Die Dissertationsstudie von Jonas Völker „‚Als ob ein Deutscher sowas hört?!‘ – Orientierungen von Schülerinnen und Schülern im interkulturellen Musikunterricht“ (2023) stellt ein empirisch entwickeltes Lern-Lehr-Arrangement und dessen Analyse vor, welches eine didaktisch angeleitete Begegnung mit kultureller Vielfalt im Musikunterricht umsetzt.
Als Ausgangspunkt der Arbeit konstatiert Völker zwar eine Fülle an Konzepten und Arbeiten zur Programmatik der interkulturell orientierten Musikpädagogik (IMP), bemerkt jedoch einen Mangel an empirischen Einsichten in die Praxis des interkulturellen Lernens und Lehrens bezogen auf die Praxis des Musikunterrichts sowie auf die „Vorstellungen und Wissensbestände der Schüler*innen bei der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit interkulturellen Lerngegenständen“ (55). Dem begegnet Völker mit einem eigenen, in mehreren Durchgängen erprobten und (weiter-)entwickelten Lehr-Lern-Arrangement. Ziel war hierbei „die Herausbildung eines theoretisch fundierten, fachdidaktisch reflektierten und empirisch informierten Unterrichtskonzeptes für den interkulturell orientierten Musikunterricht“ (ebd.). Daneben verfolgt die Arbeit ein rekonstruktives Erkenntnisinteresse, indem Völker den Blick auf die Vorstellungen und Handlungspraktiken der Schüler*innen im interkulturell orientierten Musikunterricht richtet. Es wird gefragt, wie sich vorunterrichtliche Erfahrungen der Schüler*innen in einer interkulturellen Begegnung im Unterricht konkretisieren.
Von eigenen, persönlichen Erfahrungen mit Musiker*innen „mit unterschiedlichen musikalischen Sozialisationen“ (3) angeregt, formuliert Völker den Anspruch, ein interkulturelles Lernsetting für den Musikunterricht durch authentische Begegnungen aufzubereiten (Kapitel 1). Beginnend mit einem Blick auf den Forschungsstand (Kapitel 2) stellt Völker die IMP in ihrem kulturtheoretischen, konzeptionellen und empirischen Erkenntnisstand vor. Dabei stellt er diesen hinsichtlich der Unterrichtspraxis als defizitär heraus, was den Verdacht aufkommen lässt, dass die IMP sich dem konkreten Musikunterricht entziehe. Somit fragt Völker nach der Gestalt und der praktischen Bewährtheit eines interkulturell orientierten Musikunterrichts. Er konzentriert sich dabei auf die Bedeutung der Schüler*inneneinstellungen für die didaktische Strukturierung des Unterrichts.
Daraus folgt auch seine methodologische Entscheidung für eine Kombination aus der Dokumentarischen Methode und dem Design-Based-Research-Ansatz (Kapitel 3). In der Darstellung des forschungspraktischen Vorgehens schildet Völker, dass er zunächst ein Lehr-Lern-Arrangement entwarf, welches eine authentische Begegnung mit dem Musiker Samir Mansour vorsieht, da er „auf besondere Weise die Hybridität und Mobilität musikkultureller Einflüsse verkörper[e]“ (5) und ein Künstler „aus dem kulturellen Nahraum“ (ebd.) sei. Zusätzlich wählte Völker die Melodie eines arabischen Liedes als Lerngegenstand, welches den Lernenden in verschiedenen Sprachen und Interpretationen vorgestellt und von ihnen bearbeitet wurde. Dieses „in insgesamt drei iterativen Designzyklen mit jeweils vier bis fünf Doppelstunden in Gymnasialklassen der Unter- und Mittelstufe“ (ebd.) erprobte Unterrichtskonzept wurde dabei videographiert, analysiert und entsprechend weiterentwickelt (Kapitel 4).
