Heterogenität von Schülergruppen beschreibt den Umstand, dass Schülerinnen und Schüler sich hinsichtlich einer Vielzahl von Merkmalen, wie zum Beispiel dem Geschlecht oder auch dem sozioökonomischen Status der Familie, unterscheiden. Trotz leistungsdifferenzierender Bildungsgänge lassen sich Unterschiede ebenso bezogen auf ihre Leistungen und hinsichtlich ihrer Lernmotivation feststellen. Lehrende stellt dies vor die Herausforderung, dass Schülerinnen und Schüler sehr individuelle Bildungsverläufe beschreiten, auf denen sie während ihrer schulischen Ausbildung adäquat begleitet werden müssen. Resultate der empirischen Bildungsforschung weisen nach wie vor darauf hin, dass es nicht gelingt alle gleichermaßen zu erreichen und entsprechend ihren individuellen Voraussetzungen zu fördern.
Ingvelde Scholz wendet sich in ihrem Buch dem Aspekt der Unterrichtung heterogener Schülerschaften zu und bespricht damit ein aktuelles Forschungsthema aus dem Bereich der empirischen Bildungsforschung. Vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit als Schuldirektorin nähert sich die Autorin dieser Thematik aus einer praxisbezogenen Perspektive. Unter Bezugnahme auf Forschungsergebnisse, der Diskussion über die Bedeutung dieser Resultate und der Formulierung sich anschließender Handlungsempfehlungen für den Unterricht gelingt es der Autorin, die Publikation an der Schnittstelle zwischen schulischer Praxis und empirischer Bildungsforschung anzusiedeln. Ziel ist es, Lehrkräfte für die Vielfältigkeit der Thematik anhand verschiedener Unterrichtskonzepte zu sensibilisieren und ihnen diese näher zu bringen, um schulische Bildung schülerorientiert zu gestalten.
Im ersten Kapitel verankert Scholz die Thematik aus ihrer Perspektive auf der Grundlage einer umfassenden Definition von Heterogenität sowie einer kontextuellen Verortung, die bildungspolitische Rahmenbedingungen berücksichtigt. Darüber hinaus stellt die Autorin ein kompetenzorientiertes Lernmodell vor, das unterschiedliche Kompetenzbereiche in einen schulischen, familiären und gesellschaftlichen Kontext setzt, sowie die Vorgaben des Bildungsplans berücksichtigt.
Im Anschluss daran bespricht Scholz im zweiten Kapitel Diagnose- und Förderverfahren aus einer praxisbezogenen Perspektive. Dabei werden Hinweise und Tipps gegeben, wie Lehrende sich eigenständig und im kollegialen Austausch hinsichtlich der Lern- und Leistungsbeurteilung von Schülerinnen und Schülern sowie ihrer eigenen pädagogischen Diagnosefähigkeit sensibilisieren und prüfen können. Scholz schlägt vor, unterschiedliche Begabungsbereiche der Schülerinnen und Schüler stärker zu fokussieren, mögliche Fehlerquellen bei der Beurteilung zu berücksichtigen und die Förderprozesse mit Blick auf die vier Kompetenzbereiche des zuvor vorgestellten Lernmodells zu gestalten.
Im Rahmen der Ausführungen zur inneren Differenzierung stellt die Autorin im dritten Kapitel vielfältige Unterrichtsmaterialien vor. Diese sollen Lehrkräfte darin unterstützen, ihren Unterricht hinsichtlich des Lernstoffumfangs und des Anforderungsniveaus, nach Inhalten und Interessen oder auch nach Lernwegen und Zugangsweisen differenziert zu gestalten. Scholz bespricht anschließend eine Reihe an Unterrichtsformen und -methoden, die eine individuelle Förderung ermöglichen und die oben genannten Kompetenzbereiche des Lernmodells abdecken. Zudem geht die Autorin auf Sozialformen ein. Dabei werden der individualisierte, kooperative und gemeinsame Unterricht anhand von Konzepten (wie z.B. dem Lernen an Stationen oder dem Gruppenpuzzle) vorgestellt und vor dem Hintergrund der Heterogenitätsformen sowie der Kompetenzbereiche diskutiert. Konkrete Umsetzungsvorschläge, darunter etwa Tipps zur schriftlichen Ergebnissicherung durch Handouts oder Plakate, geben hier Anregungen für die Unterrichtspraxis und Anreize zur eigenen Reflexion.
