Die Publikationen der letzten Jahre deuten darauf hin: Zeit avanciert zu einer Schlüsselkategorie erziehungswissenschaftlicher Empirie und Theorie. In der vorliegenden Dissertation nutzt die Autorin die Kategorie Zeit, um das Zentrum des pädagogischen Geschehens empirisch neu auszuleuchten. Sie fragt nach den Arten und Weisen, in denen Lehren und Lernen zeitlich verfasst sind, und sie fragt danach, in welchem Verhältnis die Zeitlichkeit des Lehrens und die Zeitlichkeit des Lernens zueinander stehen. Mittels einer Analyse von Interview- und Videodaten zu einer Veranstaltung der wissenschaftlichen Weiterbildung arbeitet Berdelmann nicht nur heraus, dass das Lehr-Lern-Geschehen durch eine komplexe Pluralität von Zeitordnungen bestimmt ist, die sich in ihren operativen Verschränkungen wechselseitig hervorbringen. Sie erläutert auch, wie diese Zeitordnungen aufeinander bezogen sind.
Als theoretischen Ausgangspunkt ihrer radikal prozessualen Perspektive auf das Lehr-Lern-Geschehen wählt die Autorin das von Klaus Prange im Rahmen einer „operativen Pädagogik“ entwickelte Modell der zeitlichen Verschränkung von Lehren und Lernen in pädagogischen Situationen. Lehren und Lernen sind in diesem Modell durch zwei unterschiedliche Zeitlogiken geprägt, die im pädagogischen Geschehen gegenläufig ineinandergreifen. Die Zeitordnung, in der sich das Lehren bewegt, wird hier Datenzeit genannt. Sie ist durch das Nacheinander einer Abfolge von Ereignissen gekennzeichnet. Die Zeitordnung des Lernens wird dagegen als Modalzeit bezeichnet. Sie ist gekennzeichnet durch eine nicht-vergehende Gegenwart, in der Zukunft und Vergangenheit als Erwartungs- und Erinnerungshorizonte mitgeführt werden. Gelingendes pädagogisches Handeln ist nach diesem Konzept in dem Moment realisiert, in dem sich die in diesen unterschiedlichen Zeitlogiken verfassten Operationen des Lehrens und des Lernens treffen. Dieses theoretische Ausgangsmodell wird in den Analysen der Autorin zunehmend differenziert, präzisiert und dabei auch grundlegend modifiziert.
Nach einem einleitenden ersten Kapitel gibt die Autorin im zweiten Kapitel einen Überblick über Thematisierungen von Zeit in der Erziehungswissenschaft. Im Anschluss daran wird dann in einem dritten Kapitel Klaus Pranges Theorie der Zeitlichkeit des pädagogischen Geschehens vorgestellt. Die ihr zugrundeliegende Unterscheidung von Datenzeit und Modalzeit wird im Rückgriff auf Martin Heidegger und Hermann Schmitz diskutiert und, was ihre Dichotomie angeht, relativiert.
Es folgt im vierten Kapitel eine Vorstellung und BegrĂĽndung des Forschungsdesigns, orientiert an methodologischen Konzepten der Grounded Theory.
Ihre Analysen der Zeitlichkeit im Lehr-Lern-Geschehen beginnt die Autorin im fünften Kapitel mit dem Aufweis einer die Dualität von Lehren und Lernen überschreitenden Pluralität von Zeitordnungen. Über die Zeitlichkeit des Lehrens und die Zeitlichkeit des Lernens hinaus identifiziert die Autorin auch die „faktisch realisierte Zeitstruktur des Unterichtsablaufs (Interaktionszeit)“ (67), die „geplante Zeitstruktur, die sich in der Verlaufplanzeit niederschlägt“ (ebd.) und die „chronometrische Zeit“ (ebd.) als im Lehr-Lerngeschehen bedeutsame Zeitordnungen. Darüber hinaus lockert sie die von Prange unterstellte Kopplung von Lehren und Datenzeit bzw. Lernen und Modalzeit, indem sie darauf hinweist, dass einerseits nicht nur die Bewusstseinsprozesse der Lernenden, sondern auch die der Lehrenden modalzeitlich verfasst sind. Andererseits orientieren sich auch modalzeitlich verfasste Bewusstseinsoperationen an datenzeitlichen Verläufen.
Aufbauend auf diese Differenzierungen und Neurelationierungen untersucht die Autorin in den nächsten beiden Kapitel die Arten und Weisen, in denen die von ihr identifizierten unterschiedlichen Zeitordnungen aufeinander bezogen sind. Zunächst arbeitet sie im sechsten Kapitel vier Dimensionen der Synchronisation heraus: Neuigkeit, Abfolge, Ausdehnung und Geschwindigkeit. Dann zeigt sie im siebten Kapitel überzeugend auf, dass nicht nur wie in bisherigen Konzepten unterstellt Synchronisation, sondern gerade auch Asynchronisation eine notwendige Bedingung des Gelingens im Lehr-Lern-Geschehen darstellt. „Das Auseinanderlaufen der Zeiten ist die Voraussetzung der Möglichkeit von Lehr-Lerninteraktionen“ (234). Weder vollständige Synchronisierung noch vollständige Asynchronizität werden von den Lernenden als konstruktiv erlebt. Vielmehr beschreiben sie einen gelungenen Umgang mit (A-)Synchronisation als situativen Wechsel zwischen Phasen stärkerer Synchronisiaton und stärkerer Asynchronisation.
