Was kann man von dieser Publikation erwarten, von und mit einer so eindrucksvollen wissenschaftlichen Persönlichkeit wie Wolfgang Klafki, die auf nunmehr 426 Publikationen zurĂŒckblicken kann? Was hat Klafki uns Neues mitzuteilen, fernab seiner unermĂŒdlich vorgetragenen Thesen fĂŒr eine Neufassung des Bildungsbegriffs, fĂŒr die Notwendigkeit der Bearbeitung von SchlĂŒsselproblemen im Schulunterricht und die vielen SchulreformvorschlĂ€ge, die er in den vergangenen Jahrzehnten mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern entwickelt hat? â Inhaltlich bietet diese Veröffentlichung wenig Neues, wohl aber ist die Form neu und recht ungewöhnlich im positiven Sinne. Es handelt sich, wie der Untertitel verrĂ€t, um einen âautobiografischen und erziehungswissenschaftlichen Dialogâ, den Karl-Heinz Braun mit Klafki fĂŒhrt, und so besteht das gesamte Buch mit Ausnahme des Vorworts und zwei ausfĂŒhrlichen tabellarischen Biografien der Dialogpartner aus Rede und Gegenrede. Dieser Dialog ist systematisch aufgegliedert in drei Teile, die der Chronologie Klafkis Lebens entsprechen und an Umfang jeweils leicht zunehmen:
I. PĂ€dagogische Erfahrung und wissenschaftliche PĂ€dagogik (48 S.)
II. Theoretische und methodische Grundlagen der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft (60 S.)
III. Aktuelle und perspektivische Aufgabenfelder der Schulreform (70 S.)
Im ersten Teil âPĂ€dagogische Erfahrung und wissenschaftliche PĂ€dagogikâ, der in zwei gröĂere Unterkapitel aufgeteilt ist, werden einzelne Stationen der ersten 43 Jahre von Klafkis Leben thematisiert. Erörtert wird zunĂ€chst grundsĂ€tzlich der reflexive Bezug auf die âeigenen biografischen Erfahrungen als dialektische Denkbewegungâ (11). Klafki schildert seine Erfahrungen als Educandus in der elterlichen Erziehung. Zu seiner Mutter hatte er laut Braun âin den ersten Lebensjahren eine besonders enge emotionale Beziehungâ (ebd.), und sein Vater wirkte nicht nur in seiner Vaterrolle ĂŒberzeugend, sondern war insgesamt ein âĂŒberzeugender Lehrer und Erzieherâ (Klafki, ebd.). Klafkis damalige Haltung zum Nationalsozialismus wird kurz angesprochen mit einer zurĂŒckblickenden ausfĂŒhrlichen BegrĂŒndung dafĂŒr, dass auch heutige Kinder und Jugendliche sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen sollten (vgl. 17ff.).
Das Thema âAufarbeitung der Vergangenheitâ spielt im Folgenden immer wieder eine Rolle, weil das Problem der zu zögerlichen Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit dem Schrecken, der sich in Deutschland in den 1930er und 40er Jahren ereignete, auch in Klafkis weiterfĂŒhrendem akademischen Lebensgang immer wieder virulent wurde. Nach dem Krieg wandte er sich wĂ€hrend seines Erst- und Zweitstudiums an der pĂ€dagogischen Hochschule in Hannover und von 1952 bis 1957 an den UniversitĂ€ten Göttingen und Bonn der damals dominierenden Strömung der Geisteswissenschaftlichen PĂ€dagogik zu. Dazwischen war Klafki vier Jahre lang Volksschullehrer in Schaumburg-Lippe und ab 1956 Assistent zunĂ€chst bei Gustav Heckmann in Hannover und zwischen 1961 bis 1963 bei Ernst Lichtenstein in MĂŒnster. Klafki weiĂ erstaunlich detailgenau von markanten Punkten seiner Bildungskarriere zu berichten, beispielsweise von seiner zweiten LehramtsprĂŒfung oder seiner Promotion bei Erich Weniger in Göttingen. In diesem Kapitel erfĂ€hrt man nicht nur interessante Details ĂŒber sein damaliges VerhĂ€ltnis zu Erich Weniger, sondern auch, wie bedeutsam fĂŒr ihn in jener Zeit die dialektischen Studien Theodor Litts waren, oder dass das fĂŒr ihn damals schon bedeutsame reformpĂ€dagogische Denken an den Schulen Niedersachsens in den 1940er und 50er Jahren zumindest ansatzweise praktisch verwirklicht werden konnte. Kritisch hebt Klafki rĂŒckblickend auf diese Zeit hervor, dass die gesellschaftlichen Bedingungen von Erziehungsprozessen insgesamt noch zu wenig reflektiert wurden, obgleich dies bei Weniger und Litt durchaus schon angedacht war.
