Der vorliegende Sammelband ist im Rahmen der Forschung des Landesgraduiertenkollegs âProtestantische Bildungstradition in Mitteldeutschlandâ entstanden und befasst sich in vier Themenbereichen (Orientierungen, Vergewisserungen, Gegenwartsanalysen, Gestaltungsaufgaben) mit dem VerhĂ€ltnis von Bildung und Protestantismus ab dem 18. Jahrhundert. Erst seit dieser Zeit, in der Kombination von Reformation und AufklĂ€rung, so Ralf Koerrenz in der Einleitung, sei es möglich, dass âein solches Modell wie Bildung entstehenâ (8) konnte.
Diesen Gedanken fĂŒhrt er in seinem Beitrag im Themenbereich âOrientierungenâ weiter aus. Seit der protestantisch geprĂ€gten deutschen AufklĂ€rung und dem Verlust von der Gewissheit einer gestaltenden Kraft Gottes sei der Mensch âgnadenlos auf sich selbst zurĂŒckgeworfenâ (29). Gerade darin zeige sich das Protestantische und ihr radikales, emanzipatorisches Moment: in der âLebens- und Weltgestaltungâ (18), aber auch in der fehlenden âsoziale[n] Entlastung [âŠ] durch das Kollektivâ (34). Koerrenz beschreibt Bildung weitschweifig als Konzept, das âdie ZurĂŒckgeworfenheit des Menschen auf sich selbst thematisier[e]â (38) und die âAufklĂ€rung des Individuums ĂŒber sich selbst angesichts von Befreiung und Vereinsamungâ verfolge (39).
Hanna Kauhaus eröffnet den Themenbereich âVergewisserungenâ. Sie vergleicht den Pietismus â am Beispiel vertreten durch Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke â und die AufklĂ€rungstheologie â vertreten durch Johann Salomo Semler und Gotthold Ephraim Lessing. Beide Theologien hĂ€tten einen Ă€hnlichen Bezug zu Luther, nĂ€mlich eine verĂ€nderte âZukunftserwartungâ (49), und heben beide eine individuelle Ebene hervor: Willenserziehung und Gehorsam im Pietismus, kritische Urteilskraft in der AufklĂ€rungstheologie, wobei letztere stĂ€rker um einen lebenspraktischen Bezug bemĂŒht sei.
Jörg Dierken weist Ă€hnlich wie Koerrenz darauf hin, dass in der Moderne mit der âFreisetzung von ĂŒberkommenden Ordnungen und Weltbildernâ (65) dem Individuum abverlangt werde, die Welt aus seiner Perspektive zu verstehen und eigenes Handeln zu gestalten. Dierken erlĂ€utert das konstitutive Moment von Bildung bei der Auseinandersetzung des Einzelnen mit den anderen Mitmenschen und mit der Welt. Hierzu geht er, allerdings unvermittelt, auf die Bildungsdimension bei Friedrich Schleiermacher und Falk Wagner ein.
Der Themenbereich schlieĂt mit dem Beitrag von Meike Sophia Baader. Sie fasst in der ĂŒberarbeiteten Fassung eines bereits erschienenen Aufsatzes die zentralen Ergebnisse ihrer aufschlussreichen, 2005 veröffentlichten Habilitation konzise zusammen â jedoch leider auch nicht mehr. Der ââheilige Kosmos der ReformpĂ€dagogikââ lĂ€sst sich fĂŒr Baader in einem âverdichteten Bildâ beschreiben: Der âLehrer als Priester oder Seelsorger steht einem heiligen Kind oder einem JĂŒngling als Apostel gegenĂŒberâ (75). Die Erforschung der ReligiositĂ€t der ReformpĂ€dagogik ist bislang nur von Ralf Koerrenz (2011 bei Garamond) weiter verfolgt worden.
Den Themenbereich âGegenwartsanalysenâ eröffnet Annette Scheunpflug. In Anbetracht des bekannten Zusammenhanges von kulturellem Kapital und Schulleistungen bzw. Testergebnissen wagt sie erste, âexplorativ[e] und tentativ[e]â (97) Schritte zu Erforschung einer möglichen Wirkung âreligiös induzierte[r] Kulturâ (ebd.) und legt vier Merkmale einer âBildungskultur des Protestantismusâ fest (100). Die empirische Basis hierzu gewinnt sie aus SekundĂ€ranalysen quantitativer Studien. Scheunpflug resĂŒmiert in Anbetracht weniger signifikanter Unterschiede zwischen bekennenden protestantischen Familien und nicht-bekennenden, dass âkeine durchgĂ€ngige Spur erkennbarer evangelischer Bildungspraxenâ in den SekundĂ€ranalysen gefunden werden konnte (112). Hervorzuheben ist, dass die Autorin âfĂŒr die Fruchtbarkeit der Fragestellung werbenâ möchte (113), auch wenn es schwer sei, ReligiositĂ€t und ihre Bedeutung empirisch zu erfassen.
