EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Alfred SchÀfer
Zur Genealogie der PĂ€dagogik
Die Neuerfindung der PĂ€dagogik als ‚praktische Wissenschaft‘
Paderborn: Schöningh 2012
(358 S.; ISBN 978-3-506-77541-2; 44,90 EUR)
Zur Genealogie der PĂ€dagogik Alfred SchĂ€fer verfolgt eine Fragestellung, der in den letzten Dekaden verstĂ€rkte Aufmerksamkeit zuteilwurde: Wie konstituiert sich die moderne PĂ€dagogik/die PĂ€dagogik in der Moderne? Wie positioniert sie sich, legitimiert sie sich, wie begrĂŒndet sie ihre Aufgaben, wie verleiht sie sich (wissenschaftliche) DignitĂ€t?

SchĂ€fer analysiert die BegrĂŒndungsmuster der deutschen PĂ€dagogik auf der Folie von Modernisierung aus einer historisch-philosophischen Perspektive. Dabei geht er davon aus, dass die Differenz von „BegrĂŒndung und unlösbarem BegrĂŒndungsproblem“ ein basales Kennzeichen der Moderne ist, das von der PĂ€dagogik nicht adĂ€quat berĂŒcksichtigt wird (8). Ihn interessiert demzufolge die vorgeblich inadĂ€quate „Formierung einer hegemonialen Figur Praktischer PĂ€dagogik als Reaktionsform auf die Grundlegungsproblematik der Moderne“ (20).

SchĂ€fers Untersuchung erfolgt in drei Themenfeldern. Im ersten Kapitel wird „die in der frĂŒhen Neuzeit aufbrechende Problematik der BegrĂŒndbarkeit des Sozialen aufgerufen. Es wird zu zeigen versucht, dass diese Problematik [sehr spezifische] GrundlegungsbemĂŒhungen provozierte“ (21). SchĂ€fer stellt an Theorieoptionen wie Leibniz’ Monadologie, Herders Metaphysik der Kraft, den romantischen Anthropologie-Bearbeitungen und schließlich Fichtes metaphysischer Apodiktik und Fröbels didaktisierter Mystik dar, wie sich das „von der Ontotheologie hinterlassene Problem der Grundlegung von Selbst- und WeltverhĂ€ltnissen [
] unter modernen Vorzeichen als ein Problem der SubjektivitĂ€t angeben“ lĂ€sst und als solches pĂ€dagogisch bearbeitet wird (87). Konsequenz sei: „Ein ganzheitliches VerstĂ€ndnis des Menschen und die Orientierung an einer gegliederten Ganzheit des Sozialen werden in BegrĂŒndungsstrategien aufgenommen“ (92).

Im zweiten Kapitel verfolgt SchĂ€fer daran anschließende theoriegeschichtliche Entwicklungen. Bei der „Hervorbringung der PĂ€dagogik als (praktische) Wissenschaft“ (21) wird an Dilthey, Otto, Petersen, Kerschensteiner, Litt und Key die diskursive Erzeugung eines Wahrheitsanspruchs analysiert, welcher auf eine empirische und zugleich transzendentale BegrĂŒndung abzielt, die sich zu wissenschaftlichen und gesellschaftlichen RationalitĂ€tsansprĂŒchen in ein spezifisches VerhĂ€ltnis zu setzen vermag. „RĂŒckgriffe auf Figuren eines ‚ganzen Menschen‘, auf Leben und Erleben, auf Organismusmetaphern und teleologisch verfasste Entwicklungsmodelle, in deren Rahmen der Einzelne seinen Ort in und gegenĂŒber der Gemeinschaft findet, auf eine ‚wahre NormalitĂ€t‘ des Kindes dokumentieren dabei eine kritische AttitĂŒde gegenĂŒber den vorgefundenen VerhĂ€ltnissen in Gesellschaft und Wissenschaft. Gleichzeitig werden mit diesen RĂŒckgriffen Aufgabenstellungen aufgerufen, in denen der Ursprung, der ‚wahre Grund‘, zugleich zum Telos wird“ (21f).

SchĂ€fer fĂŒhrt schließlich im dritten Kapitel aus, wie es zu einer „hegemonialen Verfestigung einer Praktischen und zugleich mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden PĂ€dagogik“ komme (22). An der sich nun konsolidierenden Geisteswissenschaftlichen PĂ€dagogik will er an Nohl und Flitner zeigen, wie an die narrative Konstruktion der ‚Deutschen Bewegung‘ eine Theorie der Bildung gebaut wird, „die man als Grundlegungsfigur lesen kann, in der jede BegrĂŒndungsproblematik aus dem ‚eigentlichen‘ Raum des PĂ€dagogischen ausgeschlossen wird“ (ebd). Das Problem tauche spĂ€ter ebenso in der ‚Kritischen Erziehungswissenschaft‘ – SchĂ€fers Großreferenz ist hier lediglich Mollenhauer – auf, wo „die kritische VerhĂ€ltnisbestimmung zur Wissenschaft [
] sich selbst als Wissenschaft versteht“ (23). Schließlich will SchĂ€fer an Benners Explikation eines ‚pĂ€dagogischen Grundgedankengangs‘ nachweisen, dass auch hier, wo „sich theoretische Perspektiven und praktische Orientierungen, Wirklichkeit und RationalitĂ€t verschrĂ€nken sollen“, das Problem „eines vorausgesetzten normativen Raumes, von dem her die Wirklichkeit des PĂ€dagogischen vermessen und beurteilt werden kann“, inhĂ€rent ist (24f).

