EWR 15 (2016), Nr. 1 (Januar/Februar)

Hans-Christoph Koller / Rita Casale / Norbert Ricken (Hrsg.)
Heterogenität
Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts
Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014
(242 S.; ISBN 978-3-506-77837-6; 29,90 EUR)
Heterogenität Es wirkt bisweilen ironisch und bedarf gleichwohl keiner gesonderten Erwähnung, dass die inzwischen zur Zauberformel avancierte Kategorie „Heterogenität“ im kurrenten pädagogischen Diskurs selbst heterogen geworden scheint: „Heterogenität bringt Heterogenes scheinbar unter einen begrifflichen Hut“ (105), stellen Mecheril und Vorrink stellvertretend für ein gros der am vorliegenden Sammelband beteiligten Autor_innen fest. Vor diesem Hintergrund versammelt der Band Einsätze, die sich angesichts solcher Unschärferelationen und Konstitutionsprobleme des „catch-all“-Begriffs um klärende Differenzierung bemühen.

Hans-Christoph Koller führt in seiner Einleitung mehrere Fragehorizonte ins Feld, entlang derer Beschäftigungsstränge des Begriffs Heterogenität verlaufen. Konstitutiv für eine Verständnisbestimmung sei mit Koller vor allem, dass es sich um einen relationalen Begriff handle, der die Verhältnisbestimmung entgegen sinnverwandter Begriffe wie Verschiedenheit und Differenz zwischen mehreren Merkmalen einer bestimmten Menge oder (Lern-)Gruppe situiere. Wie diese Merkmale allerdings systematisch bestimmbar seien, bleibe meist ebenso häufig im Dunkeln wie die Frage, wie sich diese z.B. unter dem Aspekt der Intersektionalität zueinander verhielten. Weitgehend unreflektiert sei deshalb auch, wie das Phänomen Heterogenität in einem pädagogisch-normativen Verständnishorizont einzuordnen sei, der den „angemessenen“ Umgang mit Heterogenität in den Blick nimmt. Mehr als eine bloße Modeerscheinung dürfte das Phänomen Koller zufolge mit grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen (z.B. Pluralisierungstendenzen) verschränkt sein.

Mit ihrem Beitrag Heterogenität – Bedeutungsdimensionen eines Begriffs widmet sich Katharina Walgenbach im Modus einer Literaturumschau dem Versuch einer Verortung und diskursiven Verwendung des Begriffs in der letzten Dekade. Dabei setzt ihre Analyse im Verhältnis zu den Bedeutungsdimensionen des Differenzbegriffs an, um die Frage zu stellen, inwieweit die konjunkturelle Rede von Heterogenität in der Lage ist, Probleme des Differenzbegriffs (z.B. Gefahren einer Essentialisierung, Kategorisierung oder Kulturalisierung) zu transformieren. Walgenbach legt vier (nicht trennscharfe) Bedeutungsdimensionen dar und erläutert, dass sich innerhalb jener Dimensionen in den letzten Jahren Weiterentwicklungen ergeben hätten, das Problem der Polysemie der Dimensionen, welche teilweise selbst (radikal) heterogen zueinander stünden, jedoch nach wie vor gegeben sei, zumal das Begriffsfeld „Heterogenität“ auf keine gemeinsame Prämissen der scientific community zurückgreifen könne.

In Heterogenität oder Lesarten von Gleichheit und Freiheit geht Annedore Prengel der Frage nach, welcher Bedeutung das Konstrukt Heterogenität im Bereich der Bildung sowohl in normativer als auch in deskriptiver Weise zukomme. Ausgehend von geometrisch inspirierten Reflexionen zur etymologischen Herkunft des Begriffs setzt Prengel den Terminus Heterogenität als hierarchiekritisches und demokratierelevantes Theorem. Damit bestimmt sie auf Basis einer Perspektivierung von Gleichheit unterschiedliche Dimensionen, die dem Heterogenitätsbegriff inhärent seien und verweist v.a. darauf, dass ein komplex gedachter Begriff von Heterogenität als Unbestimmbares einer identifizierend-empiristischen Erklärung von Wirklichkeit diametral entgegenstehe. Am Ende ihres Beitrags wäre es wünschenswert gewesen, eine differenzierte Rezeption kritischer Perspektiven auf den Heterogenitätsbegriff zu leisten, anstatt alte Grabenkämpfe um die Kritik an der Kritik wieder aufflammen zu lassen.