Thomas Schlag hat es in dem von ihm vorgestellten, indes abgeschlossenen Forschungsprojekt leichter, da er Mitarbeitende und teilnehmende Jugendliche in den Konfirmationsjahren befragt. Hier soll u. a. sondiert werden, welche âzivilgesellschaftlichen Potentiale die Konfirmationsarbeitâ habe (129). Schlag beschĂ€ftigt das âVerhĂ€ltnis von Protestantismus und Demokratieâ (117), zumal erst 1985 die âbundesdeutsche Theologieâ âin systematischer und theologischer Weise eine positive VerhĂ€ltnisbestimmung zur Demokratie vorgenommenâ habe (ebd.). Schlag plĂ€diert fĂŒr eine Erweiterung von Kirche und Staat um eine zivilgesellschaftliche Perspektive, mit der Kirche als âintermediĂ€rer Bildungsinstitutionâ (124) zur Vermittlung von âErfahrungen und ZusammenhĂ€nge[n] von individueller Existenz und Politischemâ (125).
Harald Schroeter-Wittke setzt sich mit dem VerhĂ€ltnis von Popkultur zu Protestantismus auseinander. Popkultur sei fĂŒr ihn sogar in der âKraft ihrer VerheiĂung von Freiheit mitunter protestantischer als das Christentumâ (139). Schroeter-Wittke plĂ€diert fĂŒr eine Praktische Theologie der Popkultur und fĂŒr Mut zu einer âTheologie der Unterhaltungâ (142), da Unterhaltung âauch theologisch als fragwĂŒrdigâ gebrandmarkt sei (143). Nicht nur mit SĂ€tzen wie âIch haben Ihnen zum Schluss eines meiner LieblingsstĂŒcke mitgebrachtâ (145) findet man sich allerdings als Leser hier eher in einer gemeindepĂ€dagogischen Weiterbildung wieder als in einer wissenschaftlichen Erörterung.
Der letzte Themenbereich âGestaltungsaufgabenâ umfasst zwei Artikel. Manfred L. Pirner diskutiert in Thesenform die Aufgabe des Religionsunterrichts (RU), der in Deutschland seit den 1970er Jahren sich dem widme, âwas Menschen existenziell betrifft und umtreibtâ (149) sowie UnterstĂŒtzung biete, das âGrundrecht auf Religionsfreiheit wahrnehmen zu könnenâ (150), also in erster Linie âals Dienst an den Kindern und Jugendlichen und damit auch als Dienst an der Gesellschaftâ verstanden werde (151). Der RU könne einen âganz eigenstĂ€ndigen Beitragâ (167) zur FĂ€higkeit der Reflexion ĂŒber die von der UN proklamierten, aber bewusst normativ nicht begrĂŒndeten Menschenrechte leisten.
Der Themenbereich und der Band schlieĂen mit dem Beitrag von Dirk Oesselmann. Er versteht Bildung nicht nur als ââdie Annahme meines Ichsââ, sondern auch als Befreiung aus dem âVorurteil eigener UnfĂ€higkeitâ (173). Oesselmann mahnt daher, Bildung mĂŒsse neben der âindividuellen Zertifizierung von Wissen und Kompetenzenâ auch die âkollektiv-gemeinschaftlichen Prozesseâ und die âHerausforderungen von Welt aufnehmenâ (177). In diesem Beitrag sieht man sich eher mit einer Meinung des Autors oder einer Predigt auseinandergesetzt, etwa wenn der Autor ânoch ein[en] Gedanke[n] ĂŒber die gegenwĂ€rtigen öffentlichen Diskussionen ĂŒber die Schuldenkrise u. Ă€.â ausbreitet (172).
Die âAuseinandersetzung mit Freiheit, Selbstbezug und Weltorientierungâ gilt fĂŒr den Herausgeber als âgemeinsamer Leitfadenâ (14) des Bandes. Dieser ist nicht nur weit gespannt, wie Koerrenz einrĂ€umt, er reiĂt sogar leider, denn die einzelnen BeitrĂ€ge wirken oft lose an das Thema angeschlossen. Einige BeitrĂ€ge haben sicherlich QualitĂ€ten als DenkanstöĂe oder Diskussionspapiere, verwehren aber den wissenschaftlichen Mehrwert zur Diskussion von âBildung als protestantisches Modellâ. Der Band leidet zudem unter seiner Form. So zahlt der Leser und die Leserin hier, wie in vielen anderen BĂŒchern auch, den Preis fĂŒr die gĂ€ngige wissenschaftliche Publikationspraxis: Der Verlag spart, indem er den Autoren bzw. Herausgeberinnen ĂŒber (Word-)Vorlagen den Satz ĂŒberlĂ€sst â und damit die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder ĂŒberfordert. Das wird etwa bei dem Beitrag von Schlag offensichtlich. In diesem Band sind es neben vielen typischen typographischen Fehlern bei der Arbeit mit Vorlagen vor allem die zu klein gesetzte (ubiquitĂ€re) Schriftart Times New Roman, die willkĂŒrlich wechselnden Schriftarten und die sich hĂ€ufenden LeerrĂ€ume durch unglĂŒckliche UmbrĂŒche, die das Lesen erschweren. Das Auge liest schlieĂlich mit.
EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)
Bildung als protestantisches Modell
Paderborn: Schöningh 2013
(179 S.; ISBN 978-3-5067-7689-1; 24,90 EUR)
Marcel Kabaum (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcel Kabaum: Rezension von: Koerrenz, Ralf (Hg.): Bildung als protestantisches Modell. Paderborn: Schöningh 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677689.html
Marcel Kabaum: Rezension von: Koerrenz, Ralf (Hg.): Bildung als protestantisches Modell. Paderborn: Schöningh 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677689.html