EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)

Klaus Prange
Erziehung als Handwerk
Studien zur Zeigestruktur der Erziehung
Paderborn / MĂŒnchen / Wien / ZĂŒrich: Schöningh 2012
(192 S.; ISBN 978-3-506-77547-4; 24,90 EUR)
Erziehung als Handwerk Mit seiner Aufsatzsammlung, die sich aus zehn bereits an unterschiedlichen Orten abgedruckten und einem bislang nicht publizierten Vortrag aus den Jahren 2000 bis 2012 zusammensetzt, möchte Klaus Prange – so der RĂŒckentext – einerseits die Operative PĂ€dagogik „in ihrer Tragweite und ihren Konsequenzen“ (Umschlag) demonstrieren. Dies gelingt auf eindrĂŒckliche Weise. Andererseits geht es Prange, der sich mit dem Titel auf Richard Sennetts Buch The craftsman (dt.: Handwerk) bezieht [1], darum, jene „maßgebende Bedeutung“ (20) hervorzuheben, die der Hand auch und gerade in der Erziehung zukomme: „Ohne die Hand könnten wir nichts vormachen und die Kinder und Lernenden anleiten, wie sie das Gezeigte auszufĂŒhren haben. Auch der Versuch, zu einem bestimmten Verhalten anzuregen, zu ermuntern oder gar zu nötigen, lĂ€uft ins Leere, wenn nicht demonstriert wird, worin das gewĂŒnschte Verhalten wirklich besteht. Es ist die ZeigegebĂ€rde, die durch die Hand verkörpert wird. Lernen und Erziehen geht gleichsam von Hand zu Hand.“ (ebd.) Hier, also bei der Zentrierung der Hand in der Erziehung, könnte man in dieser Form allerdings auf Schwierigkeiten stoßen.

Die in der Tat sowohl phĂ€nomenologisch als auch historisch eindrĂŒcklich weit gefasste Darstellung und Analyse der pĂ€dagogischen Zeigestruktur beginnt pointiert mit dem Fußballspiel und Pranges Verwunderung darĂŒber, dass sich die PĂ€dagogik in aller Regel „leicht mit dem Ball“ tue, „doch sie tut sich schwer mit dem Fußball“ (45). Um sowohl die GrĂŒnde hierfĂŒr als auch die Substanz des Fußballspiels zu erörtern, greift er zunĂ€chst auf Siegfried Bernfelds Bericht ĂŒber das „Kinderheim Baumgarten“ von 1921 und dessen darin dokumentierte Anstrengung zurĂŒck, die Jungs vom Fußballspielen abzubringen. Bernfeld sei zwar – etwas burschikos formuliert – beileibe „kein spirituell-mimosenhafter Schöngeist und als Freud-SchĂŒler frei von der ÜberlegenheitsgebĂ€rde gegenĂŒber einfachen Seelen und ihren elementaren Befriedigungen“ (45) gewesen, dennoch habe auch er sich davon leiten lassen, das Fußballspiel als „Einladung zum Maßlosen und Exzessiven, zu enthemmter Leidenschaft und Mangel an Form“, letztlich zum „Mangel an Intellekt, Geist und verfeinerter Gesittung“ (ebd.) zu verstehen. Worauf nun Bernfeld sich nur widerstrebend habe einlassen können – also das Erzieherische am Fußballspiel zu akzeptieren –, erkennt Prange nun unmittelbar in eben dieser Form, die auch das Fußballspiel zuallererst charakterisiere. Nicht „irgendein zusĂ€tzlicher Zweck oder von außen applizierter Sinn“ sei nĂ€mlich hierfĂŒr nötig, denn alleine in der Form des Fußballs sei „die Freundschaft gegenwĂ€rtig; vorweggenommen im einsamen Ball-Spiel des kleinen Kindes, explizit, wenn die Großen sich den Ball zuspielen.“ (51)