Das Erkenntnispotential eines solchermaßen differenzierten und erweiterten Modells der Zeitlichkeit im Lehr-Lern-Geschehen zeigt sich im daran anschließenden achten Kapitel, das den Umgang der Akteure mit den in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeiteten strukturellen Momenten der Synchronisation und Asynchronisation zum Gegenstand hat. Die in den Interviews dokumentierten Handlungsorientierungen der Beteiligten können vor dem Hintergrund des entwickelten komplexen Modells präzise und in ihren jeweiligen Sinnbezügen angemessen rekonstruiert werden, so etwa wenn die Autorin schreibt: „Durch Relationierungen von Interaktionszeit und Verlaufsplanzeit (vor dem Hintergrund der chronometrischen Zeit) stellt der Verlaufsplan für den Dozenten eine Grundbedingung der Wahrnehmung von Zeitlichkeit dar.“ (206), oder wenn die Autorin festhält: Teilnehmende versuchen „zum einen, über die Kommunikation Interaktionszeit ihrer modalzeitlichen Organisation angepasst mit zu gestalten. Zum anderen beziehen sie ihr modalzeitliches Erleben aber auch bewusst auf den Interaktionszeitverlauf“ (179).
Die Monographie endet mit einem zusammenfassenden neunten Kapitel, in dem die Befunde diskutiert werden und auf offen gebliebene Fragen hingewiesen wird.
Die zentrale Leistung der vorliegenden Studie besteht darin, dass sie das bislang ausschließlich theoretisch entwickelte Konzept der „operativen Pädagogik“ zur differenten Zeitlichkeit im Lehr-Lern-Geschehen empiriefähig gemacht hat. Im Durchgang durch die Empirie kommt dabei „eine zeitliche Verflochtenheit der Unterrichtssituation mit unterschiedlichen Strukturen und Prozessen […] in den Blick.“ (233). Anhand der Daten wird nachvollziehbar, an welcher Stelle Differenzierungen des theoretischen Ausgangsmodells notwendig werden, um das Lehr-Lerngeschehen angemessen beschreiben zu können. Zudem werden Relationen klarer bestimmbar, einige werden überhaupt erst als relevant herausgearbeitet. Eine weitreichende theoretische Errungenschaft liegt dabei in der empirisch aufgewiesenen Bedeutung der Asynchronisation als der Synchronsation gleichwertiges konstitutives Moment im Lehr-Lern-Geschehen.
Wegweisend ist die zu diesem Zweck realisierte Verschränkung unterschiedlicher empirischer Zugänge zum untersuchten Geschehen. Dass sowohl Interviews mit dem Lehrenden als auch mit Lernenden als auch Aufnahmen des Interaktionsgeschehens selbst in die Analysen Eingang gefunden haben, ist nicht nur methodisch anspruchsvoll, sondern eröffnet auch neue theoretische Horizonte. Insbesondere die den empirischen Teil abschließenden Analysen des Umgangs der Beteiligten mit Zeit zeigen, dass die in der polyperspektivischen Empirisierung entstandene gesteigerte Komplexität der Modellierung ein angemessenes Verständnis des Gegenstands nicht etwa unnötig erschwert, sondern überhaupt erst ermöglicht.
Gegen eine für erziehungswissenschaftliche Zeitkonzepte übliche dichotome Gegenüberstellung zweier Zeitordnungen (hier die künstliche Zeitordnung der Pädagogik, dort die natürliche Ordnung des Lernens) stellt die Autorin so die Beobachtung einer Pluralität zeitlicher Logiken, die sich in einem transaktionalen Verhältnis wechselseitig voraussetzen.
Etwas zu eng erscheint allerdings zeitweise der Fokus einzig auf die Zeitlichkeit des Geschehens. Zwar überzeugt die durchgehende Orientierung an der Leitkategorie Zeit, doch bleiben allzu oft die zahlreichen im Datenmaterial aufscheinenden Hinweise auf Verschränkungen zwischen zeitlichen und inhaltlichen oder sozialen Dimensionen des Lehr-Lerngeschehens unbeachtet.
Auch die Beschränkung der Analyse auf einen einzigen Fall erweist sich zwar als für die konzeptionelle Anlage der Studie angemessen. Dennoch ist mit ihr eine deutliche Einschränkung der Reichweite der Ergebnisse verbunden. Entsprechend sind im Rahmen der Anwendung der in dieser Studie vorbildhaft vorgeführten zeittheoretischen Analysen auf weitere Fälle wesentliche Erweiterungen des vorgestellten Modells zu erwarten.
Die Studie erschließt in beeindruckender Tiefe und Detaillierung einen zentralen Aspekt des pädagogischen Geschehens. Sie sei daher nicht nur allen empfohlen, die sich mit Zeit als einer erziehungswissenschaftlichen Kategorie beschäftigen, sondern auch all denen, die sich für das Lehr-Lerngeschehen in empirischer und theoretischer Hinsicht interessieren.
EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)
Operieren mit Zeit
Empirie und Theorie von Zeitstrukturen in Lehr-Lernprozessen
Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
(246 S.; ISBN 978-3-5067-7041-7; 29,90 EUR)
Jörg Dinkelaker (Liestal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Dinkelaker: Rezension von: Berdelmann, Kathrin: Operieren mit Zeit, Empirie und Theorie von Zeitstrukturen in Lehr-Lernprozessen. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677041.html
Jörg Dinkelaker: Rezension von: Berdelmann, Kathrin: Operieren mit Zeit, Empirie und Theorie von Zeitstrukturen in Lehr-Lernprozessen. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677041.html