‚Das Private ist politisch’ lautete eine Parole der zweiten Frauenbewegung, womit der Zusammenhang von persönlichen Erfahrungen und der Gestaltung bzw. Veränderung gesellschaftlicher (Geschlechter-)Verhältnisse zur Diskussion gestellt wurde. Das Politische – so der entscheidende Einspruch der Aktivistinnen gegenüber einem weit verbreiteten Verständnis von der Getrenntheit biographischer Erfahrungen und politischem Engagement – sei nicht das ganz Andere zur Praxis der Einzelnen. In einer poststrukturalistisch form(ul)ierten Übersetzung dieser Parole könnten wir heute sagen, dass damit das Zusammenspiel von Praktiken und Normen, also die Frage der Subjektivierung in der gesellschaftlichen Ordnung aufgerufen ist. Was hier nun aber ‚Kritik’ oder ‚Veränderung’ in Bezug auf eigene Praktiken ebenso wie gesellschaftliche Normen und (Macht-)Verhältnisse heißen kann, muss im Kontext aktueller Problemlagen neuerlich bedacht werden und berührt nicht nur das Politische, sondern auch die Bildung. Damit ist ein Fragenkomplex angesprochen, zu dem das vorliegende Buch von Carsten Bünger einen äußerst lesenswerten Beitrag bereithält. Ausgehend vom gegenwärtigen ‚Bildungsgerede’ diskutiert er den Stellenwert des Politischen im bildungstheoretischen Problemhorizont und nimmt darüber hinaus einen weiteren für das Bildungsdenken zentralen, wenngleich nicht unumstrittenen Begriff in die Auseinandersetzung auf, um ihn einer kritischen Relektüre zu unterziehen: jenen der Mündigkeit.
In seinen Untersuchungen zur Politizität der Bildung setzt sich Carsten Bünger zentral mit der sozialen Bedingtheit der Subjektivierung in Beziehung zur Veränderbarkeit der sozialen Ordnung auseinander und bezieht diese Überlegungen in philosophisch-theoretischer Perspektive auf Bildung. Es geht in diesen Studien zur Politizität der Bildung also weniger um Bildungspolitik oder politische Bildung – im Unterschied zu einer ohne Kompositum oder Attribuierung scheinbar apolitischen oder dem Politischen entgegenzusetzenden Bildung. Bünger vertritt vielmehr die These, dass „das Politische nicht als äußere Bedingung der Bildung gegenübertritt, sondern ein für Bildungsprozesse konstitutives Moment kennzeichnet“ (17). Die Diskussion eben dieser These ist im vorliegenden Band verbunden mit einer engagierten Suchbewegung nach Möglichkeiten kritische, verändernde Verhältnisse zu den gegebenen Selbst-, Welt- und Anderen-Verhältnissen zu artikulieren, ohne dass ein – vermeintlich – souveräner Standpunkt oder Maßstab in Anspruch genommen wird.
Das Buch ist in zwei Abschnitte gegliedert, „Explikationen – Denkfiguren einer politischen Dimension von Bildung“ und „Transpositionen – Die Politizität der Bildung und die Frage nach Mündigkeit“, die wiederum in jeweils zwei Kapitel unterteilt sind. Nach einem Problemaufriss in der Einleitung untersucht Bünger im ersten Abschnitt „bildungstheoretische Relationierungen von Bildung und Politischem“ (Kapitel 1); diese Studien führt er im zweiten Kapitel zusammen. Der zweite Abschnitt widmet sich der „Un-Möglichkeit der Mündigkeit“ (Kapitel 3) und „Assoziationen von Bildung und Demokratie“ (Kapitel 4).
Zunächst geht Bünger im ersten – gegenüber dem zweiten umfangreicheren – Abschnitt dem konstitutiven ‚politischen Moment’ der Bildung in drei Teilstudien zeitgenössischer bildungstheoretischer Texte bei Heinz-Joachim Heydorn, Gernot Koneffke, Roland Reichenbach und Alfred Schäfer nach. Mit diesen sorgfältigen Rekonstruktionen führt der Autor sehr differenziert den für die weiteren Untersuchungen grundlegenden bildungs-, aber auch subjekt- bzw. teilweise gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmen ein. Der zweite Abschnitt fokussiert die Frage nach der Politizität der Bildung in Auseinandersetzung mit der für den Band titelgebenden „offenen Frage der Mündigkeit“ und einem „demokratischen Moment“ als Bezugspunkt für die Veränderbarkeit der sozialen Ordnung (172).
