Vor dem Hintergrund der ambivalenten Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff innerhalb des gegenwärtigen bildungswissenschaftlichen Diskurses nimmt Christiane Thompson in der publizierten Fassung ihrer Habilitationsschrift eine kategoriale Neubestimmung von Bildung vor. Entgegen der kontemporär dominanten Ausrichtung des Bildungsdiskurses gehe es nicht darum, eine Entscheidung für oder gegen den Bildungsbegriff zu fällen oder eine neuerliche Bestimmung der Grundbedeutung von Bildung vorzunehmen (vgl. 14). Die problemangemessene Aufgabe bestehe vielmehr darin, eine „Reflexion über den Ort der Theorie der Bildung“ (12) anzustellen, um die begriffliche Qualität von Bildung – die „Begrifflichkeit des Begriffs“ (12) – in den Mittelpunkt zu rücken. Auf diesem Wege sei zu klären, wie sich Bildungstheorie „als Theorie versteht und welche Probleme mit diesem Selbstverständnis verbunden sind“ (12). Insofern kann die an den Randgängen der Bildungsphilosophie – so der Untertitel – situierte Studie Thompsons als Antwort auf die Frage gelesen werden: Wie über Bildung sprechen, ohne immer schon ein transzendentales Signifikat als Maßstab anzunehmen, zugleich jedoch den Diskurs um das Flotieren der Signifikanten gegenstandstheoretisch zu wenden und die vermeintliche Leere des Signifikanten Bildung nicht zum Selbstzweck diskursiver und disziplinärer Selbstvergewisserung zu erheben? Wie, so die leitende Frage der Studie, kann eine solche Theorie von Bildung als Theorie aussehen?
Dementsprechend wendet sich Thompson von einem als klassisch zu bezeichnenden Bildungsbegriff und an dessen Logik festhaltenden Neubestimmungen – im Sinne des Versuchs „ein Geschehen zu identifizieren, durch das ein Individuum (sein Selbst-, Welt- und Fremdverhältnis wandelnd) hindurch gegangen sein soll“ (200) – ab. Bildung wird von Thompson als ein „durch Grenzen konstituierter Erfahrungsprozess“ (16) betrachtet, dessen Bezugspunkt gerade nicht in einem selbsttransparenten, autonomen Subjekt gesehen werden kann, das sich selbst bestimmt. Der Erfahrungsprozess Bildung wird letztlich als ein Analyserahmen konkretisiert, der Subjektivierungen machtanalytisch untersucht, um Entsubjektivierung und somit Entunterwerfung zu ermöglichen. Dieser Neuansatz wird von Thompson im Wege einer auf die Grenzen von Erfahrung und Bildung bezogenen Verhältnisbestimmung verfolgt.
Unter Rückgriff auf den Erfahrungsbegriff in seinem modernen Problemgehalt (Kant / Hegel) arbeitet Thompson im ersten Kapitel die „doppelte Differenz (...) von Ich und Welt“ (31), also die Unbestimmbarkeit von Selbst und Welt, heraus. Mit dieser Analyse macht Thompson deutlich, dass ein sich selbst transparentes Subjekt nicht als Bezugspunkt von Erfahrung dienen kann. Dies betrachtet die Autorin jedoch nicht als einen Mangel, sondern, in Auseinandersetzung mit Humboldts Sprachphilosophie, als Konstituens einer bildenden Erfahrung. In der Humboldt’schen Konfrontation des Ich mit fremden Weltansichten erweise sich die „bildende Erfahrung als ein Grenzgeschehen, als ein destruierender Vorgang, in dem die Weltansicht und das Ich über sich hinaus geführt werden“ (46). Der produktive Charakter einer solchen Destruktion liege in dem durch dieselbe eröffneten „Bewusstsein, dass das Ich nicht in seiner vormaligen Weltansicht aufgeht und: dass die Welt in dieser Weltansicht nicht aufgeht“ (46), also in der Bewusstmachung der doppelten Differenz. Damit eröffne die bildende Erfahrung den Möglichkeitsraum eines unbeschränkten Andersseins (vgl. 76). Gerade in „der vergleichenden Sprachuntersuchung“ sieht Thompson bei Humboldt damit jedoch erneut eine „unabhängig von den Begrenzungen einer Weltansicht (...) unbegrenzte Selbstbestimmung“ (47) angelegt. Während der klassische Bildungsbegriff also noch „als Versprechen zukünftiger Selbstbestimmung“ (141; vgl. 46f) interpretiert werden könne, arbeitet Thompson mit Adorno einen „metaphysisch-ästhetischen Erfahrungstypus“ (141) als Form bildender Erfahrung heraus, der genau dies verunmöglicht, indem er uns mit der „Erfahrung des Scheiterns unserer verstehensmäßigen Zugriffe auf die Welt“ (141) konfrontiert.