Die Geisteswissenschaftliche PĂ€dagogik wird nĂ€her betrachtet im folgenden Abschnitt, in dem ihre Theoriearchitektonik systematisch entfaltet wird von den Grundlagen der Klassiker (Wilhelm Dilthey) ĂŒber die ErlĂ€uterung ihrer Verfahrensweise (Hermeneutik) bis hin zum VerhĂ€ltnis zum Nationalsozialismus vor und nach 1945. Der letzte Abschnitt dieses ersten Teils widmet sich schlieĂlich der Konzeption des Projekts âFunk-Kolleg Erziehungswissenschaftâ (1969-1970), das Klafki mit Mitarbeitern herausgegeben hat und wissenschaftsgeschichtlich und biografisch als ein âDokument des Ăbergangsâ (57) von der Geisteswissenschaftlichen PĂ€dagogik zur kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft betrachtet wird. Hier kommen bezogen auf das mit ĂŒber eine Millionen verkauften Exemplaren bis heute quantitativ erfolgreichste pĂ€dagogische EinfĂŒhrungswerk interessante (hochschul-)didaktische Ăberlegungen zur Sprache.
Im zweiten Hauptteil âTheoretische und methodische Grundlagen der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaftâ geht es um die Zeit von 1971 bis in die 1980er Jahre. Klafki entfaltet hier seinen Ansatz der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft, den er weniger als eine Abwendung von der Geisteswissenschaftlichen PĂ€dagogik als vielmehr eine Erweiterung Geisteswissenschaftlicher PĂ€dagogik mit kritisch-konstruktiven Momenten versteht. Entscheidend ist zunĂ€chst die Hinwendung zur Kritischen Theorie, die Klafki bereits zu Beginn der 1960er Jahre vollzieht. Dabei rekurriert er vor allem auf den Vertreter Kritischer Theorie der zweiten Generation JĂŒrgen Habermas, gleichwohl dieser mit seiner spĂ€teren diskurstheoretischen Wende von einigen Forschern nicht mehr zur Kritischen Theorie im engeren Sinne gezĂ€hlt wird. Um eine rein philologische Aufarbeitung der Kritischen Theorie geht es Klafki indes nicht, zumal das schlechterdings nicht möglich wĂ€re, da sich diese ja selbst als ein âoffenes Projektâ (Klafki, 62) verstehe. Wie im folgenden Zitat deutlich wird, geht es Klafki vielmehr um die Frage, welche Möglichkeiten die Kritische Theorie fĂŒr die Bearbeitung bestimmter pĂ€dagogischer Fragestellungen zur VerfĂŒgung stellen kann: âKlafki:[...] Auch fĂŒr die Kritische Theorie wie fĂŒr jede andere philosophische bzw. gesellschaftsphilosophische Position gilt m. E.: Es kann nicht darum gehen, sie unabhĂ€ngig von einer Befragung unter erziehungswissenschaftlichen Gesichtspunkten und reflektierter pĂ€dagogischer Erfahrung explizit oder implizit zur neuen Basistheorie fĂŒr die PĂ€dagogik machen zu wollen, zumal sie diesen Anspruch selbst nie erhoben hat. Im âGesprĂ€châ zwischen Erziehungswissenschaft und Kritischer Theorie stehen m. E. beide auf dem PrĂŒfstand!â (63, Hervorhebungen im Original).
