EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Wilfried Rudloff / Franz-Werner Kersting / Marc von Miquel / Malte Thießen (Hrsg.)
Ende der Anstalten?
Großeinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er Jahren
Paderborn: Brill Schöningh 2022
(326 S.; ISBN 978-3-506-70836-6; 64,00 EUR)
Ende der Anstalten? In der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts kam es international zu einem beispiellosen Ausbau stationĂ€rer Institutionen – Anstalten, GefĂ€ngnisse, Heime, Internate, Kliniken, Seminare. Zumindest in einem organisatorischen Sinn kann also durchaus ein „grand renfermement“ (Michel Foucault) beobachtet werden, das mit der Entstehung moderner National- und erst recht moderner Sozialstaaten einherging. Die zahlreichen neuen Formen der „Einschließung“ wurden nicht nur begrĂŒĂŸt, sondern waren von Anfang an umstritten und schĂŒrten Ängste, wie etwa die, von der Familie fĂŒr verrĂŒckt erklĂ€rt und in einer Irrenanstalt weggesperrt zu werden [1]. In der Mitte des 20. Jahrhunderts schien das berĂŒhmte Pendel dann in die entgegengesetzte Richtung auszuschlagen, was wiederum fĂŒr hitzige Debatten sorgte und abermals BefĂŒrchtungen weckte. So setzte ab den sechziger Jahren eine allmĂ€hliche „Öffnung“ ein: Die Mauern von Kliniken wurden geschleift, Wohngruppen gegrĂŒndet, Tageskliniken und Übergangsheime eröffnet, ambulante Hilfe- und Pflegedienste aufgebaut, sozialtherapeutische Angebote geschaffen oder erste Versuche mit dem gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung unternommen. Dieser Wandel wird in der Forschung gerne als Deinstitutionalisierung bezeichnet. Wie die Herausgeber des aufschlussreichen Bandes in ihrer lesenswerten EinfĂŒhrung betonen, hat die Bezeichnung den Nachteil, ungenau und irrefĂŒhrend zu sein (Rudloff, Kersting, von Miquel & Thießen, 4). Denn der Umbau der herkömmlichen stationĂ€ren Einrichtungen war nur möglich, weil sich eine Vielzahl neuer ambulanter Institutionen hinzugesellten. Es wurde also nicht so sehr de- als vielmehr uminstitutionalisiert. So kann in der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts zwar tatsĂ€chlich „das endgĂŒltige ,Sterben‘ der großen Anstalten“, wie es Jens GrĂŒndler etwa fĂŒr Glasgow zeigt (188), beobachtet werden, aber es handelt sich eben „nur“ um das „Ende eines bestimmten Anstaltstyps“ (192). Folgerichtig wird im Band statt von Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung prĂ€ziser von „Ambulantisierung“ (GrĂŒndler, 175), „Dezentralisierung“ (Winkler, 103), „Flexibilisierung“ (Wehner, 269), „Transinstitutionalisierung“, „Umhospitalisierung“ (Beyer, 170) oder „Umstrukturierung“ (Kuhlmann, 63) gesprochen. Der ĂŒberzeugende Sammelband untersucht die Geschichte dieser Verschiebung der institutionellen Gewichte nuanciert „als vielschichtigen, mĂŒhsamen und keineswegs irreversiblen Prozess“ (Rudloff, Kersting, von Miquel & Thießen, 22), der seine eigenen „Risiken und Nebenwirkungen“ barg.

Wenn man sich in der Forschung mit der Frage der zunehmenden Ambulantisierung beschĂ€ftigt, dann werden meistens – und dafĂŒr gibt es gute GrĂŒnde – gewisse Institutionen wie psychiatrische Kliniken, sonderpĂ€dagogische Heime etc. untersucht. [2] Im Gegensatz zu einer solchen Spezialisierung hat der Band nun den großen Vorzug, gleich vier unterschiedliche Bereiche in den Blick zu nehmen und daher sozusagen interdisziplinĂ€r und komparatistisch angelegt zu sein. So wird der „ambulante“ Wandel in der Heimerziehung, bei den „Versorgungsstrukturen fĂŒr Menschen mit Behinderung“, fĂŒr die Psychiatrie und bei Devianz und Delinquenz untersucht. Die BeitrĂ€ge konzentrieren sich dabei vor allem auf die BRD, es werden jedoch auch aufschlussreiche „Exkursionen“ in die DDR, die Schweiz, die Vereinigten Staaten oder nach Großbritannien unternommen.

Ein weiteres großes Verdienst des Bandes ist es, diese „ambulante“ Transformation stationĂ€rer Institutionen sowohl klassisch unter Einbezug der generellen gesellschaftlichen VerĂ€nderungen der siebziger Jahre, also etwa soziale Bewegungen, Antipsychiatrie, Heimkritik, die sich verĂ€ndernde Politik, wandelnde Wirtschaft etc., zu betrachten als auch den Praktiken und Prozessen der einsetzenden „Öffnung“ ein besonderes Augenmerk zu schenken: Wie wurden die Reformen bewerkstelligt? Mit welchen Schwierigkeiten kĂ€mpfte man? Welche regionalen, nationalen, internationalen Vorbilder gab es? Was bedeuteten die VerĂ€nderungen fĂŒr die Patienten und Patientinnen, fĂŒr die Mitarbeitenden? So untersucht Marc von Miquel die Entstehung der internationalen Behindertenbewegung, die in Amerika und Großbritannien von Anfang an „das stationĂ€re Versorgungsmodell“ kritisierte (125), indem er die zum Teil sehr unterschiedlichen Positionen in den beiden LĂ€ndern herausarbeitet und aufzeigt, wie sich das neue soziale „Modell“ von Behinderung durchsetzte. Was dieser Wandel konkret an „zĂ€hen Verhandlungen, enttĂ€uschten Erwartungen und mĂŒhsamen Professionalisierungsbestrebungen“ (123) bedeutete, fĂŒhrt etwa Jonas Fischer am Beispiel der Stadt Dortmund vor Augen. Wie Hans-Walter Schmuhl fĂŒr die von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel u. a. belegt, bedeuteten solche Reformen um 1970 immer auch, dass neue „Berufsgruppen wie Psychologen, HeilpĂ€dagogen, SozialpĂ€dagogen, Sozialarbeiter usw.“ in die Anstalten kamen und „transnationale Wissenstransfers“ wichtig wurden. Als nĂ€mlich die „herkömmlichen Formen der Pflege und Betreuung“ in Verruf gerieten, „wandte sich der Blick der Verantwortlichen in vielen Einrichtungen“ hilfesuchend dem Ausland zu (242; vgl. auch Ramsbrock, 254–255).

Wie bereits diese Beispiele zeigen, sind die detaillierten Fallstudien ein weiterer großer Vorzug des Bandes. Denn wie sie belegen, kam es fraglos zu einem Abbau gewisser stationĂ€rer Institutionen, er vollzog sich jedoch − wenig verwunderlich − sehr unterschiedlich. So wurden in der DDR auch nach 1970 zunĂ€chst noch „Großkinderheime“ gebaut (Laudien, 41) und auch in der BRD wurden vereinzelt neue ausbruchssichere „therapeutische [...] Intensivgruppen“ als Teil von Erziehungsheimen errichtet (Kaminsky, 83). Genauso wurde das Angebot neuer, als fortschrittlich verstandener – obschon stets umstrittener – stationĂ€rer Institutionen fĂŒr Suchtkranke (Wehner) und Obdachlose (Schenk) noch zu dieser Zeit ausgebaut. Auch hier boten mit etwas Verzögerung die ab den neunziger Jahren dann allmĂ€hlich aufkommenden ambulanten Angebote neue Alternativen. Nicht bloß fĂŒr diese FĂ€lle hat Carola Kuhlmann jedoch sicherlich recht – und das verdeutlichen die meisten der versammelten Untersuchungen –, dass trotz des Hinzukommens neuer differenzierter Unterbringungsformen bestimmte Merkmale „totaler Institutionen“ wie der geringe Grad der Ausrichtung am Individuum in weniger totalen Einrichtungen nicht unbedingt verschwanden (66–68).

Der Band zeigt, dass es Ă€ußerst lohnenswert ist, diese komplexen VerĂ€nderungen akribisch zu untersuchen und dafĂŒr unterschiedliche Quellen zur Hilfe zu nehmen wie Archivmaterial, Interviews, Gesetze, Tageszeitungen, aber auch sogenannte Patientenzeitungen, Haftgefangenenzeitschriften oder Fotografien. So konnte ein reformpsychiatrischer Vorsteher einer großen Anstalt auf die Hilfe eines Pflegers und Amateurphotographen zĂ€hlen: 122 Schwarz-Weiß-Aufnahmen sollten die „brutale RealitĂ€t“ der psychiatrischen Anstalt dokumentieren (Kersting, 194). Methodisch avanciert werden im Band nicht nur unterschiedliche Quellengattungen verwendet, sondern auch unterschiedliche Perspektiven eingenommen – etwa auch die der Betroffenen. So untersucht Ulrike Winkler Rituale und Praktiken des „Drinnenseins, Draußenseins“ „geschlossener“ Anstalten, die ebenfalls „Öffnungen“ etwa durch „Ausgangserlaubnisscheine“ kannten (91, 96), wĂ€hrend gar GefĂ€ngnisse begannen, mit „Beurlaubung“ und begleitetem Freigang zu experimentierten, wie Annelie Ramsbrock fĂŒr die Resozialisierungsversuche in sozialtherapeutischen Anstalten nachzeichnet (253, 259). Wie Martin Lengwiler am Schluss des Bandes resĂŒmiert, lautet daher eine der wichtigen Fragen, was eigentlich „unter dem Strich vom Narrativ der großen Einschließung und der Ära der totalen Institutionen“ noch ĂŒbrigbleibe. Denn „diese Prozesse“ seien schon „frĂŒh von gegenlĂ€ufigen Tendenzen begleitet“ worden: „Schließungs- und Öffnungsprozesse scheinen stĂ€rker ineinander verflochten als bislang angenommen“ (320). Zu einer solchen „Verflechtungsgeschichte“ leistet der Band einen eindrĂŒcklichen Beitrag.

[1] Vgl. z. B. Heinz-Peter Schmiedebach (1996). Eine ‚antipsychiatrische Bewegung‘
um die Jahrhundertwende. In Dinges, M. (Hrsg). Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870 - ca. 1933). S. 127–159. Franz Steiner Verlag; Tomke, H. (2013). Zum institutionalisierten Umgang mit psychisch Erkrankten um 1900. Historische und aktuelle Interessenkonflikte zwischen Klienten und Praktikern in psychiatrischen Institutionen. Zeitschrift fĂŒr SozialpĂ€dagogik (11)2, 129–147.
[2] Vgl. z. B. Kritsotaki, D., Long, V., & Smith, M. (Hrsg.). (2016). Deinstitutionalisation and after: Post-war psychiatry in the western world. Palgrave Macmillan.
Patrick BĂŒhler und Daniel Deplazes (Solothurn und ZĂŒrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Patrick BĂŒhler und Daniel Deplazes: Rezension von: Rudloff, Wilfried / Kersting, Franz-Werner / Miquel, Marc von / Thießen, Malte (Hg.): Ende der Anstalten?, Großeinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er Jahren. Paderborn: Brill Schöningh 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350670836.html