Mechtild Gomolla reflektiert in ihrem Beitrag „Heterogenität“ als institutionelles Entwicklungsfeld im Schul- und Vorschulbereich Nancy Frasers Gerechtigkeitstheorie ausgehend von einer systematischen Analyse des Heterogenitätsbegriffs in neueren bildungswissenschaftlichen Diskursen mit Fokus auf Migration, Gender und Inklusion. Auch wenn Gomolla Fraser eine Nähe zu transformativen Ansätzen zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten attestiert, nimmt sie dennoch Frasers gemäßigten Versuch des Mittelwegs zwischen affirmativen und transformativen Ansätzen auf, um konkrete Ungerechtigkeiten mehrdimensional bearbeiten zu können. Zudem wird dieser theoretische Rahmen auf konkrete empirische Projekte bezogen, in denen sich Dimensionen von Gerechtigkeit sichtbar machen lassen. Allerdings bleiben die Systematik und Stoßrichtung des Beitrags bisweilen etwas unklar.

In gewohnt systematischer Weise analysieren Paul Mecheril und Andrea Vorrink in ihrem Beitrag Heterogenität. Sondierung einer (schul-)pädagogischen Gemengelage erziehungswissenschaftliche Diskurse hinsichtlich der Frage, wie im Kontext der Institution Schule der Begriff der Heterogenität verwendet wird. Dabei werden diskursanalytisch drei Stränge eines identitätspolitischen Heterogenitätsverständnis herausgearbeitet. Schule sei kein sozialer Raum, der von essentialistisch geformten Schüler_innenkörpern besetzt werde, sondern stelle vielmehr einen Raum sozialer Praktiken dar, in dem bestimmte Schemata von Normalität und Devianz erst von allen Beteiligten hervorgebracht würden. In diesem Verständnis von Heterogenität müsse vor allem die hegemoniale Funktion von Schule selbst Gegenstand einer gesellschaftstheoretisch informierten Kritik sein.

Barbara Rendtorff entwirft in ihrem pamphletartigen Beitrag Heterogenität und Differenz – Über die Banalisierung von Begriffen und den Verlust ihrer Produktivität eine „doppelte These“, die reziprok aufeinander verweist: Einerseits komme es in der aktuellen Debatte um den aus ihrer skeptischen Sicht inflationär verwendeten Begriff zunehmend zu einer Trivialisierung desselben, andererseits erlaube es der Gebrauch eines solchen „Plastikwortes“ hinterrücks und stets aufs Neue, gruppenbezogene und damit komparatistische Sortierungskategorien zu reproduzieren, die mit ihm gerade unterlaufen werden sollten. Insofern liegt es Rendtorff zufolge nahe, dass mit dem raumgreifenden Gebrauch des Begriffs eher eine sozialpolitische Container-Funktion einhergehe: Es sei eine triviale Feststellung, dass Menschen „uneinholbar und unvereinbar verschieden“ (117) sind. Eine nivellierende Verwendung des Begriffs Heterogenität in einer Engführung auf gruppenbezogene Unterschiede verspiele insofern die Potenzialität für Problemfelder wie Alterität, Differenz und Verstrickung.