Die kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft wird in einen Verweisungszusammenhang gebracht mit anderen erziehungswissenschaftlichen AnsĂ€tzen wie dem polit-ökonomischen Ansatz, dem zuvor ausfĂŒhrlich behandelten hermeneutischen Ansatz sowie dem erfahrungswissenschaftlichen und dem sog. kritischen oder emanzipatorischen Ansatz. Dabei gehe es nicht, wie Klafki hervorhebt, um eine bloĂe âAddition von Empirie, Hermeneutik und politisch-ökonomischer Bedingungsanalyse sowie Ideologiekritikâ (65), als vielmehr um die dialektische Arbeit einer integrativ zu verstehenden Aufhebung dieser Strömungen. In das ĂŒbergreifende Konzept der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft gehören, wie Klafki und Braun gemeinsam herausarbeiten, demnach die politisch-ökonomische Bedingungsanalyse und Ideologiekritik (vgl. 67f.), die hermeneutische ErschlieĂung von SinnzusammenhĂ€ngen (vgl.75f.) und selbstverstĂ€ndlich auch empirische Forschungsverfahren (vgl. 80f.). Hervorzuheben ist, dass diese theoretischen Anstrengungen fĂŒr Klafki niemals Selbstzweck waren, sondern immer dazu dienen sollten, âpĂ€dagogische Praxis umfassend aufzuklĂ€renâ (83), womit er selbst noch einmal mit Nachdruck auf das konstruktive Element seiner erziehungstheoretischen Konzeption hinweist.
Der letzte Abschnitt des zweiten Teils dieses GesprĂ€chs widmet sich der damals populĂ€ren Methode der Handlungsforschung als Erkenntnis- und Praxisfortschritt, die am Beispiel des Marburger Grundschulprojekts erörtert wird, das Klafki mit Mitarbeitern von 1971 bis 1977 durchgefĂŒhrt hat. Damit wird wohlwollend-kritisch zurĂŒckgeschaut auf die ReformbemĂŒhungen und die konkrete Forschungspraxis kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft.
Auch wenn im Inhaltsverzeichnis dieses Buches die Jahre 1978 bis 1991 ausgespart bleiben, sind die 1980er Jahre im Dialog zwischen Klafki und Braun im zweiten Teil ebenso prĂ€sent wie zu Beginn des dritten Teils âAktuelle und perspektivische Aufgabenfelder der Schulreformâ. Dennoch liegt der Fokus hier auf Klafkis KommissionstĂ€tigkeit seit 1992. ZunĂ€chst geht es um die Arbeit in der Bremer Reformkommission von 1992 bis 1993 und der nordrhein-westfĂ€lischen Bildungskommission von 1992 bis 1995. Klafki erörtert in konzentrierter Weise die Kernelemente der Bremer Reformkommission, die Braun etwas kritischer als die ĂŒbrigen GesprĂ€chsthemen kommentiert. Nach der ErlĂ€uterung des pĂ€dagogischen Schulkonzepts der vom damaligen nordrhein-westfĂ€lischen MinisterprĂ€sident Johannes Rau ins Leben gerufenen Kommission, die die Schule als ein âHaus des Lernensâ begreift (vgl.137f.), und einer Vielzahl von konkret ausgefĂŒhrten ReformvorschlĂ€gen, die sich nicht nur auf die Ebene des Schulunterrichts, sondern auch auf schulorganisatorische Bedingungen beziehen, werden von diesen Forschungsergebnissen ausgehend abschlieĂende Ăberlegungen ĂŒber die Schule der Zukunft angestellt. Mit diesem letzten Abschnitt âĂber PISA hinaus: Welche Schule hat Zukunft?â sind die GesprĂ€chspartner in der Gegenwart angelangt und es wird nun der Blick nach vorn gewagt. Dabei stehen zwei Fragekomplexe im Vordergrund: 1.) Welchen Stellenwert haben Leistungsvergleiche und Bildungsstandards im Rahmen einer nachhaltigen Schulreform? 2.) Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus der bisherigen Diskussion zwischen Klafki und Braun fĂŒr eine zukunftsoffene und zukunftsfĂ€hige Schule? â WĂ€hrend der erste Fragekomplex Ă€uĂerst knapp behandelt wird â Braun spricht von einem âfreundlich-skeptische[n] VerhĂ€ltnisâ (162) Klafkis zu PISA â, werden im abschlieĂenden Teil ausfĂŒhrlich âsechs Sinndimensionenâ dargestellt, die konstitutiv sind fĂŒr einen aktuellen Bildungsbegriff. Diese sind:
- Die Pragmatische Sinndimension
- Sinndimension âSchlĂŒsselprobleme der modernen Weltâ
- Die Àsthetische Bildungsdimension
- âMenschheitsthemenâ
- âEthische Bildungâ in der Schule
- Bewegungsbildung.
