
Der Autor nimmt für sich in Anspruch, als erster eine Studie vorzulegen, „die systematisch das Wechselverhältnis zwischen der Universität und dem öffentlichen Raum in den Blick“ nimmt (35). Als Einstieg ins Thema hat Neumann den Topos von Deutschland als Schlusslicht bei der Zulassung von Frauen zum ordentlichen Universitätsstudium gewählt. Im Vergleich mit Ländern wie den USA, der Schweiz, England, Frankreich etc. habe der Prozess nicht nur spät eingesetzt, sondern auch lange gedauert. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich die Soziologin Ilse Costas kritisch mit diesem Topos auseinandergesetzt und überzeugend herausgearbeitet, dass neben der zeitlichen Dimension weitere Faktoren für die divergent verlaufende Entwicklung in den genannten Staaten in Betracht gezogen werden müssten: die unterschiedlich strukturierten Bildungs- und Wissenschaftssysteme, die gesellschaftliche Bedeutung des Hochschulsystems im jeweiligen Land, die universitäre Kultur, bspw. die Bedeutung von Burschenschaften und Studentenverbindungen in Deutschland, die Handlungsspielräume der Frauenbewegungen im politischen System, die Strukturierung des Arbeitsmarkts sowie der Professionalisierungsgrad akademischer Berufe und deren Sozialprestige [1]. Ein Bezug auf Costas Forschungsergebnisse findet sich erst spät im Band, versteckt in einer Fußnote, in der Neumann zugesteht, dass in den USA der „Widerstand gegen Studentinnen zunächst gering“ ausgefallen sei, weil akademische Berufe […] ein geringes Sozialprestige“ besessen hätten (244).
Angesichts vieler bereits vorliegender Publikationen stellt sich die Frage, mit welchen neuen Erkenntnissen die 2020 an der Philosophischen Fakultät der Universität Jena angenommene Dissertation aufwarten kann. Als Desiderat bisheriger Forschung formuliert Neumann, dass keine Arbeit zum Frauenstudium „das Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Dynamik […] im Hinblick auf die Wechselwirkungen zwischen den drei Ebenen des Wissens, der Institution und der Subjekte untersucht“ habe (8). Um diese „Wechselwirkungen in den Blick zu bekommen“ verstehe seine Studie den Streit um die Zulassung von Frauen zum Studium „als ein Diskursfeld“, in dem sich „soziale Akteure und Akteurinnen […] in institutionellen Feldern bewegten und dadurch mit Machtpotenzialen ausgestattet waren, die es ihnen erlaubten, als Sprechende zu agieren“. Ziel der Akteure und Akteurinnen sei „die Aktivierung von Deutungsmustern“ gewesen, „die festlegten, welche Probleme überhaupt als solche erkannt wurden und welche Lösungen für sie in Frage kamen. Eine derartige Aktivierung von Deutungsmustern sorgte dafür, dass sich Wissen, Institution sowie die Vorstellungen über den legitimen Handlungsspielraum von Subjekten veränderten“ (8). Diese Schwerpunktsetzungen finden sich im strukturellen Aufbau der Studie wieder. Neben der Einleitung (Kap. I) und der knappen Schlussbetrachtung (Kap. V) gliedert sich der Hauptteil in drei umfangreiche Kapitel, die mit „Machtpotentiale: Soziale Charakteristiken des Diskursfeldes“ (Kap. II), „Wissensbestände: Die Vermessung der akademischen Frauenbildungsfrage“ (Kap. III) und „Effekte des Macht-Wissen-Komplexes: Die Durchsetzung des Frauenstudiums“ (Kap. IV) überschrieben sind.
Um das Diskursfeld empirisch in den Griff zu bekommen, untersuchte Neumann zeitgenössische Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum. Der über Bibliografien und Datenbanken ermittelte Quellenkorpus ist ausgesprochen heterogen und umfasst insgesamt „447 Publikationen“ (51; vgl. Korpus der diskursanalytisch ausgewerteten Publikationen zum Frauenstudium, 362ff.). Unklar bleibt, nach welchen Kriterien weitere, im Literaturverzeichnis gesondert aufgeführte, Quellen von der Analyse ausgenommen wurden (vgl. 380ff.). Die digitalisierten Quellen wurden mittels einer nicht genannten „Software zur qualitativen Datenanalyse (QDA)“, bei der es sich um MAXQDA handeln dürfte, einer „Kontext- und Textanalyse“ unterzogen (51). Die der Soziologie entlehnte methodische Vorgehensweise wird zwar erklärt, aber nachvollziehen können sie wohl nur Historiker:innen, die sich bereits mit der wissenssoziologischen Diskursanalyse Reiner Kellers und der Grounded Theory auseinandergesetzt haben. Positiv hervorzuheben ist die Absicht, die ausgewerteten Texte zukünftig „als Subkorpus im Deutschen Textarchiv online zugänglich“ zu machen (51).