In ihrer machttheoretischen Analyse Heterogenität als neue Normalität destilliert Nadine Rose drei Formen der Theatralisierung des Diskurses im Sprechen über Heterogenität heraus. Effekt dieser Machtwirkungen sei eine zunehmende Entsolidarisierung innerhalb bestimmter Personengruppen, wie auch eine zunehmende Entpolitisierung des Diskurses um Differenz. So könnten mit Ungerechtigkeiten verbundene Problemlagen, ganz einer neoliberalen Tradition folgend, dem einzelnen Individuum zu Lasten gelegt werden, weil der Blick auf die immanent politische Bestimmung und Verwendung von Heterogenität verschleiert wird. Auch wenn Roses Überlegungen fraglos Problematiken im Sprechen über und mit Heterogenität aufzeigen, bleibt offen, worin mögliche Momente der Entschärfung dieser Problemlagen aus einer machttheoretisch inspirierten, pädagogischen Perspektive liegen. Was bedeutet diese Analyse für schul- und bildungspolitische Diskurse: Abschaffung des Begriffs? Andere Begriffe? Oder vielmehr ein pädagogisch verstandenes „Und trotzdem“?

In ihrem Beitrag Heterogenität – zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts? unternehmen Kerstin Jergus, Jens Oliver Krüger und Sabrina Schenk eine dekonstruktive Perspektivierung pädagogischer Artikulationen über den Heterogenitätsbegriff. Dazu bedienen sie sich diskursiver Figuren von Heterogenität in einschlägigen pädagogischen Nachschlagewerken, um diese darauf zu befragen, welche Verhandlungsarten des „Signifikanten „Heterogenität“ […] das diskursive Terrain des Pädagogischen“ (155) abstecken und welche hegemonialen Einsätze in solchen Redeweisen über den Begriff installiert würden. Sie konstatieren, dass der Artikulationsmodus von Heterogenität häufig mit nicht systematisch hinterfragten Voraussetzungen eines dualistischen Verhältnisses von Homogenität und Heterogenität operiere, der die Feststellbarkeit des Konstrukts im pädagogischen Feld über präskriptive Setzungen jedoch allererst ermöglicht. Damit gelingt den Autor_innen ein überzeugender, erkenntnispolitischer Blick auf die Konjunktur des Heterogenitätsbegriffs im rezenten pädagogischen Diskurs, der dort in seiner paradoxen und gerade insofern heilsversprechenden Aufgabenhaftigkeit prozessiert.

In Beyond Diversity? Umgangsweisen mit Vielfalt zwischen Akzeptanz und Ignoranz sucht Sandra Smykalla diskursanalytisch unterschiedliche Kontexte der Diskursivierung von Diversity im öffentlichen Raum zu klassifizieren. Smykalla ruft über die Nutzung dekonstruktiver Perspektiven eine Figur der Ambivalenz (173) auf, die sie mit Butler als eine der Subjektkonstitution innewohnende Ambivalenz ausmacht. Gerade der Dekonstruktion als Praxis der Kritik gelinge es, ein bedeutungsoffenes, uneindeutiges Subjekt zu imaginieren, das sich nicht auf essentialistische Festschreibungen rückführen ließe. Smykalla leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Frage, wie eine machtkritische Thematisierung der Problemlagen rund um den Topos Vielfalt möglich ist, ohne in einer bloß verneinenden Geste zu verharren.

Kirsten Puhr und Teresa Budach widmen sich in ihrem Beitrag Anerkennung und Chancengerechtigkeit den normativen Implikationen des Konzepts Heterogenität in der Inklusions- sowie Interkulturellen Pädagogik. Die Autor_innen legen einen engagierten Versuch vor, diesbezügliche Problemfelder aus jeweils zwei theoretischen Ansätzen heraus ins Blickfeld zu rücken. Aus einer allgemeinpädagogischen Perspektive wirft der Beitrag die Frage auf, welche disziplinpolitischen Strategien über Labeling und das Bilden von Subdisziplinen verfolgt werden. So stellt sich nach der Lektüre einmal mehr die Frage, was gewonnen wird, wenn die pädagogische Disziplin in scheinbar heterogene Unterdisziplinen zerfällt; und damit verloren geht, dass es bestimmte Modi des Denkens sind, die erziehungswissenschaftliche Einsätze im sozialen Feld auszeichnen.