Wie die Darstellung gezeigt hat, ist dieser umfangreiche Dialog sinnvoll aufgebaut und in seiner Anlage systematisch. Nach dem ersten eher biografischen Teil und dem zweiten eher wissenschaftstheoretischen Teil werden im dritten Teil Reformfragen angesprochen, die fĂŒr eine weiter voranzubringende Demokratisierung und Humanisierung der Schule von Bedeutung sind. Dieser m.E. schlĂŒssige Aufbau macht den Dialog â gerade auch fĂŒr Nicht-Klafki-Kenner â als eine EinfĂŒhrung gut lesbar, wobei die angenehme und behutsame GesprĂ€chslenkung Karl-Heinz Brauns besonders hervorzuheben ist. Braun fĂŒhrt das GesprĂ€ch zunĂ€chst sehr zurĂŒckhaltend und greift meist nur ergĂ€nzend und kommentierend ein. Erst im dritten Teil wird sein Redeanteil gröĂer und damit ein diskursiver Charakter deutlicher erkennbar. Hervorzuheben ist auch das Vermögen beider GesprĂ€chspartner, sehr systematisch und druckreif zu formulieren. Der rote Faden ist stets erkennbar und wird nie aus dem Blick verloren. An einigen Stellen gibt es aber leider einen Hang zur Ăbersystematisierung, der zur Folge hat, dass es dennoch ein wenig unĂŒbersichtlich wirkt. Denn beide Dialogpartner neigen nicht selten dazu, AufzĂ€hlungen mit Unterpunkten zu ergĂ€nzen, und sie scheinen sich darin geradezu ĂŒberbieten zu wollen. So wird beispielsweise im Unterkapitel 6.2 des dritten Hauptteils âAktuelle und perspektivische Aufgabenfelder der Schulreformâ unter den drei Ebenen âFormen und schulorganisatorische Bedingungen fĂŒr die Verwirklichung der âTeilautonomie der Schulenââ (147) die âEbene der Einzelschulenâ, Ebene 1, unter Kapitel 6.2.1 abgehandelt und von Klafki wiederum in neun Punkte untergliedert, die dann einzeln noch einmal in bis zu fĂŒnf Unterpunkten unterteilt werden, so dass man spĂ€testens hier vor lauter Systematisierung jede Ăbersicht verloren hat. Bedauerlich ist dies vor allem deshalb, weil an solchen Stellen der dialogische Charakter als die eigentlich herausragende StĂ€rke dieses Buches ein wenig verloren geht. Denn dieser zeichnet sich doch gerade dadurch aus, dass er sich eben nicht auf eine ĂŒbertriebene akademische Systematisierung einlĂ€sst.
Zudem wĂ€re es wĂŒnschenswert gewesen, dass einige der im GesprĂ€ch aufgeworfenen Fragen weiter entfaltet und ausgefĂŒhrt worden wĂ€ren, z.B. auf S. 36, wo Klafki sein ambivalentes VerhĂ€ltnis zur ReformpĂ€dagogik ausfĂŒhren soll, aber lediglich auf JĂŒrgen Oelkers kritische Studie zur ReformpĂ€dagogik eingeht, ohne seine eigene Position zu umreiĂen. Hier wie auch andernorts hat man als Leser beinahe den Eindruck, dass der Dialog schlicht unterbrochen wurde, und gerade deshalb ist es bedauernswert, dass man an keiner Stelle im Buch etwas ĂŒber das Zustandekommen, den genauen Zeitpunkt und Zeitrahmen bzw. die Anzahl der einzelnen Dialogsitzungen erfĂ€hrt. Das Vorwort beleuchtet lediglich das VerhĂ€ltnis des ehemaligen SchĂŒlers Braun zu Klafki, der zwar alle akademischen PrĂŒfungen vom Vordiplom bis zur Habilitation bei ihm absolviert, aber nicht ein einziges Seminar von ihm besucht habe.
Dennoch bleibt dieses Buch empfehlenswert, besteht sein besonderer Reiz doch im dialogischen Charakter und der rĂŒckblickenden (auto-)biografischen Verortung Klafkis mit seinem pĂ€dagogischen Wirken des vergangenen halben Jahrhunderts. Damit werden nicht nur eine hervorragende EinfĂŒhrung in Klafkis Gesamtwerk geleistet und, wie der Titel verspricht, âWege pĂ€dagogischen Denkensâ aufgezeigt, sondern zugleich ein StĂŒck pĂ€dagogischer Wissenschaftsgeschichte der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet.