Geistes- und kulturwissenschaftliche Publikationen, die im Titel auf „Klassiker“ oder „klassische Texte“ verweisen, genießen eine gewisse Beliebtheit. Denn wie eine Einführung ermöglichen sie ein spezifisches Vertrautwerden mit den geistigen Beständen einer Disziplin und geben Aufschluss über den Umgang mit diesem Wissen. So verheißen Klassiker bereits per definitionem eine Autorität, die sie zwar von der Zeitlichkeit losspricht, aber gleichwohl an konkrete historische Bedingungen sowie deren Beurteilung bindet. Obwohl nun heutzutage Klassiker nicht mehr ohne Weiteres eine Anknüpfung an die Tradition gestatten, so dienen sie nach wie vor als Orientierungsgrößen, ja, sogar als utopisches Element im Fachdiskurs.
Dies gilt auch für die vorliegende Textsammlung von Hans-Ulrich Lessing und Volker Steenblock. Denn gleich zu Beginn des Vorworts wird darauf hingewiesen, dass „wir“ „Zeugen einer Neuausrichtung des Bildungsverständnisses“ werden, in dem die „funktionalistische Befähigung zur Anpassung an beliebige neue Lagen und Situationen“ ein zentrales Anliegen sei (9ff). Angesichts dieser – in weiten Teilen der Bildungsphilosophie bereits zum Topos gewordenen – Krisendiagnose sei der Rekurs auf eine Philosophie der Bildung dazu geeignet, den „Eigenwert humaner Selbstkultivierung“ und einer dadurch möglich werdenden „sozial verantworteten Handlungsfähigkeit“ wieder in den Blick zu rücken (7). Die Zuständigkeit für Fragen nach der „richtigen“ Bildung ist also unmittelbar geklärt: Federführend seien sowohl eine Philosophie, welche die Pädagogik benötige, „um sich mit den Lebenswelten avancierter Gesellschaften zu vermitteln“, als auch eine Pädagogik, die „an ihre philosophische Grundlagenreflexion rückgebunden bleibt“ (10).
Die Anthologie selbst ist aus Lehrveranstaltungen der beiden Herausgeber hervorgegangen und folgt im Aufbau einem geradezu „klassisch“ gewordenen Muster: Mit den redaktionell bearbeiteten und mit Erläuterungen versehenen Texten wird ein Zeitraum von der Antike bis zur Gegenwart durchschritten. Ihnen sind jeweils Einführungen vorangestellt, welche biographische sowie weitere informative Hinweise enthalten und als „Lektüreanleitungen“ (11) verstanden werden können. Das zuletzt formulierte Anliegen verwundert ein wenig. Denn angesichts des Plädoyers für ein „verantwortliches Subjekt als Akteur, das bewerten, einschätzen und gestalten kann“ (10), stellt sich doch die Frage, ob ein solches Individuum einer „Anleitung“ bedarf, welche eine bestimmte Lesart der Texte vorgibt. „Klassisch“ ist ebenfalls, dass die Textauswahl als Ganze nicht mehr eigens begründet wird. Daher muss der Leserin und dem Leser die Anmerkung genügen, dass die ausgewählten Autoren mit Blick auf die deutschsprachige Tradition relevant seien (11). Nachfolgend soll nun bündig auf die einzelnen Auszüge im Kontext der jeweiligen Schriften sowie auf die beiden abgedruckten Aufsätze eingegangen werden, um dem oder der Interessierten einen ersten Überblick zu verschaffen.
Am Anfang steht Platons „Höhlengleichnis“ als eine „einzige große Bildungsmetapher“ (15). Die Auseinandersetzung mit diesem Gleichnis, in dem „die ebenso nötige wie schwierige Frage nach dem Sinn des Wissens und einer Begründung der Bildung“ thematisiert werde, sei in „Zeiten einer sozioökonomisch motivierten Ausblendung dieser nur philosophisch (und nicht soziologisch, psychologisch o.ä.) zu leistenden Reflexion“ geradezu geboten (14).