In sich sind die SchlĂŒsse, die SchĂ€fer zieht, kohĂ€rent. Sie lassen sich allerdings problematisieren, wĂ€hlt man einen anderen Blick auf das Thema, einen, der sich aus einer Synopse der mittlerweile zahlreich vorliegenden pluriperspektivischen Arbeiten zu diesem weiten Feld des VerhĂ€ltnisses von Modernisierung und PĂ€dagogik ergibt.

Profilierende Koordinate Nr. 1 in SchĂ€fers Studie ist, die Moderne maßgeblich als philosophisches Projekt abzuhandeln. Im Soge dessen betont SchĂ€fer im Vornherein, dass „weder auf ein transzendentales Signifikat noch auf einen transzendentalen Signifikanten, weder auf eine immer schon (göttlich) geordnete Welt noch auf ein grundlegendes Subjekt“ zurĂŒckgegriffen werden könne (18). Freilich wird derlei unerschrocken und hoch erfolgreich getan – das ist ja schließlich der Untersuchungsgegenstand von SchĂ€fer –, weshalb dieses Vorausschicken einen normativen Beigeschmack erhĂ€lt: es sollte richtigerweise nicht getan werden.

Koordinate Nr. 2 korrespondiert damit. SchÀfer konfrontiert die historischen Quellen mit einem gegenwÀrtigen Standpunkt. Ausgestattet mit einem eigenlogischen Referenzsystem und spezifischen State-of-the-Art der (Subjekt-)Philosophie wird Geschichte mehr bewertet als erklÀrt.

Die Koordinate Nr. 3 betrifft die Quellenauswahl von SchĂ€fers „Genealogie“. Diese sei zwar „nicht beliebig“ (20); warum aber willkĂŒrlich eine bekannte Höhenkammliteratur deutscher PĂ€dagogik in der Analyse steht, ist wohl dem erwĂ€hnten Umstand geschuldet, dass SchĂ€fer mit der speziellen Auswahl vor allem etwas zeigen will. Die Untersuchung gerĂ€t zu einer BeweisfĂŒhrung.

Das ist Koordinate Nr. 4: SchĂ€fers Genealogie lĂ€uft auf eine anders gelagerte Offerte zu, eine, die sich aus der Dekonstruktion „der“ pĂ€dagogischen Geschichte ergebe. SchĂ€fer mĂŒndet in die Proklamation einer anders gelagerten Sicht auf (mindest) das BegrĂŒndungsproblem. Diese ĂŒberrascht dann doch. WĂ€hrend SchĂ€fer bis dahin nicht etwas Naheliegendes problematisiert: dass sich die deutsche PĂ€dagogik in Anthropologien verschiedener Provenienz verstrickt, wird im Abschlusskapitel eine Wendung vorgenommen. SchĂ€fer verlĂ€sst den Pfad der (Subjekt-)Philosophie und sucht auf seinem „Wege der Verabschiedung der GrundlegungsansprĂŒche einer Praktischen PĂ€dagogik“ (26f) andere Kontexte auf.

Aus dem Kontext von Wissenschaft betont SchĂ€fer – und hiervon könne eben die PĂ€dagogik lernen –, dass diese „als soziale Praxis im Kontext gesellschaftlicher RationalitĂ€tskonstellationen“ die wissenschaftsspezifische Grundlegungsproblematik anders „löst“, indem ohne absolut oder a priori gesetzte RationalitĂ€t „jede ErkenntnisbegrĂŒndung interessiert und kontextrelativ stattfindet, [
] sie fragil und vorlĂ€ufig bleibt und sie genau dies wiederum in den Blick nehmen kann“ (335).

Als zweiten Kontext stellt SchĂ€fer den der Politik als anschlussfĂ€hig vor. Eine „demokratiepolitische Perspektive, fĂŒr die die UnbegrĂŒndbarkeit einer fundamental autorisierten Machtposition konstitutiv ist“ (26), gebe Auskunft ĂŒber den produktiv-realen Umgang mit der BegrĂŒndungsproblematik. „Das Politische ist der Name fĂŒr die Differenz von UnbegrĂŒndbarkeit und BegrĂŒndungsnotwendigkeit sozialer Ordnungen“, und demokratisch in diesem Sinne „wĂ€ren symbolische Auseinandersetzungen, die auf eine radikale Weise offen sind, die also nicht versuchen, diesen Auseinandersetzungen selbst noch fundierende Prinzipien, eine normative Ordnung oder eine eigentliche Logik vorzugeben“ (345f).

Freilich gibt es Entwicklungen, die genau an die beiden Kontexte anschließen. Einmal nur historisch gedacht wĂ€re die enge Koppelung von empirischer Wissenschaftlichkeit und PĂ€dagogik im England des 17. Jahrhunderts zu berĂŒcksichtigen oder die von Demokratietheorien und PĂ€dagogik im Frankreich des 18. Jahrhunderts.

Man muss derlei nicht oberlehrerhaft reinreklamieren, aber auch daran zeigt sich, dass SchĂ€fers Studie viele interessante Fragen an den deutschen Sonderweg nicht nutzt. Was nicht negativ gewertet werden muss; schließlich bedient, so ist anzunehmen, das Buch ja einen bestimmten erziehungsphilosophischen Diskurs. Dort ist Akklamation gewiss, dort wird SchĂ€fer zu Recht seinen Status als gewandter Denker weiter festigen können.

Wer allerdings sonst von dem Buch Kenntnis nehmen wird, ist fraglich. So wie SchĂ€fer ganze historische und systematische Forschungsdiskurse zum Thema außen vor lĂ€sst, so wird man wohl auch dort nicht essentiell an diese Studie anschließen (können).
Ulrich Binder (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich Binder: Rezension von: SchĂ€fer, Alfred: Zur Genealogie der PĂ€dagogik, Die Neuerfindung der PĂ€dagogik als ‚praktische Wissenschaft‘. Paderborn: Schöningh 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677541.html