Als zentrale These seiner Untersuchung formuliert Neumann: „Innerhalb des Diskursfeldes zur akademischen Frauenbildungsfrage bildete sich ein struktureller Konsens zwischen bewahrend-konservativen und befreiend-liberalen Diskursstrategien heraus. Dieser Konsens bewirkte eine dynamische Stabilisierung des universitären Feldes. Ein zentraler Teil dieser Stabilisierung der klassischen Männerwelt betrifft die Konstruktion der sogenannten Ausnahmestudentin“ (8). Damit ist bereits eine, vielleicht sogar die wichtigste, Erkenntnis der Studie in der Einleitung vorweggenommen, die im Schlusskapitel noch einmal aufgenommen wird. Die männerdominierten Strukturen der Universität blieben unangetastet, weil Frauen nur als besonders begabte Ausnahmen ihres Geschlechts Zugang zur Alma Mater fanden. Mit diesem Konstrukt fand zwischen Vertreterinnen des sogenannten gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, liberal eingestellten Professoren und den zuständigen Ministerialverwaltungen eine Annäherung statt, „die einen strukturellen Konsens von befreienden und bewahrenden Strategien unter Abwehr ihrer radikalen bzw. reaktionären Rändern ermöglichte“ (349). Mit den „radikalen Rändern“ sind Positionierungen des sogenannten radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung gemeint, die in der Tat politisch kein Gehör fanden. Unter die „reaktionären Ränder“ werden Positionen wie die des Münchner Medizinprofessors Bischoff subsumiert, die zunehmend aus dem Feld des Sagbaren herausfielen. Neu und interessant sind insbesondere die mit Grafiken untermauerten Daten zu zeitlichen Publikationsfrequenzen und den medialen Zugangsmöglichkeiten der beteiligten Akteur:innen. Was die Einflussnahme auf weite Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit zugunsten des Frauenstudiums angeht, relativiert sich bspw. das hohe Publikationsaufkommen der Frauenbewegung, da sich – Neumann zufolge – ihre Beiträge zumeist „an die eigene Bewegungsöffentlichkeit richtete“ (133). Mit dieser Formulierung wird ausgeblendet, dass es strukturelle Barrieren gab, die die Aufnahme von frauenbewegten Publikationen in auflagenstarke und meinungsbildende Printmedien des Kaiserreichs erschwert haben dürften.
Dass „[e]inige Erkenntnisse der Studie […] an sich nicht neu [sind]“ hat bereits die Rezension von Andreas Becker im geschichtswissenschaftlichen Online-Rezensionsorgan Sehepunkte konstatiert. Trotzdem verleiht der Rezensent das Prädikat ‚ausgezeichnet‘, weil „nun fundiert [sei], was frühere Untersuchungen anhand vereinzelter Beispiele bloß angenommen“ hätten [2]. Nein, Autorinnen wie Claudia Huerkamp, Theresa Wobbe, Eva Brinkschulte und Edith Glaser, um nur einige zu nennen, haben nicht nur „angenommen“, sondern sie sind aufgrund einer begründeten Auswahl und einer sorgfältigen Analyse ihrer Quellen zu ihren Ergebnissen gelangt.
Aus Sicht einer historischen Bildungsforscherin muss abschließend festgehalten werden, dass Publikationen aus der (inter-)nationalen Historischen Bildungsforschung nicht systematisch zur Kenntnis genommen worden sind. So wird z.B. die wiederholte Beschwörung des schlechten Zustandes der höheren Mädchen- und Lehrerinnenbildung in zeitgenössischen Veröffentlichungen (vgl. 230) für ‚bare Münze‘ genommen, anstatt zu erkennen, dass hier von den Akteur:innen ein Topos bemüht wurde, der vor allem die Bedeutsamkeit der eigenen bildungstheoretischen und/oder bildungspolitischen Leistung hervorheben sollte [3]. Einen prominenten Platz innerhalb des von Neumann untersuchten Quellenkorpus nimmt die 1897 publizierte Studie des Journalisten Arthur Kirchhoff ein, der Hochschullehrer, Mädchenschulpädagogen und Schriftsteller zur Akzeptanz des Frauenstudiums befragt hatte.
Neumann nimmt wiederholt Bezug auf einzelne Aussagen von Professoren, ohne zu berücksichtigen, dass es bereits Publikationen gibt, die sich eingehend mit dieser Studie auseinandergesetzt haben. Dann wäre ihm u.a. die Fehleinschätzung erspart geblieben, Konzept und Praktiken der „komplexen Ehe“ in der nordamerikanischen Oneida-Gemeinde unter den Begriff der „Doppelehe“ zu subsumieren (149) [4]. Die Geringschätzung der Historischen Bildungsforschung wird nicht zuletzt auch daran deutlich, dass im Literaturverzeichnis die renommierte Bildungshistorikerin Juliane Jacobi zur Mitherausgeberin ihrer eigenen Festschrift wird (vgl. 412).
[1] Vgl. die pointierte Zusammenfassung in: Costas, I. (2000). Professionalisierungsprozesse akademischer Berufe und Geschlecht – ein internationaler Vergleich. In Dickmann, E., Schöck-Quinteros, E., unter Mitarbeit von S. Dauks (Hrsg.). Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland (S. 13-32, hier: S. 32). trafo.
[2] Vgl. http://sehepunkte.de/2022/10/druckfassung/37123.html (28.02.2023).
[3] Vgl. bspw. van Essen, M., Rogers, R. (2006). Zur Geschichte der Lehrerinnen: Historische Herausforderungen und internationale Perspektiven. Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 52, Heft 3, 319-337; Kleinau, E. (2006). Mädchen- und Frauenbildung in der historischen Bildungsforschung. Neue Ansätze und Forschungsperspektiven. In Elvert, J., Salewski, M. (Hrsg.). Historische Mitteilungen. Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft. Bd. 19 (S. 208-218, hier: S. 211). Franz Steine.
[4] Vgl. Kleinau, E. (2010). „Sind Frauen zum Studium befähigt und berechtigt?“ Der Diskurs für und wider das Frauenstudium gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In Küllchen, H., Koch, S., Schober, B., Schötz, S. (Hrsg.). Frauen in der Wissenschaft – Frauen an der TU Dresden. Tagung aus Anlass der Zulassung von Frauen zum Studium in Dresden vor 100 Jahren (S. 79-98, hier: S. 83f.). Leipziger Universitätsverlag.