Auf die griechische Antike folgt das Zeitalter des Renaissance-Humanismus und mit ihm Giovanni Pico della Mirandola. In seiner Abhandlung „Über die Würde des Menschen“ (1496) betone er die „gottähnliche Schöpferkraft des Menschen“ (46), die diesem nicht nur die Gestaltung der Welt ermögliche, sondern auch dessen Bildung: Gleich einem Bildhauer oder Dichter sei der Mensch dazu bestimmt, sich selbst die Form zu geben, in der er zu leben wünsche – so Pico (50).
Ein Beispiel für das frühneuzeitliche Bildungsverständnis liefert Jan Amos Comenius. In seiner „Großen Didaktik“ (1657) gelte Bildung als das „Medium zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse“, die in den Schulen als den „Werkstätten der Menschlichkeit“ (Comenius) ihr Fundament zu finden habe. Daher solle in diesen Institutionen die „zutiefst aktuelle demokratische“ Maxime des Comenius „Alle alles zu lehren“ umgesetzt werden, nach der die christliche Jugend beiderlei Geschlechts zu erziehen sei (53).
Das 18. Jahrhundert wird sogleich von drei Autoren repräsentiert. Zunächst werden Friedrich Schillers Briefe 11 bis 15 aus seiner Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) angeführt. Schillers darin zum Ausdruck kommende Idee des Menschen, nach welcher die Bildung zu einer harmonischen Persönlichkeit Funktion und Aufgabe ästhetischer Erfahrung sei, bilde den Gegenentwurf zu einer technokratischen Reduktion des Menschseins (90). Wilhelm von Humboldts „Theorie der Bildung des Menschen“ (1793) lege „eine immer qualifiziertere Arbeit an uns selbst als Lebensziel“ nahe (111). Hierbei befähige Bildung auch dazu, sich „tendenziell fremdbestimmende[r] Präge- und Deutungsschablonen“ zu erwehren: „Es braucht wenig hermeneutische Phantasie, solche Fremdbestimmungen in der Gegenwart in den fortschreitenden Zugriffen der Panökonomisierung zu erkennen […]“ (113). Mit Johann Gottfried Herder findet die Reihe von Autoren aus dem 18. Jahrhundert ihren Abschluss. Gemäß seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-91) vollziehe sich Bildung in einem steten „Wechselspiel von Tradition und Neuanfang“, insofern die „ebenso bewahrende […] wie schöpferisch verändernde Anverwandlung der kulturellen Tradition“ eine „zweite Genesis“ (Herder) für das Menschengeschlecht bedeute (121).
Im Anschluss an Herder wird dem Verhältnis von Bildung und Geschichte durch die Aufnahme von Johann Gustav Droysen in die Textsammlung weiter nachgegangen. In seinem „Grundriss der Historik“ (1858) findet die Bildung ihren Ort in der unausweichlichen Auseinandersetzung des Einzelnen mit der geschichtlichen Welt als einer sittlichen, die er laut Droysen „innerlich zu erleben und nachzuleben“ habe (128).
Eine zeitgenössische Kritik an den so genannten Bildungseinrichtungen wird durch Friedrich Nietzsche geübt. In den vorliegenden Auszügen aus „Morgenröte“ (1881) und „Götzen-Dämmerung“ (1889) rechnet er mit der Erziehung sowie Bildung an den Gymnasien ab. In ihnen stehe die „brutale Abrichtung“ für den Staatsdienst im Vordergrund (143), sodass nach Nietzsche die wesentlichen Bedingungen für Bildung missachtet würden: nämlich den Einzelnen in die „Verzweiflung der Unwissenheit“ zu führen, um ihm das „erste wissenschaftliche Entzücken“ und die „Ehrfurcht vor diesen Wissenschaften“ zu lehren (141).
Zugang zur Bildungsdiskussion im 20. Jahrhundert verschafft als erster Theodor W. Adorno, der ebenfalls eine skeptische Zeitdiagnose bereithält. Im „Klima der Halbbildung“ – so der Autor in der „Theorie der Halbbildung“ (1959) – „überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten“ (157). Stattdessen bräuchte Bildung „Schutz vorm Andrängen der Außenwelt, eine gewisse Schonung des Einzelsubjekts, vielleicht sogar die Lückenhaftigkeit der Vergesellschaftung“, um ihr kritisches Potenzial für den Einzelnen sowie die Gesellschaft zu entfalten (159).