Zu diesem Zweck weitet Thompson im zweiten Kapitel die ästhetische Erfahrung Adornos – die Erfahrung der Grenzen von Bestimmbarkeit im Modus der Rationalität in der Konfrontation mit Kunstwerken – auf bildende Erfahrung aus. Anlass hierzu ist der Autorin die „(potentielle) Ubiquität des Ästhetischen“ (136). Unter diesem Gesichtspunkt erscheine bildende Erfahrung „als kritische Unternehmung“ (142), die eine subversive Auseinandersetzung mit dem identifizierenden Denken ermögliche. „Der kritische Einschlag wandelt den Bildungsgedanken von einem Begriff identifizierender Selbstbestimmung zu einem subversiven Begriff, der Unsicherheit in unser Verhältnis zur Welt und uns selbst bringt“ (143). Indem die ästhetisch-metaphysische Erfahrung auf die Differenz von Ding und Begriff verweist, verunsichere sie unsere Verstehensbemühungen und ermögliche solchermaßen einen Bruch mit dem identifizierenden Denken. Die Bedeutung des ästhetisch-metaphysischen Erfahrungstypus für eine bildende Erfahrung liegt nach Thompson somit darin, dass er das Fremde als Fremdes erfahrbar macht (vgl. 144). Mit Adorno tritt Bildung jedoch primär als Verrätselung des Verhältnisses zur Welt und dem Selbst auf, da die Unsicherheit sowie Dezentrierung des Subjekts in den Vordergrund rückt. Wie Thompson anmerkt (vgl. 145), stellt sich vor diesem Hintergrund des Verlustes jeglicher Bezugspunkte die Frage, inwiefern mit Adorno noch von einer bildenden Erfahrung und einer darum bemühten Bildungstheorie gesprochen werden kann?
Mit dem dritten Kapitel gibt Thompson hierauf eine Antwort, indem sie „Foucaults Rede von Erfahrung zum Ausgangspunkt für eine analytische Kategorie der Bildung (…) [nimmt, M. R.], die Prozesse der Subjektivierung untersucht“ (150). Zur Konturierung dieses Analyserahmens arbeitet Thompson die enge Verbindung zwischen Foucaults Erfahrungsbegriff und seiner kritischen Ontologie der Gegenwart heraus, um einen Bruch mit dem modernen konstituierenden Subjekt denkbar zu machen. Dementsprechend betrachtet die Autorin bildende Erfahrung als einen entsubjektivierenden Prozess. An dieser Stelle werde Erfahrung zur Grenzerfahrung, welche durch Ver- und Befremdung ein „Anders-Werden“ (189) ermögliche. Die Erfahrung erweise sich dabei nicht zuletzt deshalb als Grenzerfahrung, da nicht nur transzendente Ordnungen ausgeräumt, sondern zugleich ein Ordnung stiftendes Subjekt negiert werde. Anders als bei Adorno liest Thompson genau dieses Moment in Foucaults Denken jedoch nicht als Endpunkt von Bildung, sondern als Ausgangspunkt eines allererst zu entwerfenden Analyserahmens (von oder für) Bildung. Die Verwobenheit von Erfahrung und kritischer Ontologie stellt Thompson anhand von Foucaults „Irrealisierung von Identität“ (165) dar, welche Ausdruck des genealogischen Bemühens um die Herkunft, im Gegensatz zum Ursprung, eines Gegenstandes sei. Es kehrt hier wieder, was bereits mit Adorno und dem Nicht-Identischen Thema war: die „Problematisierung bzw. Zerstörung der scheinbaren Einheit und Identität von Begriffen und Sachen“ (165). Ähnlich der ästhetischen Erfahrung Adornos entfremde auch die Genealogie vermeintlich selbstverständliche Bedeutungszuschreibungen. Vermittels genealogischer Analysen werde somit eine radikale „Historisierung von Wahrheit und Erkenntnis“ (165f) denkbar, die auf eine „Relativität dessen [verweist, M. R.], was zu einem gegebenen Zeitpunkt als wahr, schlüssig oder akzeptabel erscheint“ (166). Das Werkzeug hierfür liefere der Foucault’sche Machtbegriff (vgl. 173), der eine Distanzierung von vermeintlich festgesetzten Regel- und Ordnungszusammenhängen ermögliche (vgl. 172). Genealogie und Machtanalysen erlauben es, Thompsons Foucault-Lektüre folgend, zu zeigen, inwiefern das Subjekt selbst durch die etablierten und widerständigen Machtstrukturen konstituiert wird (vgl. 178, 189). Dies bedeute, dass das Subjekt nicht mehr als konstituierendes Subjekt und somit auch nicht „als Ausgangspunkt bildender Erfahrung“, ihr „Träger oder Substrat“ gesetzt werden könne, da es selbst „ein Effekt von Machtverhältnissen ist“ (211) und kein Ort außerhalb dieser Machtverhältnisse angenommen werden könne. Die Grenzerfahrung Foucaults zeichne sich demnach nicht durch einen Zuwachs an Wissen aus, sondern durch die Eröffnung eines Anders-Werdens. Die Möglichkeit dieses Anders-Werdens wiederum liege in dem, innerhalb der Grenzerfahrung angelegten, Umgang mit Wissen und Wahrheit: Nicht werde ein bestimmtes Wissen erworben und Erkenntnis vermehrt, vielmehr sei es in der Folge besagter Grenzerfahrung nicht mehr möglich, so weiter zu machen wie bisher.
Durch die innerhalb der Studie erfolgte Lektüre Kants, Hegels, Humboldts, Adornos und Foucaults macht die Bildungsphilosophie selbst eine Grenzerfahrung, wie sie von Thompson im Anschluss an Foucault dargestellt wird: Die mit Kant und Hegel angedachte Dezentrierung des Subjekts, Humboldts Verweis darauf, dass weder Welt noch Ich in einer bestimmten Weltansicht aufgehen, die von Adorno herausgestellte Verunsicherung durch „die Erfahrung des Scheiterns unserer verstehensmäßigen Zugriffe auf die Welt“ (141), sowie Foucaults Perspektive auf das Subjekt als einem Effekt von Machtbeziehungen provozieren, Thompsons Analyse folgend, nicht bloß einen Bruch mit einem selbsttransparenten, identischen und autonomen, kurz modernen Subjekt. Problematisch werde in weiterer Folge nicht nur die Bezugnahme auf Bildung als einem auf das Subjekt zentrierten Prozess. Vermittelt über Foucaults Grenzerfahrung regen sich für (und mit) Thompson Zweifel daran, Bildung als eine „Zuschreibungskategorie“ (201) zu betrachten, vermittels derer bestimmte Selbst-, Welt- und Fremdverhältnisse eines Subjekts als Bildung identifiziert werden könnten. Mit der Grenzerfahrung Foucaults breche ein Bildungsverständnis, das Transformationsprozesse bestimmt, die ein Subjekt durchschreitet. Thompson regt in diesem Sinn an, nicht jene Prozesse zu identifizieren und rekonstruieren, welche als Bildung benannt werden könnten, sondern Bildung als „ein analytisches Konzept [zu fassen, M. R.], das auf Erfahrung als Fiktion und Entsubjektivierung fokussiert“ (201), solchermaßen Subjektivierungen machtanalytisch untersucht und dementsprechend Entunterwerfung möglich mache.