Mittels Lerntagebüchern von Schüler*innen und Leitfadeninterviews mit den beteiligten Lehrkräften als Retrospektiven auf das Lehr-Lern-Arrangement sowie (videographierten und teilnehmenden) Beobachtungen während des Musikunterrichts wurden Daten erhoben, die Völker mit der Dokumentarischen Methode analysierte. Während der Gruppenarbeitsphasen konnten Beobachtungen zu den Praktiken der Herstellung von Wissensbeständen der Lernenden in einer ‚unbeobachteten‘, peerkulturellen Interaktion gemacht werden. Die daraus gewonnenen Befunde gleicht Völker mit der Programmatik der IMP ab und fasst diese didaktisch zusammen. Sein zentrales Anliegen der Unterrichtsentwicklungsarbeit sei dabei das Bemühen um die Ausprägung einer kultur- und diversitätssensiblen Wertehaltung bei den Lernenden, für die er das Prinzip der Schüler*innenorientierung als zwingend notwendig herausstellt, sodass man „um die vorunterrichtlichen Vorstellungen der Schüler*innen weiß und diese durch (bedeutsame) Erlebnisse, Erfahrungen und Einsichten bereichert.“ (7).
Die Ergebnisse dieser Studie können insofern zusammengefasst werden, dass Völker bei der Begegnung der Lernenden mit ‚unvertrauter‘ Musik die „Basisorientierung an der Konstruktion kollektiver Zugehörigkeit“ (156) herausarbeiten konnte, welche mit distinktiven Praktiken aufgrund nationaler, ethnischer oder sozialer Selbst- und Fremdbeschreibungen verbunden ist. Durch Möglichkeiten zum Dialog („unterrichtliche Präsentation und Thematisierung von Mehrfachzugehörigkeiten“, 226) und einen handelnden Umgang mit dem Lerngegenstand („Musizierpraktisch-gestaltende Erstbegegnung mit dem Unterrichtsgegenstand“, 213) konnte bei den Lernenden eine höhere Sensibilität und mehr Verständnis für die Vielfalt musikalischer Erscheinungsformen festgestellt werden.
Die Rekonstruktion der Lernprozesse durch die unterrichtliche Auseinandersetzung mit dem arabischen Lied und der Biographie Mansours hatte Einfluss auf die Weiterentwicklung des Unterrichtsdesigns, wobei „Diskrepanzen zwischen (fach-)didaktischem Anspruch und unterrichtspraktischer Wirklichkeit“ (ebd.) sichtbar wurden. Indem Völker die Durchführung des Lehr-Lern-Arrangements videographierte, konnten die peerkulturellen Praktiken und geteilten Orientierungsmuster der Lernenden während der Gruppenphasen untersucht und analysiert werden. Dabei zeigt sich eine Inkongruenz zwischen den Äußerungen der Lernenden in der unterrichtlichen Klassenöffentlichkeit und innerhalb der Gruppenarbeit. Völker identifiziert „drei sich teilweise überlagernde bzw. konkurrierende Bezugssysteme und Orientierungen innerhalb des Interaktionssystems Unterricht“ (228). Institutionell gegebene Normen des Unterrichts, peerkulturelle Ordnungen und individuelle, fach- und themenbezogene Wissensbestände der Lernenden stehen dabei in einem Spannungsverhältnis und werden in der Peergroup verhandelt. Völker merkt daher an, dass eine intrinsisch motivierte Beschäftigung mit dem Lerngegenstand einer emotionalen Verbundenheit bedarf. Ebenso betont er die Berücksichtigung alterstypischer Entwicklungsunterschiede der Lerngruppen („unterschiedlich[e] altersbezogen[e] Erfahrungsräume“, 229) [1].