Anders verhalte es sich freilich, sobald Erzieher mit im Spiel seien, also Kinder und Jugendliche nicht mehr ausschließlich selbst ihre Interaktion regulierten. Dann gelte zwar nach wie vor, was schon das Fußballspiel formalpragmatisch ausmache: dass diese Interaktion nĂ€mlich auf „Einigung“ und damit auf „etwas“ beruhe, „das wir operativ bei Gefahr des Misslingens zu verwirklichen suchen“ (80). Sobald aber „die GebĂ€rde des Zeigens“ als die „fĂŒr alle Erziehung“ geltende „Minimalbedingung“ auch explizit werde, anstatt nur logisch impliziert zu sein, werde „unter anderem eben auch Macht oder in der Ă€lteren Ausdrucksweise: Regierung“ (82) hierdurch zu einem expliziten Thema der Erziehungsinteraktion. Erst so komme fĂŒr die PĂ€dagogik die Frage nach der Verantwortung auf, denn „Eltern haben nicht nur Macht ĂŒber Kinder, sondern sie sind eine Macht, eben dadurch, dass es sie gibt [
]. Aber weil sie Macht sind, weil sie sich zeigen, haben die Erzieherinnen und Erzieher eine Bedeutung fĂŒr die Lernenden und wirken erzieherisch“ (91). Speise sich die pĂ€dagogische Verantwortung aus der operativen Verankerung von Macht im erzieherischen Handeln selbst, so lasse sich die Frage, ob diese Macht nun mehr oder minder adĂ€quat ausgeĂŒbt sei, daran bemessen, inwieweit es hierdurch gelinge, die Kinder bzw. Jugendlichen „zu aktivieren oder wie man frĂŒher sagte: zu ‚erregen‘“; schließlich sei das die „Aufgabe der pĂ€dagogischen Inszenierungen, und zwar so, dass immer auch mit Mitteln der Regierung die Chancen fĂŒr aufmerksames Zuhören und eingehendes Hinsehen und Mitmachen gesteigert und verdichtet werden“ (92).

Dass nun eine solche Diktion auch auf Seiten des Lesers etwas zu „erregen“ vermag – nĂ€mlich ein Ressentiment –, das hĂ€ngt, denke ich, kaum damit zusammen, dass Prange vielleicht etwas eilfertig an dieser Stelle ĂŒber die Machtproblematik hinweg eilt. Wer wollte schon ernstlich in Abrede stellen, dass Erziehung vor allem auch das sei: Macht? Es hĂ€ngt vielleicht noch nicht einmal damit zusammen, dass nach einer solchen – wie so oft bei Prange – sehr deutlich am Alltagsvokabular orientierten Passage zwar evident geworden sein mag, dass die Machtstruktur der Erziehung zugleich die pĂ€dagogische Verantwortung begrĂŒndet, aber trotz des Verweises auf die Steigerung und Verdichtung der Chancen fĂŒr „aufmerksames Zuhören und eingehendes Hinsehen“ (s.o.) immer noch relativ unklar bleibt, wie das nun genauer zu realisieren sei. Der Anspruch, auf diese Frage eine Antwort zu erhalten, wird ja gerade erst dadurch drĂ€ngend, dass Klaus Prange auf abstrakte theoriesemantische Manöver und den mit ihnen verbundenen Distanzierungsgestus gegen das „Praxeologische“ geradezu ostentativ verzichtet. Die Ressentiments, die einen durchaus beschleichen können, scheinen viel eher mit dem von Prange gewĂ€hlten und fortgeschriebenen Vokabular zusammenzuhĂ€ngen, also mit seiner Diktion, die bei aller pragmatischen Deutlichkeit doch an einigen Stellen das Thema oder das behandelte Problem eher verdunkelt als erhellt.

Die GrĂŒnde hierfĂŒr deuten sich in der Wahl des Titels dieser Aufsatzsammlung bereits an und sie kommen besonders deutlich in den ersten beiden Kapiteln zum Ausdruck. Dort wird der Begriff des Handwerks in seiner Gebrauchsfunktion eingefĂŒhrt, um damit zentral darauf hinzuweisen, „dass mit dem Verschwinden der Hand-Arbeit auch vieles untergegangen ist und weiter untergeht, was damit an Fertigkeiten und Haltungen einmal einher ging.“ (10) Selbst das Schreiben mit der Hand, so Prange, werde zusehends maschinell ersetzt, „so dass die Grundschullehrer es fĂŒr richtig halten, allein die Druckschrift als Vorbereitung auf den Computergebrauch einzuĂŒben.“ (ebd.) Doch in dieser zunĂ€chst technikkritisch anmutenden Betrachtungsweise ist eine normative Ebene enthalten. Prange selbst deutet das folgendermaßen an: „Handwerke hatten nicht nur einen goldenen Boden, sie waren auch der Boden fĂŒr die Ausbildung zu einem bestimmten, handwerklich geprĂ€gten Arbeitsethos [
]. Was Handwerk bedeutet, ist eben nicht nur eine Frage der Versorgung mit lebensdienlichen GĂŒtern; es hat auch eine Bedeutung fĂŒr das LebensverstĂ€ndnis und die allgemeine LebensfĂŒhrung, und das heißt: auch die Erziehung.“ (ebd.) Aber gerade hier wird deutlich, dass diese technikkritische Orientierung Pranges schon nahezu kulturkritische ZĂŒge hat, die im Verlauf des Buchs an vielen Stellen immer wieder deutlich hervortreten; dass gerade diese Ebene nun auch die Idiosynkrasien seiner Leser erregen könnte, das antizipiert freilich auch der Autor, wenn er eingesteht, ihm selbst erscheine es „abwegig, sich die Plage und Plackerei frĂŒherer Tage zurĂŒckzuwĂŒnschen und auf Waschmaschine, HebebĂŒhne und Bagger zu verzichten“ (ebd.). Wo es ihm schon auf den kritischen Kommentar anzukommen scheint, missachtet Prange dann gewollt den Unterschied zwischen Kultur- und Gesellschaftskritik, den man da zumindest auch geltend machen könnte. Bei alledem wĂŒrde es sich jedoch vorrangig um eine rhetorische EigentĂŒmlichkeit handeln, auf die man auch bei anderen Autoren trifft und ĂŒber die man hinwegsehen könnte, wenn dem nicht auch etwas sonderbare Schlussfolgerungen entsprĂ€chen. Aber es zeigt sich vielleicht auch etwas anderes daran, nĂ€mlich die Schwierigkeit, ĂŒberhaupt noch ein erziehungswissenschaftlich verbindliches Vokabular fĂŒr das Feld der gegenstandstheoretisch relevanten PhĂ€nomene zu finden (wofĂŒr nun allerdings Prange nichts kann), das nicht schon in verschiedenen Systemen vordefiniert ist. Doch zunĂ€chst ein Beispiel fĂŒr jene BrĂŒche in seiner Argumentation, die zwar durchaus heuristisch von Gewicht sind, die man aber hinter Pranges Rhetorik zu ĂŒbersehen geneigt ist. Die Hand, so Prange, sei „durch technisches GerĂ€t ersetzt und unsichtbar geworden: Wir stehen nur noch davor und drĂŒcken Bedienungsknöpfe, auf der Grundlage von Beschreibungen, die uns idiotensicher durch das Labyrinth der Verwendungen fĂŒhren.“ (32) Wenn man dem nun spontan entgegnen will: Wie schön wĂ€re es denn eigentlich, wenn uns Beschreibungen und Anleitungen tatsĂ€chlich „idiotensicher“ durch das Labyrinth eines technisierten Alltags fĂŒhrten? – dann hat das keinesfalls einen bloß satirischen Wert, sondern viel eher die Tendenz dazu, an einer sehr starken These des Autors zu kratzen, die in vielfĂ€ltiger Weise dominant die einzelnen AufsĂ€tze durchwandert.

Diese Vorbehalte nun allerdings beiseite lassend, schmĂ€lert das nicht den Gehalt seines Ansatzes, von der Hand als dem „Tastorgan par excellence“ auszugehen und in den „Zugriffen und Eingriffen [
] noch etwas anderes“ zu erkennen, nĂ€mlich „eine Erfahrung, die wir mit uns selbst machen“: „Was wir anfassen, berĂŒhren und dann an uns ziehen oder abstoßen, belehrt uns ĂŒber das Weiche und das Harte, Kalte und das Weiche, das Rauhe und Glatte, und vermittelt uns dadurch eine Empfindung fĂŒr uns selbst“ (35; Hervorhebung i.O.). Zumal er immer wieder auf die „pĂ€dagogische Differenz“ zu sprechen kommt, dass also „Erziehen und Lernen zwei scharf zu unterscheidende Operationen“ seien, womit jedoch zugleich von „zwei Seiten“ die Rede ist, „die aufeinander abgestimmt, in Kontakt gebracht und zeitlich, thematisch und sozial koordiniert werden mĂŒssen“ (80), wird daran auch die thematische Strukturierung des Buchs deutlich: Durch die Konzentration auf die Hand wird einerseits die Leibesstruktur der Erziehung betont; andererseits soll deutlich hervorgehoben werden, dass Erziehung ein komplexes Interaktionsfeld und seine PhĂ€nomenologie nicht auf „Sozialisation“, „Lernen“ und dergleichen zu reduzieren sei. Hier kommen wir zurĂŒck zu der oben angedeuteten Frage, um die es Klaus Prange implizit zu gehen scheint: Mit welchen Begriffen sei das PhĂ€nomen ‚Erziehung‘ hinreichend zu beschreiben? Dass der Erziehungswissenschaft sowohl die Leibesstruktur als auch ein nicht-soziologisches Vokabular zu Beschreibung des Gegenstands weitgehend entrĂŒckt seien – dem „Mainstream“ entsprechen diese beiden Erkenntnisinteressen wohl nicht mehr –, ist eine treffende Feststellung dieser Schrift. Außerdem gelingt darin vielfĂ€ltig der Verweis darauf, wie – exemplarisch etwa am Schulunterricht demonstriert – typisch pĂ€dagogische Ritualisierungsformen eine „Differenz von Ereigniszeit und Reflexionszeit als curriculum vitae und curriculum scholasticum“ (104; Hervorhebung i. O.) gleichsam institutionalisieren und damit der distanziert-reflektierten Handlungsdurchdringung entziehen. Schließlich kann ebenfalls betont werden, dass pĂ€dagogisches Engagement sich darin zu behaupten habe, etwas zu können; und zwar „gut [zu] können in Hinsicht auf den jeweiligen Systemzweck, sei es die Erschließung der Musik, sei es die Darstellung der Welt als KerngeschĂ€ft des Unterrichts“ (163), was besonders anschaulich mithilfe der Fokussierung der Hand möglich ist.

Ob Prange nun im Einzelnen mit seiner wiederholt artikulierten und gegen die „Sozialwissenschaften“ gerichteten Skepsis so sehr im Recht ist oder ob er damit nicht eher polemisch viel zu eng fasst, was man sich unter den „Sozialwissenschaften“ in so verallgemeinerter Form vorzustellen habe, das sei hier einmal dahingestellt. Dass aber „Erziehung“ als Grundbegriff der akademischen PĂ€dagogik so lange heuristisch insuffizient bleibt, wie die Kategorie nur vereinseitigend mit kindheits- und jugendsoziologischen Befunden und solchen der empirischen Sozialforschung aufgefĂŒttert wird, verdeutlicht das Buch in einer zugleich anschaulichen Sprache, ebenso wie es AnsĂ€tze enthĂ€lt, um die theoretische Reichweite einer Kategorie und den Gegenstandsbereich der Erziehungswissenschaft weiterfĂŒhrend zu diskutieren. Und dies kritisch zwischen PhĂ€nomenologie und pĂ€dagogischer Anthropologie auf der einen Seite und kommunikations- und interaktionstheoretischen AnsĂ€tzen auf der anderen.

[1] Vgl. Richard Sennett (2009): Handwerk. Berlin: Verlag Taschenbuch
Alex Aßmann (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alex Aßmann: Rezension von: Prange, Klaus: Erziehung als Handwerk, Studien zur Zeigestruktur der Erziehung. Paderborn / MĂŒnchen / Wien / ZĂŒrich: Schöningh 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677547.html