Leider gerät die Darstellung der eigenen Positionierung Thompsons angesichts der zuvor geleisteten in- wie extensiven interpretativen Darstellung und Herleitung sehr kurz. Ebenso werden die Implikationen der Studie – bei erneut stark komprimierter Darstellung – abschließend auf breit aufgefächerte Themengebiete bezogen: die Bedeutung von Inszenierung für die Bildungsphilosophie, das Verhältnis von Theorie und Empirie, respektive Bildungsphilosophie und Bildungsforschung, sowie Kritik als erziehungswissenschaftliches Unterfangen; exemplarisch wäre in diesem Sinne eine Rückfrage an Thompsons wertschätzende Kritik an Kollers transformatorisches Bildungskonzept zu stellen: Die geübte Kritik führt mitunter dazu, dass die Ausrichtung oder jedenfalls die Implikationen von Thompsons eigener Positionierung abgeschwächt werden, da sich hier erneut eine materiale Bestimmung von Bildung abzeichnet, die wiederum von ihrer kategorial-analytischen Betrachtungsweise abweicht. Wenn Bildung als Analyserahmen angesichts einer „kritisch theoretische[n] wie poststrukturalistische[n] Verabschiedung des Gedankens einfacher Identität und Präsenz“ (218) Abstand nehmen muss von Bildung als einer „Zuschreibungskategorie“ (201), so wird fraglich, ob etwa an dem transformatorischen Bildungskonzept Kollers und dessen empirischen Untersuchungen lediglich eine noch nicht hinreichend vollzogene Kritik der Rhetorizität von Sprache zu attestieren ist (vgl. 218f). Angesichts der Darlegungen Thompsons ließe sich fragen, wie eine empirische Bildungsforschung, welche etwa biographische (Selbst-)Auskünfte auf Bildungserfahrungen befragt, jenseits eines erneut identifizierenden Gestus operieren könnte, und demnach gerade nicht bestimmte biographische Elemente als Figurationen von Bildung dechiffriert und damit identifiziert – vorausgesetzt allerdings, dass sie sich methodologisch einer immer schon vorausliegenden Identifikation derselben zu entziehen wüsste.
Dass Thompson sich erneut auf die Begrifflichkeit von Bildung zurückbesinnt und eine kategoriale (Neu-)Vermessung von Bildung vornimmt, macht ihre Studie zu einem wichtigen Beitrag für den kontemporären bildungsphilosophischen Diskurs. Es wird eine Abkehr von der gängigen Auffassung des Bildungsbegriffs vorgenommen, die Bildung als Prozess fasst, den ein Subjekt durchschreitet – selbst dann noch, wenn ihm dabei allerlei widerfährt und ihm dadurch ein rein auktorialer Gestus genommen scheint. Die Studie Thompsons lässt sich in jenen Lektürerahmen einordnen, innerhalb dessen Bildung – in ihrer klassisch neuhumanistischen Ausprägung und darauf aufbauenden Neubestimmungen – selbst als eine Form von Subjektivierung erscheint. Die Autorin wendet sich durch diese Einsicht jedoch nicht vom Bildungsbegriff ab, sondern versucht, diesem als analytische Kategorie eine neue Signatur zu geben. Darin kommt nicht zuletzt ein gewandeltes Verständnis von Theorie zum Ausdruck, das Thompson mit Adornos Begriff der Physiognomie (vgl. 96f) und Foucaults machtanalytischer Beschäftigung mit Herkunft in seinen Erfahrungsbüchern (vgl. 179f), sowie, ihre Studie abschließend, anhand des Begriffs der Inszenierung (vgl. 212–216) thematisiert. Theorie erscheint in diesem Zusammenhang nicht mehr als „Erklärungsrahmen“ (96) von Wahrheitsansprüchen. Theorie wird in der Studie Thompsons auf die ihr inhärente Unwahrheit bezogen, indem sie vor der Signatur ihres eigenen Zeitalters her betrachtet wird.
Das Buch sei somit all jenen empfohlen, die eine (bildungs-)philosophisch tiefgehende Auseinandersetzung mit vermeintlich aufzugebenden Begrifflichkeiten ebenso wenig scheuen wie sie auch um eine empirische Erforschung von Bildung abseits positivistischer Fallstricke bemĂĽht sind.
EWR 14 (2015), Nr. 1 (Januar/Februar)
Bildung und die Grenzen der Erfahrung
Randgänge der Bildungsphilosophie
Paderborn: Schöningh 2009
(243 S.; ISBN 978-3-506-76721-9; 37,90 EUR)
Markus Reiner (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus Reiner: Rezension von: Thompson, Christiane: Bildung und die Grenzen der Erfahrung, Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676721.html
Markus Reiner: Rezension von: Thompson, Christiane: Bildung und die Grenzen der Erfahrung, Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676721.html