Gott ist schon des Öfteren für tot erklärt worden; doch bisher haben sich alle Todesanzeigen als verfrüht erwiesen. Es ist, als solle sich der Alltagsspruch, dass Totgesagte besonders lange leben, eindrucksvoll bewahrheiten, auch wenn wir wissen, dass Totgesagte schließlich doch sterben wie alle anderen auch. Ob es sich mit Gott ebenso verhält oder ob er uns gegen alle Voraussagen eben doch erhalten bleibt, wenigstens für diejenigen, die ihn nicht entbehren können und ihm die Treue halten, das lässt sich kaum endgültig beurteilen. Nicht zu bezweifeln aber ist dies: Es ist eine Kultur ohne Gott entstanden, vor allem in Europa, weniger in Amerika und anderen Teilen der Welt, gewissermaßen die „Stadt ohne Gott“, wie sie Harvey Cox genannt hat [1]. Sie kommt ganz gut ohne Gott zurecht und bewahrt ihm bestenfalls noch eine duldsam-respektvolle Erinnerung. Oder wie es in einer Glosse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Juli dieses Jahres heißt: „Der Glaube verdunstet“.
Angesichts dieser Lage mag die Frage nach der Einheit und Differenz von Bildung und Religion obsolet erscheinen, der die hier vorgelegten Studien von Dietrich Benner gewidmet sind. Denn auch dem, was entgegen dem gegenwärtigen inflationären Gebrauch des Wortes herkömmlich unter Bildung zu verstehen wäre, scheint es nicht viel besser zu ergehen. Auch sie, so sieht es aus, verdunstet und ist zu einer exklusiv privaten Angelegenheit geworden. Vielleicht ja gerade deshalb, weil ihr Religion als Partner und Kontrahent abhandengekommen ist.
Auf welche Weise indes Religion und Bildung aufeinander verweisen und miteinander sowohl verbunden wie auch voneinander zu unterscheiden sind, das zeigen Benners Studien eindrücklich und in überzeugender Differenziertheit. Insgesamt geht es um neun Beiträge, die über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren entstanden sind. Im ersten Teil werden grundsätzlich die „Beziehungen zwischen Erziehung, Bildung und Religion“ (15–78) behandelt, während im zweiten Teil eher aktuelle Beiträge zur „Begründung von Religionsunterricht als Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen“ (79–141) versammelt sind. Damit ist der Themenkreis dieser Studien vorgezeichnet.
Der Ausgangspunkt aller Einzeluntersuchungen findet sich in der These, die im Untertitel ausgesprochen ist: Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren. In der Einleitung wird das näher erläutert: „Die These will nicht als Doktrin einer spekulativen Theologie verstanden werden […], sondern schließt an den pädagogischen Begriff der Bildsamkeit und den theologischen Begriff einer göttlichen Ebenbildlichkeit des Menschen an“ (7). Tatsächlich knüpft Benner an die in seiner „Allgemeinen Pädagogik“ [2] vorgetragenen Lehre von Bildsamkeit und Aufforderung zur Selbsttätigkeit als den die Erziehung tragenden Prinzipien an, durch die das Erziehen als eine spezifische Praxis ermöglicht wird und sich damit ebenbürtig und gleichgewichtig in den Kreis der basalen Lebenspraxen wie dem Recht und der Kunst, der Arbeit und der Politik und eben auch der Religion stellt. Die konkreten Gestalten der Erziehung und der Bildung ergeben sich aus der Interaktion der verschiedenen Praxen, hier also dem Verhältnis von Erziehung und Religion.