In Hans-Georg Gadamers Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ (1960) wird Bildung zu einem Konstituens einer ganz eigenständigen Art von Erfahrung in den Geisteswissenschaften. In jener liege nämlich ein „allgemeiner Sinn für Maß und Abstand in bezug auf sich selbst, und insofern eine Erhebung über sich selbst zur Allgemeinheit“ (180). Was die Geisteswissenschaften somit zu Wissenschaften mache, lasse sich nach Gadamer eher aus der Tradition des Bildungsbegriffs verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft: „Es ist die humanistische Tradition, auf die wir zurückverwiesen werden. Sie gewinnt im Widerstand gegen die Ansprüche der modernen Wissenschaft eine neue Bedeutung“ (181).
An diese Tradition erinnert auch Jörg Ruhloff in seinem Aufsatz „Humanistische Bildung und ihre gegenwärtige Neudefinition“ (2009), welcher die Sichtweise der beiden Herausgeber widerspiegelt. In Zeiten des neoliberalen Managementgebotes, den Menschen marktfähig und -förmig zu machen (185), vollziehe sich nach Ansicht Ruhloffs die Umdeutung des Bildungsbegriffs zu einem verdummenden „polizeilichen Kontrollinstrument“ (Andreas Dörpinghaus), das sich in einem testfähigen, von den Messmethoden empirischer Bildungsforschung erfassbaren Format erschöpfe (vgl. 198ff). Allerdings lasse eine solche perspektivische Verengung beispielsweise völlig außer Acht, dass „im Bildungsbegriff ein Verständnis vom Menschen als maßgeblich und nicht bloß als ein zu vermessendes Wesen festgehalten wird“ (197).
Den letzten Beitrag in der vorliegenden Textsammlung stellt Peter Bieris „fulminante[s] Plädoyer“ dar, welches die Aktualität der Bildung zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter Beweis stelle (8). In seinem Aufsatz „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ (2005) betont auch Bieri, dass Bildung nicht mit Ausbildung gleichgesetzt werden könne. In jener gehe es seiner Meinung nach schließlich „um alles: um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und innere Freiheit, um moralische Sensibilität, Kunst und Glück“ (217).
Aus bildungsphilosophischer Perspektive verdeutlicht die Zusammenschau, dass sich die Textauswahl in altbekannten Bahnen bewegt und wenig Überraschungen bereithält, wie zum Beispiel die Berücksichtigung von Droysen für das 19. Jahrhundert oder auch die Aufnahme von Ruhloffs und Bieris Artikel in den Kreis klassischer Texte. Dieser Befund muss keineswegs zum Nachteil gereichen, wenn die präsentierten Texte – wie in diesem Fall – einen Begriff von Bildung vergegenwärtigen, der vielfältige Antworten auf die Frage zu geben sucht, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht. Als problematischer wird vielmehr die Rahmung dieser Texte angesehen, insofern sie trotz historischer Einbettung stets als Kontrastfolie zum heute vorherrschenden Zeitgeist dienen und infolgedessen auf eine einseitige Lesart festgelegt werden. Daher wäre es den „klassischen Texten“ zu wünschen, wenn sie Leserinnen und Leser fänden, die ihrer ‚Mehrstimmigkeit‘ Aufmerksamkeit schenkten.
EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)
„Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …“
Klassische Texte einer Philosophie der Bildung
Freiburg im Breisgau: Alber 2010
(224 S.; ISBN 978-3-495-48433-3; 24,00 EUR)
Frank Wistuba (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Frank Wistuba: Rezension von: Lessing, Hans-Ulrich / Steenblock, Volker (Hg.): „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …“, Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. Freiburg im Breisgau: Alber 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978349548433.html
Frank Wistuba: Rezension von: Lessing, Hans-Ulrich / Steenblock, Volker (Hg.): „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …“, Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. Freiburg im Breisgau: Alber 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978349548433.html