Bezugnehmend auf die IMP fragt Völker in Kapitel 5, inwieweit die Ergebnisse der Analyse als fachdidaktisch-empirischer sowie praxeologischer Beitrag den interkulturell orientierten Musikunterricht beeinflussen. Ebenso diskutiert Völker im Zuge seiner Methodenkritik (Kapitel 6) die Kombination der Dokumentarischen Methode mit dem Design-Based-Research-Ansatz, indem er z.B. die deutliche Sichtbarkeit der Aufnahmegeräte oder die besonderen Rahmenbedingungen des Lernsettings anmerkt. Trotzdem unterstreicht er die methodologisch-methodische Angemessenheit seiner Erhebung, da er sowohl „Einsichten in handlungsleitende Orientierungen der Schüler*innen im interkulturell orientierten Musikunterricht [...] erlangen“ (269) als auch diese fachdidaktisch übersetzen konnte. Völker identifiziert damit seine Arbeit „nicht nur als [Anregung] für den Fachdiskurs der IMP, sondern ebenso für methodische Diskussionen für den Bereich der Unterrichtsforschung [...]“. (ebd.). Weiterhin erkennt Völker im Ausblick seiner Arbeit (Kapitel 7) die Potentiale für die Umsetzung eines prinzipiell interkulturellen Musikunterrichts und sieht im Zusammenspiel von Unterrichtsentwicklung und Unterrichtspraxis eine zentrale Zukunftsaufgabe der IMP. Er fordert daher weitere, vertiefende Betrachtungen und Untersuchungen der Akteur*innen der Praxis des (interkulturell orientierten) Musikunterrichts.
Völker aktualisiert in summa den Erkenntnisstand der IMP durch eine praxeologisch-empirische Studie mit didaktischem Interesse. Er plädiert für einen Akteur*innenbezug der Forschung innerhalb der IMP und belegt dessen Notwendigkeit anhand der gewonnenen Erkenntnisse zum Potential der Schüler*innenorientierung für einen nachhaltigen Lernprozess. Dennoch liegt hier eine Einzelfallstudie vor, dessen Ergebnisse in weiteren Erhebungen in anderen fachlichen und unterrichtlichen Settings überprüft bzw. ergänzt werden müssen. Nichtsdestotrotz leistet Völker einen wichtigen Beitrag zur praktischen Übersetzung der IMP. Auch sei an dieser Stelle das innovative Forschungsdesign erwähnt. Somit adressiert diese Studie empirisch Forschende mit didaktischem Interesse sowie im Bereich der interkulturellen Bildung an der Schule (IKB).
Jonas Völker zeigt, dass interkulturelles Lernen durch Begegnung erfolgt. Dieses Motiv des Miteinanders geht über den einzelnen Fachunterricht hinaus. IKB ist Aufgabe aller Fächer und muss übergeordnet als Teil des Bildungsauftrages von Schule verstanden werden [2]. Umso notwendiger ist es, schulisches Lehren und Lernen auf seinen Beitrag zur IKB hin im Sinne didaktischer Nahtstellen der Fächer zu überprüfen und zu nutzen.
[1] So weisen Fünftklässler*innen eher noch imaginäre Fremdbilder auf, wohingegen Siebtklässler*innen bereits eigene Erfahrungen mit der Musik in Verbindung bringen.
[2] Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) (2013). Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 i. d. F. vom 05.12.2013. KMK. https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1996/1996_10_25-Interkulturelle-Bildung.pdf
EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)
„Als ob ein Deutscher sowas hört?!“
Orientierungen von Schülerinnen und Schülern im interkulturellen Musikunterricht
Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 2023
(392 S.; ISBN 978-3-487-16310-9; 68,00 EUR)
Marcel Weigelt (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcel Weigelt: Rezension von: Völker, Jonas: „Als ob ein Deutscher sowas hört?!“ , Orientierungen von Schülerinnen und Schülern im interkulturellen Musikunterricht. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978348716310.html
Marcel Weigelt: Rezension von: Völker, Jonas: „Als ob ein Deutscher sowas hört?!“ , Orientierungen von Schülerinnen und Schülern im interkulturellen Musikunterricht. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978348716310.html