
Wenn man sich in der Forschung mit der Frage der zunehmenden Ambulantisierung beschäftigt, dann werden meistens – und dafür gibt es gute Gründe – gewisse Institutionen wie psychiatrische Kliniken, sonderpädagogische Heime etc. untersucht. [2] Im Gegensatz zu einer solchen Spezialisierung hat der Band nun den großen Vorzug, gleich vier unterschiedliche Bereiche in den Blick zu nehmen und daher sozusagen interdisziplinär und komparatistisch angelegt zu sein. So wird der „ambulante“ Wandel in der Heimerziehung, bei den „Versorgungsstrukturen für Menschen mit Behinderung“, für die Psychiatrie und bei Devianz und Delinquenz untersucht. Die Beiträge konzentrieren sich dabei vor allem auf die BRD, es werden jedoch auch aufschlussreiche „Exkursionen“ in die DDR, die Schweiz, die Vereinigten Staaten oder nach Großbritannien unternommen.
Ein weiteres großes Verdienst des Bandes ist es, diese „ambulante“ Transformation stationärer Institutionen sowohl klassisch unter Einbezug der generellen gesellschaftlichen Veränderungen der siebziger Jahre, also etwa soziale Bewegungen, Antipsychiatrie, Heimkritik, die sich verändernde Politik, wandelnde Wirtschaft etc., zu betrachten als auch den Praktiken und Prozessen der einsetzenden „Öffnung“ ein besonderes Augenmerk zu schenken: Wie wurden die Reformen bewerkstelligt? Mit welchen Schwierigkeiten kämpfte man? Welche regionalen, nationalen, internationalen Vorbilder gab es? Was bedeuteten die Veränderungen für die Patienten und Patientinnen, für die Mitarbeitenden? So untersucht Marc von Miquel die Entstehung der internationalen Behindertenbewegung, die in Amerika und Großbritannien von Anfang an „das stationäre Versorgungsmodell“ kritisierte (125), indem er die zum Teil sehr unterschiedlichen Positionen in den beiden Ländern herausarbeitet und aufzeigt, wie sich das neue soziale „Modell“ von Behinderung durchsetzte. Was dieser Wandel konkret an „zähen Verhandlungen, enttäuschten Erwartungen und mühsamen Professionalisierungsbestrebungen“ (123) bedeutete, führt etwa Jonas Fischer am Beispiel der Stadt Dortmund vor Augen. Wie Hans-Walter Schmuhl für die von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel u. a. belegt, bedeuteten solche Reformen um 1970 immer auch, dass neue „Berufsgruppen wie Psychologen, Heilpädagogen, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter usw.“ in die Anstalten kamen und „transnationale Wissenstransfers“ wichtig wurden. Als nämlich die „herkömmlichen Formen der Pflege und Betreuung“ in Verruf gerieten, „wandte sich der Blick der Verantwortlichen in vielen Einrichtungen“ hilfesuchend dem Ausland zu (242; vgl. auch Ramsbrock, 254–255).
Wie bereits diese Beispiele zeigen, sind die detaillierten Fallstudien ein weiterer großer Vorzug des Bandes. Denn wie sie belegen, kam es fraglos zu einem Abbau gewisser stationärer Institutionen, er vollzog sich jedoch − wenig verwunderlich − sehr unterschiedlich. So wurden in der DDR auch nach 1970 zunächst noch „Großkinderheime“ gebaut (Laudien, 41) und auch in der BRD wurden vereinzelt neue ausbruchssichere „therapeutische [...] Intensivgruppen“ als Teil von Erziehungsheimen errichtet (Kaminsky, 83). Genauso wurde das Angebot neuer, als fortschrittlich verstandener – obschon stets umstrittener – stationärer Institutionen für Suchtkranke (Wehner) und Obdachlose (Schenk) noch zu dieser Zeit ausgebaut. Auch hier boten mit etwas Verzögerung die ab den neunziger Jahren dann allmählich aufkommenden ambulanten Angebote neue Alternativen. Nicht bloß für diese Fälle hat Carola Kuhlmann jedoch sicherlich recht – und das verdeutlichen die meisten der versammelten Untersuchungen –, dass trotz des Hinzukommens neuer differenzierter Unterbringungsformen bestimmte Merkmale „totaler Institutionen“ wie der geringe Grad der Ausrichtung am Individuum in weniger totalen Einrichtungen nicht unbedingt verschwanden (66–68).
Der Band zeigt, dass es äußerst lohnenswert ist, diese komplexen Veränderungen akribisch zu untersuchen und dafür unterschiedliche Quellen zur Hilfe zu nehmen wie Archivmaterial, Interviews, Gesetze, Tageszeitungen, aber auch sogenannte Patientenzeitungen, Haftgefangenenzeitschriften oder Fotografien. So konnte ein reformpsychiatrischer Vorsteher einer großen Anstalt auf die Hilfe eines Pflegers und Amateurphotographen zählen: 122 Schwarz-Weiß-Aufnahmen sollten die „brutale Realität“ der psychiatrischen Anstalt dokumentieren (Kersting, 194). Methodisch avanciert werden im Band nicht nur unterschiedliche Quellengattungen verwendet, sondern auch unterschiedliche Perspektiven eingenommen – etwa auch die der Betroffenen. So untersucht Ulrike Winkler Rituale und Praktiken des „Drinnenseins, Draußenseins“ „geschlossener“ Anstalten, die ebenfalls „Öffnungen“ etwa durch „Ausgangserlaubnisscheine“ kannten (91, 96), während gar Gefängnisse begannen, mit „Beurlaubung“ und begleitetem Freigang zu experimentierten, wie Annelie Ramsbrock für die Resozialisierungsversuche in sozialtherapeutischen Anstalten nachzeichnet (253, 259). Wie Martin Lengwiler am Schluss des Bandes resümiert, lautet daher eine der wichtigen Fragen, was eigentlich „unter dem Strich vom Narrativ der großen Einschließung und der Ära der totalen Institutionen“ noch übrigbleibe. Denn „diese Prozesse“ seien schon „früh von gegenläufigen Tendenzen begleitet“ worden: „Schließungs- und Öffnungsprozesse scheinen stärker ineinander verflochten als bislang angenommen“ (320). Zu einer solchen „Verflechtungsgeschichte“ leistet der Band einen eindrücklichen Beitrag.
[1] Vgl. z. B. Heinz-Peter Schmiedebach (1996). Eine ‚antipsychiatrische Bewegung‘
um die Jahrhundertwende. In Dinges, M. (Hrsg). Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870 - ca. 1933). S. 127–159. Franz Steiner Verlag; Tomke, H. (2013). Zum institutionalisierten Umgang mit psychisch Erkrankten um 1900. Historische und aktuelle Interessenkonflikte zwischen Klienten und Praktikern in psychiatrischen Institutionen. Zeitschrift für Sozialpädagogik (11)2, 129–147.
[2] Vgl. z. B. Kritsotaki, D., Long, V., & Smith, M. (Hrsg.). (2016). Deinstitutionalisation and after: Post-war psychiatry in the western world. Palgrave Macmillan.