Scholz wendet sich im vierten Kapitel den äußeren Differenzierungsformen zu, die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Begabung und individuellen Voraussetzungen unterscheiden. Dabei geht sie auf Schulen mit speziellen Förderschwerpunkten, sowie weitere zu berücksichtigende Aspekte ein, wie zum Beispiel Hochbegabung, Förderung von Kindern mit Lernschwierigkeiten oder geschlechtshomogene Lerngruppen. Auch in diesem Kapitel setzt die Autorin Impulse für die Unterrichtspraxis, wie beispielsweise durch die Aufforderung Kinder mit speziellem Förderbedarf im eigenen Unterricht zu identifizieren sowie entsprechend zu fördern, und regt zur Reflexion der eigenen Verfahrensweisen an.
In Kapitel 5 widmet sich die Autorin vor dem Hintergrund des kompetenzorientierten Leistungsbegriffs der differenzierten Leistungsbeurteilung durch die Lehrkraft, die sich auch an den individuellen Bezugsnormen der Kinder orientiert. Diesen Aspekt diskutiert sie unter Berücksichtigung von Gelingens- sowie Misslingensbedingungen und nennt Handlungsstrategien zur Umsetzung im schulischen Alltag.
Im abschließenden sechsten Kapitel verweist die Autorin auf die Notwendigkeit einer systematischen Schulentwicklung, die sich aus den Bereichen Organisations-, Personal- und Unterrichtsentwicklung zusammensetzen sollte, um einer heterogenen Schülerschaft gerecht zu werden. Scholz gibt hier Empfehlungen, wie es einer Schule gelingen kann, neue Unterrichtskonzepte für die gesamte Institution als lernende Organisation umzusetzen. Es werden konkrete Beispiele für die Umsetzung in der Schule (z.B. Umfrage zur differenzierten Förderung im Unterricht) sowie Ideen für Reflexionsprozesse gegeben.
Abschließend betrachtet wird ein zentraler und konstitutiver Aspekt, der für einen angemessenen Umgang mit Heterogenität eine Voraussetzung ist, in den Ausführungen der Autorin jedoch nicht berücksichtigt: das professionelle Lehrerhandeln, welches Fachwissen, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen, Wertvorstellungen, Überzeugungen sowie Aspekte der psychologischen Funktionsfähigkeit beinhaltet. Neben institutionellen und unterrichtsmethodischen Aspekten, die einer heterogenen Schülerschaft begegnen können, sind es in erster Linie die Lehrenden, die ausreichend ausgebildet und kompetent sein sollten, um Schülerinnen und Schüler individuell, gemäß ihren Voraussetzungen und Talenten zu fördern.
Leider bleibt in diesem Buch die größte Gruppe der Kinder, die am häufigsten und am stärksten aufgrund einer nicht umgesetzten schülerorientierten Differenzierung benachteiligt werden, unberücksichtigt: die Kinder, die aufgrund ungleicher sprachlicher, sozioökonomischer und/ oder kultureller Voraussetzungen ungleiche Leistungen erzielen [1]. Es erscheint jedoch nicht ausreichend, die Aufgabenschwierigkeiten den Leistungen der Kinder anzupassen, wenn die Benachteiligung nicht auf das fehlende Wissen zurückzuführen ist, sondern vielmehr darauf, dass die Kinder nicht die sprachlichen Voraussetzungen mitbringen, um beispielsweise die Aufgabe zu verstehen [2]. Die Vorschläge und Konzepte, die die Autorin anrät umzusetzen, nehmen ausschließlich Bezug auf eine leistungsbezogene Heterogenität. Beschreibungen von Konzepten zur sprachlichen oder interkulturellen Förderung fehlen.
Punktuell werden nicht die aktuellsten Forschungsresultate rezipiert, auch werden nicht immer die Originalarbeiten zitiert und an einigen Stellen fehlen die Literaturhinweise gänzlich (109). Dennoch wird in dem Band eine große Vielfalt an Unterrichtsmethoden und Konzepten angeboten, und er regt darüber hinaus mit kreativen Ideen zur Selbstevaluation des eigenen Handelns im Unterricht an, insbesondere die Lehrkräfte, die ihrer beruflichen Tätigkeit reflexiv begegnen möchten.
[1] Klieme, E./Artelt, C./Hartig, J./Jude, N./Köller, O./Prenzel, M./Schneider, W./ Stanat, P. (Hrsg.): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster: Waxmann 2010.
[2] Helmke, A.: Unterrichtsqualität erfassen, bewerten, verbessern. Seelze: Kallmeyer 2003.
EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)
Das heterogene Klassenzimmer
Differenziert unterrichten
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012
(144 S.; ISBN 978-3-525-70133-1; 16,95 EUR)
Miriam M. Gebauer (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Miriam M. Gebauer: Rezension von: Scholz, Ingvelde: Das heterogene Klassenzimmer, Differenziert unterrichten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978352570133.html
Miriam M. Gebauer: Rezension von: Scholz, Ingvelde: Das heterogene Klassenzimmer, Differenziert unterrichten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978352570133.html