Clemens Bach zeichnet in fünf Kapiteln seiner 2021 veröffentlichten Dissertationsschrift die historisch-pädagogisch Relevanz des ungarischen Avantgardekünstlers Lázló Moholy-Nagys (1895-1946) nach. Moholy-Nagy wurde politisch durch die Erfahrungen als Soldat der österreich-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg und der ab 1918 von Machtkämpfen um das von Österreich getrennte Ungarn beeinflusst. Ab 1922 lebte der Künstler in Deutschland und wurde 1923 als Professor Teil des Bauhauses, dem er während seiner Exilzeiten in Europa und ab 1937 in den USA treu blieb – er musste aufgrund seiner jüdischen Herkunft Deutschland 1933 verlassen. Einen Großteil der Arbeit nehmen die von Moholy-Nagy verwendeten vielfältigen Referenzquellen ein, die von Bach historisch-systematisch nachgezeichnet werden. Es wird ebenso der These nachgegangen, welche Gemeinsamkeiten Moholy-Nagys „Theoriekompendium“ mit Friedrich Schillers „ästhetischer Erziehungs- und Bildungstheorie“ aufweist (XVII). Der Autor möchte darüber hinaus zeigen, dass Moholy-Nagys Erziehungstheorie als ein „kinetisch konstruktiver Neuhumanismus“ (XVII) verstanden werden kann, da „[d]ie Pädagogik der Kunst […] im Angesicht einer kapitalisierten Welt die Hoffnung auf die Hervorbringung ganzer Menschen zum Zweck einer befreiten Gesellschaft [birgt]“ (XVII). Bach spricht in Anlehnung an Moholy-Nagys Collagen „Kinetisch Konstruktives System“ (1922) – die ein Bewegungsspiel aus verschiedenen Elementen darstellen – und eines gesellschaftlich-politischen Anthropologismus bei ihm, der an Schillers ästhetisch-politische Erziehungstheorie erinnert, von einem kinetisch konstruktiven Neuhumanismus. In diesem Zusammenhang werden in der Dissertation Aspekte von Kunst, Politik, Gesellschaft, Anthropologie und Pädagogik im Kontext von Ästhetischer Bildung aufgegriffen und diskutiert.
Leitend für die Interpretation von Moholy-Nagys theoretischem Werk im Kontext von Friedrich Schiller und anderer Theoriebezüge sind für Bach fünf Begriffe: Gesellschafts- bzw. Kulturkritik, Anthropologie, Erziehung/Bildung, das Ästhetische sowie Utopie. Der Autor beginnt seine Arbeit mit einer methodologischen Reflexion. Dieses erste Kapitel beinhaltet zum einen eine Darstellung der Hermeneutik, wie sie als Erfahrungs- und Verstehensprozess Zusammenhänge von Kunst, Pädagogik und Kultur greifbar werden lassen kann. Zum anderen werden oben genannte, die Analyse leitende Begriffe für die Arbeit definiert. Neben diesen „Orientierungsbegriffen des Analyserasters“ (47) wird noch auf weitere Begriffe eingegangen, die für das Verständnis des theoretischen Werks Moholy-Nagys und für die weitere Analyse dieser Studie relevant sind: Historische Avantgarde, (Neu-)Humanismus.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der pädagogischen Kunsttheorie László Moholy-Nagys. Clemens Bach betont, dass Moholy-Nagys theoretisches Werk nicht nur eine eklektizistische Uminterpretation der verwendeten Referenzquellen bedeutet, sondern dessen – vor allem (kunst-)theoretische – Schriften selbst einen eklektizistischen Zugang zu verschiedenen Disziplinen darstellt und diese in gewissem Umfang umdeutet. Moholy-Nagys Werk könne von Anfang an als ein die Pädagogik mitdenkendes Werk betrachtet werden; wenn dies in dessen frühen Schriften auch noch nicht explizit in dieser Weise angedacht sei, werde dort doch schon die Grundlage für die späteren Schriften gelegt, in denen dann genuin pädagogische Begrifflichkeiten verwendet werden. Als grundlegende pädagogische und für die Ästhetische Bildung relevante Orientierung im Werk Moholy-Nagys könne gesehen werden, dass der Mensch bei ihm zum „produzierenden Schöpfer“ (80) wird, der durch sein (Kunst-)Werk moralische Werte transportiert und damit andere Menschen, Gesellschaft und Politik beeinflussen und zu Veränderungen führen kann. Daran lässt sich Friedrich Schillers Theorie der Ästhetischen Bildung und Erziehung (Kapitel 3) anschließen, die vor allem theoretisierend den Menschen dazu aufruft, sich aisthetisch mit der Welt auseinanderzusetzen und einen ästhetischen Staat „als Grundlage für die Freiheit und somit die Verwirklichung des Ideals des Menschen“ (213) zu begründen. Auf die Strukturverwandtschaften zwischen Moholy-Nagy und Schiller (421) geht Bach erst im Unterkapitel 5.2 ein, obwohl Schiller als eine der Hauptreferenzen gilt bzw. genannt wird. Der Bezug und die Rezeption der Referenzquellen und wie Moholy-Nagy diese verwendet hat, wird in Kapitel 4 von Bach dargestellt.