Damit das Verhältnis angemessen artikuliert werden kann, ist es erforderlich, dass über das Imago-Dei-Konzept hinaus angegeben wird, worin das „Proprium religiösen Handelns“ (19f) besteht. Benner sieht es fundiert in der „Endlichkeit des Menschen“ (19), durch die die Religionen eine „eigene Reflexions- und Praxisperspektive“ gewinnen, die ihrerseits „in alle anderen Praxisbereiche hineinspielt“ (ebd.). Allerdings nicht so, dass Religion die anderen Praxen regiert, sondern gleichsam begleitet. Dazu beruft sich Benner auf Schleiermachers in den „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von 1799 vorgetragene Auffassung, dass Religion sich in dem „Geschmack für das Unendliche“ zeigt (und zugleich in dem „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“). Der Gedanke ist: Das Unendliche ist der Grund des Endlichen, und die Anschauung des Unendlichen ist der Punkt, hinter den nicht zurückgegangen werden kann. Daraus ergibt sich für Schleiermacher der merkwürdige und für viele Anhänger des Christentums, aber auch aller anderen Religionen vermutlich befremdliche Gedanke, dass Religion selber nicht direkt zum Handeln führt. „Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten“ (Schleiermacher 1799: 68). Daraus ergibt sich des Weiteren, dass Religion uns dazu verhilft, alles, was wir in den verschiedenen Praxen tun und anstellen, „nicht aus Religion, sondern mit Religion“ zu betreiben, auch die Bildung des Menschen. Die Konsequenz und zugleich die Botschaft an die Gebildeten ist: Bildung (wie auch Recht, Wissenschaft, Kunst usw.) konstituiert sich selbständig und kann dadurch in ein freies Verhältnis zur Religion treten.
Unter diesen Vorgaben ist ein Religionsunterricht vorstellbar, der einerseits den immer schon vorhandenen Geschmack fürs Unendliche artikuliert und sich doch andererseits von den Fundamentalismen bestimmter Religionen und Konfessionen freihält. Es geht, anders gewendet, um Religiosität, nicht um die Erziehung zu und in einer bestimmten Religion oder Konfession. Die Bildungsaufgabe abstrahiert von dem, was eigentlich immer auch zu einem gelebten Glauben gehört: nämlich dem Kultus, über den vor aller Reflexion das religiöse Bewusstsein geprägt wird. Insofern beruht die „Transformation religiöser Praktiken und Glaubensinhalte in Gegenstände unterrichtlicher Lehr-Lernprozesse“ (23) auf einer Reduktion der primären Religionspraxis. Im Religionsunterricht wird nicht die frohe Botschaft verkündigt, es wird nicht gebetet und es werden auch keine Choräle für den Gottesdienst eingeübt. Gleichwohl kann der auf Bildung abgestellte Unterricht nicht auf das große Narrativ von Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Parusie verzichten, noch weniger auf Praktiken und Gewohnheiten der „Einübung im Christentum“ (Kierkegaard), sondern setzt sie als Hintergrundfüllung für die Bildung eines reflektierten Religionsverständnisses voraus. Dazu beruft sich Benner auf Rousseau: „Wo es keine Religion der Väter mehr gibt, da ist religiöse Bildung kaum noch möglich. Ihr Fehlen kann durch Unterricht generell und durch Religionsunterricht im Besonderen nur innerhalb enger Grenzen kompensiert werden. Eine religiöse Förderung religiöser Lernprozesse kann nur gelingen, wenn Religion wieder stärker die Gestalt einer intergenerationellen Praxis annimmt, die innerhalb und außerhalb der Religionsgemeinschaften und Kirchen praktiziert und reflektiert wird“ (24f).
Als der genuine Ort dieser „intergenerationellen Praxis“ (75) dürfte nach wie vor zuerst und vor allem die Familie in Betracht kommen. Das Missliche dabei ist nicht nur, dass diese Praxis in den Familien deutlich auf dem Rückzug ist, sondern dass sie, soweit sie noch in traditioneller Weise geübt wird, in der Regel eine bestimmte, andere Religionsformen ausschließende Praxis ist. Das verträgt sich aber nicht ohne weiteres mit Bildungsintentionen, die sich auf Religion generell beziehen und damit auch keineswegs eine bestimmte überlieferte Gestalt ins Auge fassen, sondern – mit Schleiermacher zu reden – eine Vielfalt von Geschmacksrichtungen thematisieren.