Die erste „Denkfigur“ einer politischen Dimension von Bildung (29) nimmt der Autor aus der Kritischen Bildungstheorie auf: Das von Heinz-Joachim Heydorn und Gernot Koneffke entwickelte Denken eines Widerspruchs von Bildung und Herrschaft. Bünger verdichtet diese Lektüre sehr präzise auf die „doppelte Politizität“ (67) der Bildung hin, die in den dialektischen Zugängen der beiden Referenzautoren ihren Ausdruck finde. Vor dem Hintergrund einer kenntnisreichen und differenzierten Auseinandersetzung rekonstruiert Bünger, inwiefern im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft Bildung funktional auf die gesellschaftliche Ordnung bezogen ist und zugleich Spielräume für Kritik entstehen, wobei sich die Politizität bei Heydorn und Koneffke vorrangig als (Selbst-)Kritik der Vernunft erweise und damit die Subjekte noch als mögliche ‚vernünftige Instanz’ gefasst sind. Eine kritische Einschätzung dieser Denkfigur – insbesondere der „impliziten Teleologie“ Kritischer Bildungstheorie – nimmt Bünger im späteren Verlauf der Untersuchung vor, womit die weiterführende Analyse zwar für die Leserin/den Leser zunächst aufgeschoben wird, dafür gewinnt sie in Auseinandersetzung mit den anderen zeitgenössischen Arbeiten zum Verhältnis von Bildung und Politischem dann an Kontur.
Mit Roland Reichenbachs „Spätmodernen Situierungen von Bildung und Politik“ (70) kommt in der zweiten Studie eine pointierte Infragestellung des vermeintlich souveränen, autonomen Handlungssubjekts zur Sprache. Das ‚dilettantische Subjekt’ (Reichenbach) demokratischer Bildung sei in diesem bildungstheoretischen Entwurf durch eine Praxis nicht-souveräner Selbst- und Weltauslegung gefordert, sich in den kontingenten sozialen Kontexten zu diesen in ein Verhältnis zu setzen. Bünger rekonstruiert den theoretischen Einsatz Reichenbachs im Spannungsfeld des Problems der öffentlichen Stellungnahme, der Kontingenz von Selbst- und Weltauslegungen und eines Ethos der Sorge um sich. Die konstitutive Verschränkung von Bildung und Politischem zeige sich hier in kontroversen Positionierungen und Dissenserfahrungen. In der kritischen Diskussion stellt Carsten Bünger die Schwierigkeit von Reichenbachs Unterscheidung zwischen ,demokratischem Selbst’ und ,unternehmerischem Selbst’ in Hinblick auf die Zumutung der spätmodernen Kontingenzbewältigung heraus, wenn „das Ineinandergreifen von Handeln als nicht-souveräner Freiheit mit den Machtdynamiken normalisierender Subjektivierung“ (165) nicht zureichend in die Analyse mitaufgenommen wird. Im zweiten Abschnitt wird diese Problemstellung in einer weiteren und profilierten Akzentuierung nochmals thematisch, wenn Bünger die Unterscheidung bzw. Bezogenheit von Entsprechung und Unterbrechung diskutiert (197). An dieser Stelle kommen mit Bezügen auf Butler, Gutierrez Rodriguez, Villa u.a. nun auch ein- und ausschließende Praktiken zur Sprache, die die aktuelle gesellschaftspolitische Brisanz seiner Überlegungen deutlicher als in den Teilstudien hervortreten lassen.
Im dritten Teil seiner Studien zeitgenössischer Bildungstheorien nimmt Bünger den Einbezug diskurs- und hegemonietheoretischer Machtanalysen von Subjektivierungsprozessen zunächst bei Alfred Schäfer auf. In äußerst dichter Weise zeichnet Bünger die Argumentationslinien Schäfers nach und arbeitet dessen Verständnis von differenzieller Subjektivität heraus. Dabei gehe es um Brüche und Differenzen, die das Subjekt ebenso wie das Soziale durchziehen und die Frage nach einer möglichen reflexiven Überschreitung gegebener sozialer Verhältnisse neu akzentuieren. Politisches und Bildung als Möglichkeitsraum werden hier als unabgeschlossene Auseinandersetzungsprozesse diskutiert angesichts der Unmöglichkeit der Schließung von Differenz und gleichzeitig gegebenen hegemonialen Schließungsversuchen.
