Feedback; Potential Mehrsprachigkeit und Unterrichtsmaterial. Es wird Bezug auf aktuelle und einschlägige Studien genommen, Beispiele aus der schulischen Realität werden herangezogen und in Praxisübungen eingeführt.
Das Praxisbuch endet mit einer Ermutigung, in der eigenen Schule aktiv zu werden. Die Projektmatrix im Praxisteil stelle einen Anfangsschritt für eine diskriminierungskritische und diversitätsbewusste Schulentwicklung dar.
Die theoretische Einbettung in erziehungswissenschaftliche Diskurse (52-53) ist komplex, aber zuweilen einseitig, weil Ansätze der kritischen/reflexiven Interkulturellen Pädagogik (Hamburger 2000) nicht berücksichtigt werden. Das Praxisbuch Gerechte Schule stellt jedoch ein hervorragendes Werkzeug dar, um in das Thema diskriminierungskritische und diversitätsbewusste Schulentwicklung einzusteigen oder zu vertiefen und ggf. erste oder weitere Schritte einzuführen.
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2017). LSBTIQ*-Lehrkräfte in Deutschland. Diskriminierungserfahrungen und Umgang mit der eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität im Schulalltag. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Umfragen/lsbtiq_lehrerkraeftebefragung.pdf?__blob=publicationFile&v=4
Boger, M.-A. (2017). Theorien der Inklusion – eine Übersicht. Zeitschrift für Inklusion, (1). https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/413
Fereidooni, K. (2016). Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Schulwesen. Eine Studie zu Ungleichheitspraktiken im Berufskontext. Springer VS.
Hamburger, F. (2000). Reflexive Interkulturalität. In F. Hamburger, U. Kolbe, R. Tippelt (Hrsg.), Pädagogische Praxis und erziehungswissenschaftliche Theorie zwischen Lokalität und Globalität (S. 191-200). Peter Lang.
Lewin, K. (1963). Geplante Veränderungen als Dreischritt: Auflockern, Hinüberleiten und Verfestigen eines Gruppenstandards. Gleichgewichte und Veränderungen in der Gruppendynamik. In K. Lewin (Hrsg.). Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften (S. 223-270). Huber.
EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)
Gerechte Schule
Vorurteilsbewusste Schulentwicklung mit dem Anti-Bias-Ansatz
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022
(278 S.; ISBN 978-3-525-70306-9; 28,00 EUR)
Carolina Colmenares DĂaz (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carolina Colmenares DĂaz: Rezension von: Panesar, Rita: Gerechte Schule, Vorurteilsbewusste Schulentwicklung mit dem Anti-Bias-Ansatz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978352570306.html
Carolina Colmenares DĂaz: Rezension von: Panesar, Rita: Gerechte Schule, Vorurteilsbewusste Schulentwicklung mit dem Anti-Bias-Ansatz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978352570306.html