In dem Beitrag über „Erziehung und Tradierung“ (60–78) befasst sich Benner angesichts des Tatbestands, dass wir es in der Moderne mit erheblichen Traditionsverlusten zu tun haben, mit der Möglichkeit einer „innovatorischen Tradierung“ und prüft ihre Chancen im religiösen Bereich. „Auf Erwachsene, die selber keine religiösen Umgangsformen mehr tradiert und entwickelt haben, ist inzwischen eine nachwachsende Generation gefolgt, die zu religiösen Traditionen in keinerlei Umgangsverhältnis mehr steht“ (75). Für die Erziehung ergibt sich daraus „die schwierige Aufgabe, lebensweltliche Defizite zu kompensieren und bei Heranwachsenden und Erwachsenen fehlende Erfahrungen durch eine nachholende Sozialisierung zu ermöglichen“ (76). Wie das allerdings bewerkstelligt werden kann, bleibt bei Benner in der Schwebe. Wenn „erziehender Unterricht […] Erfahrung und Umgang nur erweitern [kann], wo er an alltägliche Welterfahrung und zwischenmenschlichen Umgang anschließen kann“, stellt sich die Frage, „wie sich in die intergenerationelle Praxis zurück holen [lässt], was in dieser selbst nicht mehr präsent ist“ (76). Die zwingende Antwort wird von Benner nicht ausgesprochen; doch sie liegt auf der Hand: Die anvisierte „nachholende Sozialisation“ ist durch schulischen Unterricht nicht zu leisten.
Die fünf Beiträge des zweiten Teils zur „Begründung von Religionsunterricht als Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen“ (81-141) nehmen die allgemeinen Gesichtspunkte, die im ersten Teil entwickelt worden sind, noch einmal auf und spezifizieren sie in Hinsicht auf aktuelle Fragestellungen der inhaltlichen Gestaltung und Verortung des Religionsunterrichts. Dabei verdanken sich die Themen besonderen Anlässen, wie der Abgrenzung gegenüber dem Unterrichtsfach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (L.E.R.) und der Etablierung des neuen Unterrichtsfaches „Religion und Kultur“ im Schweizer Kanton Zürich. Von besonderem Interesse dürften die Überlegungen über die „Öffentlichkeit der Schule und die Öffentlichkeit der Religion“ sein (127ff). Die maßgebende Einsicht ist, „dass es Gemeinsames, über das kommuniziert wird, nur dort gibt, wo es auch Privates gibt, Privates aber so gelebt und ausgeübt wird, dass es sich nicht in Gänze öffentlich zeigt“ (134). Das gilt zum Beispiel für die Liebe und mutatis mutandis auch für Religion. Die öffentliche Darstellung von Religion braucht ein gleichsam intimes Verhältnis zum Glauben als dessen Grundlage. Soweit und solange diese Grundlage gegeben ist und vorausgesetzt werden kann, gehört es zu den Aufgaben des öffentlichen Unterrichts, die Darstellung von Religion reflexiv zu thematisieren. Dabei ist beides festzuhalten: die Übereinstimmung und die Differenz von Glaubenspraxis und Unterrichtspraxis. „Im öffentlichen Religionsunterricht ist […] die Thematisierung der Taufe nur erlaubt, wenn im Unterricht selbst niemand getauft oder verheiratet wird. […] Nur bei Anerkennung dieser Differenz kann schulischer Religionsunterricht fruchtbare Beziehungen zwischen der Öffentlichkeit der öffentlichen Schule und der Öffentlichkeit von Religion stärken und unterstützen“ (141).
Es ist anzunehmen, dass diese wechselseitige Positionsbestimmung sowohl von den etablierten Glaubensgemeinschaften christlicher Provenienz wie von der Religionsdidaktik akzeptiert werden. Ganz anders dürfte sich die Lage allerdings darstellen, wenn man den Blick auf jene Religionen richtet, die inzwischen zum Beispiel mit dem Islam in den öffentlichen Raum Einzug gehalten haben und Unterscheidungen fremd gegenüber stehen, die sich der spezifisch europäischen Aufklärung verdanken. Wie dann das Verhältnis von öffentlicher Erziehung und Religion zu bestimmen sein wird, ist eine Aufgabe, die die Pädagogik noch vor sich hat.
[1] Cox, H. G.: Stadt ohne Gott? 6. Aufl. Stuttgart / Berlin: Kreuz-Verlag 1971.
[2] Benner, D.: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 7. Aufl. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2012.
EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)
Bildung und Religion
Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren
Paderborn: Schöningh 2014
(150 S.; ISBN 978-3-506-77994-6; 24,90 EUR)
Klaus Prange (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus Prange: Rezension von: Benner, Dietrich: Bildung und Religion, Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren. Paderborn: Schöningh 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677994.html
Klaus Prange: Rezension von: Benner, Dietrich: Bildung und Religion, Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren. Paderborn: Schöningh 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677994.html