Einen Großteil der Arbeit nimmt die „historische Rekonstruktion der Referenzquellen“ (229–417) ein, die vor allem ein Abbild des damaligen politischen, ästhetischen und pädagogischen Diskurses der marxistisch-anarchistisch orientierten Künstleravantgarde und des Bauhausumfeldes darstellen. Bach rekonstruiert hier die verschiedenen Quellen hinsichtlich „Uminterpretationen und Neukontextualisierungen“ (231). Die Referenzquellen Moholy-Nagys sind vielfältig, und Bach betont, dass sich nicht alle explizit auf Schiller oder den Neuhumanismus beziehen, jedoch zu einem Konzept des kinetischen Konstruktivismus führen, wie Moholy-Nagy es in seinen Kunstwerken und Schriften entworfen hat und das Bach nun durch den Begriff des Neuhumanismus ergänzt.
Die Referenzquellen werden oder können hier u.a. der `Reformpädagogik´ / Lebensreformbewegung / Kunsterziehungsbewegung (Pestalozzi, Fröbel, Jacoby, Jacques-Dalcroze, Appia, Parkhurst, Natter, Montessori, Lietz, Wyneken, Cicek, Lichtwark), dem Marxismus / Anarchismus (Lukás, Bloch, Kropotkin, Bakunin), Monismus / Tektologie / Biosophie (Bogdanow, Marquis von Posa, Fuhrmann, Francé) und dem ungarischen und russischen Konstruktivismus / De Stijl / Dadaismus / Bauhaus zugeordnet werden.
Im letzten Kapitel wird der kinetisch konstruktive Neuhumanismus, den Bach „als ein bedeutendes Charakteristikum der pädagogischen Kunsttheorie Moholy-Nagys“ (419) betrachtet, aus den Ergebnissen der erfolgten Analysen zur pädagogischen Kunsttheorie Moholy-Nagys, zur Theorie der Ästhetischen Bildung und Erziehung nach Schiller und aus der historischen Rekonstruktion der Referenzquellen Moholy-Nagys begründet und konkretisiert.
Der Autor zeigt mit der vorgelegten Studie zur pädagogischen Kunsttheorie von László Moholy-Nagy, dass es zum einen im 20. Jahrhundert noch einige Autor:innen gibt, die zu wenig Beachtung erfahren haben, was vor allem für die Zeit zwischen 1933-1945 zutrifft. Zum anderen zeigt die Arbeit, dass Moholy-Nagy nicht nur für die Bauhaus- sowie die kunsthistorische und -theoretische Forschung relevant ist, sondern mit seiner kinetisch konstruktiven Kunstidee ebenso als kunstpädagogische Bezugsquelle von Bedeutung ist. Durch die umfassende Quellenarbeit konnten viele Bezugspunkte Moholy-Nagys und dessen inter- und transdisziplinäre Denkweise aufgezeigt werden.
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Referenzquellen Moholy-Nagys wird allerdings die Frage aufgeworfen, ob es sich bei ihm vor allem um einen (kinetisch) konstruktiven Neuhumanismus handelt oder ob sich doch noch andere Zuordnungsmöglichkeiten ergeben könnten; dies etwa im Sinn einer kinetisch konstruktive Kunsttheorie, die sich unter anderem in seinem Bewegungsverständnis auf (reform-)pädagogische Elemente bezieht. Die Studie bietet einen erweiterten Blick auf die Geschichte der Ästhetischen Bildung im 20. Jahrhundert und ergänzt vorhandene Studien zur Bauhauspädagogik.
EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)
Pädagogik, Kunst und kritischer Neuhumanismus
Lázló Moholy-Nagy zwischen Friedrich Schiller und einer Ästhetik der Moderne
Paderborn: Brill Schöningh 2021
(520 S.; ISBN 978-3-506-79107-8; 99,00 EUR)
Diana Lohwasser (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Diana Lohwasser: Rezension von: Bach, Clemens: Pädagogik, Kunst und kritischer Neuhumanismus, LázlĂł Moholy-Nagy zwischen Friedrich Schiller und einer Ă„sthetik der Moderne. Paderborn: Brill Schöningh 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350679107.html
Diana Lohwasser: Rezension von: Bach, Clemens: Pädagogik, Kunst und kritischer Neuhumanismus, LázlĂł Moholy-Nagy zwischen Friedrich Schiller und einer Ă„sthetik der Moderne. Paderborn: Brill Schöningh 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350679107.html