Ralf Mayers Beitrag Produktivitäten von Heterogenität macht die sozialphilosophisch motivierte Figur des Dritten zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, um von dort aus kritische Blicke auf Fragen des Subjektiven, des Sozialen und des Politischen zu werfen. Dabei geht es Mayer insbesondere um Paradoxien, die der Figur der Heterogenität eingeschrieben sind. So zeigt er mit Derrida und Vogl auf staatstheoretischem Terrain auf, inwiefern die Inauguration eines Staates immer schon einer imaginären „Gründungsfigur“ als verbindendem Dritten bedarf, welche über die dyadischen Beziehungen der ursprünglich heterogenen Elemente hinausgeht und ein „Wir“-Bewusstsein installiert, welches sich als performativer Akt verstehen lässt. Die ursprüngliche Heterogenität müsse insofern in einem – eigentlich abgründig geteilten – Raum iterativ kaschiert werden und insistiere dennoch beständig fort. Jene Grundlosigkeit eines „Wir“ macht Mayer schließlich auch mit Butler im Subjekt selbst fest. In einem weitergehenden Schritt gelingt es ihm zu veranschaulichen, inwiefern im aktuellen bildungspolitischen Diskurs um Chancen(un)gleichheit und Teilhabe die imaginäre Vorstellung einer Berücksichtigung „individueller Subjektivität“ über einen sozial-normativen Raum des Dritten situiert wird.

Michael Wimmer schlägt mit seinem abschließenden Beitrag Vergessen wir nicht: den Anderen! den Bogen zurück zu einer kritisch-engagierten Arbeit am Begriff, wie sie auch bei Koller und Walgenbach geleistet wurde. Dabei dreht sich sein Einsatz weniger um eine systematisch-kategoriale Verhandlung als eine wissenschaftsethisch-sensibilisierende „Mahnung“ an den zeitgenössischen Diskurs der Bildungswissenschaft. Der Autor bringt die vergessene Problematik der Differenzierung zwischen relativer und radikaler Differenz über die Figur des (irreduziblen) Anderen ins Spiel, um diese verabsäumte Komplexitätsproblematik in der Diskussion um den Terminus zu unterstreichen. Er weist insofern im Lichte alteritätstheoretischer Herausforderungen darauf hin, dass und wie im Gespräch um Heterogenität in der Bildungswissenschaft eben nicht die Ebene einer (komparativen) Andersheit die Basis bilden sollte, auf der radikale Vielfalt kategorial verhandelt werden kann.

Insgesamt liegt mit diesem Sammelband ein fundierter Versuch vor, v.a. die diskursiven Voraussetzungen der „Zauberformel Heterogenität“ auf Irritationen zu befragen. Dabei werden die vielschichtigen und oft selbst heterogenen Diskursarten auf subjekt- und machttheoretische Implikationen hin geprüft. So wird etwa deutlich, inwiefern Heterogenität im jüngeren pädagogischen Diskurs bedenkliche Normalisierungstendenzen generiert, welche den Kernbegriff des Bandes häufig zu einem politischen Plastikwort / umbrella term degenerieren lässt. An dieser Stelle klären die Beiträge luzide auf, wie es um die „Konjunktur eines pädagogischen Konzepts“ bestellt ist. Gleichsam kann diese Fokussierung aber auch als eine Schwäche des Werkes ausgewiesen werden, da viele Beiträge an jenem Anspruch einer erkenntnistheoretischen, -politischen oder diskurstheoretischen Herangehensweise Maß nehmen, so dass andere, z.B. historisch-soziologische Einsätze, unbeachtet bleiben. Etwas mehr Mut zur semantischen, aber auch perspektivischen Heterogenität hätte dem ansonsten gelungenen Werk gut getan.
Valentin Rumpf / Susanne Tschida (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Valentin Rumpf / Susanne Tschida: Rezension von: Koller, Hans-Christoph / Casale, Rita / Ricken, Norbert (Hg.): Heterogenität, Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677837.html