In den vergleichenden „Sondierungen“ der drei Teilstudien zum Abschluss des ersten Abschnitts unternimmt Bünger eine verdichtende Zusammenschau, die er methodisch als „Übersetzungsversuche“ bzw. die Auslotung von „Resonanzen“ charakterisiert und die als knappes, aber produktives Wechselspiel von Annäherung und Distanzierung entfaltet werden. Die vom Autor gewählten Metaphern unterstreichen den aufmerksamen Blick auf die Beschränkungen, aber auch Chancen, die sich aus dieser ‚vergleichenden’ Relektüre ergeben. Zugleich – so die Einschätzung der Rezensentin – erweist sich der Sache nach Schäfers Beitrag zur Reartikulation des Bildungsproblems und dessen politischem Moment hier immer wieder als eine mögliche Antwort auf zuvor aufgeworfene Fragen bzw. als jener theoretische Einsatz, der die von Bünger weiterverfolgten Fragehorizonte zu konkretisieren vermag. Im Quer- und Weiterdenken der vom Autor diskutierten Problemstellungen im Verlauf des zweiten Abschnitts des Bandes – der mit Transpositionen überschrieben ist – changiert die Untersuchung nicht zuletzt mit der Aufnahme der ‚offenen Frage der Mündigkeit’ durchwegs zwischen den untersuchten Ansätzen.
Der zweite Abschnitt zeichnet sich durch (Trans-)Positionen aus, in und mit denen Carsten Bünger engagiert die Möglichkeiten der Überschreitung, der Mündigkeit – auch und gerade wenn wir sie vor dem Hintergrund zeitgenössischer kritischer Bildungstheorien problematisieren müssen – und der Demokratie diskutiert. Dabei verfolgt Bünger in all diesen Überlegungen zwar einen systematischen Anspruch, keineswegs geht es ihm aber um abschließende kategoriale Bestimmungen. Vielmehr plausibilisiert der Autor in der Verdichtung und Konturierung seiner Studien, inwiefern sich die Politizität von Bildung in einer Mündigkeit als Praxis zeigen kann, also als „Mündigkeit im Vollzug der Subjektivierung“ (204), die er als „kritische Haltung im Horizont von Grenzerfahrungen“ (205) mit demokratietheoretischen Ansätzen kontextualisiert.
Das Buch von Carsten Bünger involviert die Leserin/den Leser in eine differenzierte Denkbewegung, die die Ausgangsthese stets weitertreibt und verschiebt. Diese ist zwar anspruchsvoll in der theoretisch-reflexiven Präzision des Gedankengangs – in den Teilstudien zeigt sie sich freilich auch am jeweils aufgenommenen Duktus orientiert –, dem Autor gelingt es trotzdem den Problemhorizont und die Bedeutung der argumentativen Verschiebungen durchgängig präsent zu halten. Verortet in einem bildungstheoretischen Diskurs mit kritischem Anliegen legt Bünger das Politische konsequent als konstitutives Moment der Bildung dar. Am profiliertesten wird die (Trans-)Position Büngers im Engagement für den im modernen Denken hoch aufgeladenen Begriff der Mündigkeit, den er in der reflexiven Diskussion moderner ‚Erzählungen’ nicht aufgibt, sondern offen hält für ein Weiter-Um-Schreiben.
Konkrete Praxen, Konzepte (politischer oder demokratischer) Bildung bzw. Befunde einer Mündigkeit im Vollzug stehen nicht im Fokus der Studien Büngers. Die Stärke des Bandes ist die systematische wie kritische und theoretisch-philosophisch facettenreiche Problemexplikation, die der Leserin/dem Leser Anknüpfungspunkte eröffnet. Damit dürfte der Band für Bildungsphilosophen bzw. -theoretiker und -wissenschaftler in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen disziplinären Herausforderungen ebenso relevant sein wie für einen weiteren Kreis von an
subjekt-, politik- bzw. demokratietheoretischen Fragestellungen Interessierten – durchaus auch im praktischen Feld. Im Sinne der Politizität der Bildung vielleicht ein willkommener Einsatzpunkt für disziplinäre Grenzerfahrungen.
EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)
Die offene Frage der MĂĽndigkeit
Studien zur Politizität der Bildung
Paderborn / München / Wien / Zürich: Ferdinand Schöningh 2013
(247 S.; ISBN 978-3-506-77799-7; 29,90 EUR)
Christine Rabl (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christine Rabl: Rezension von: BĂĽnger, Carsten: Die offene Frage der MĂĽndigkeit, Studien zur Politizität der Bildung. Paderborn / MĂĽnchen / Wien / ZĂĽrich: Ferdinand Schöningh 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677799.html
Christine Rabl: Rezension von: BĂĽnger, Carsten: Die offene Frage der MĂĽndigkeit, Studien zur Politizität der Bildung. Paderborn / MĂĽnchen / Wien / ZĂĽrich: Ferdinand Schöningh 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677799.html