EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)

Anne Rohstock
Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“?
Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976
München: Oldenbourg Verlag 2010
(462 S.; ISBN 978-3-4865-9399-0; 49,80 EUR)
Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Die Dissertation von Anne Rohstock bietet einen umfangreichen und differenzierten Überblick über die Entwicklungen der Hochschulreformen in den Ländern Hessen und Bayern und stellt dabei die Wechselwirkung zwischen den von der Politik angestoßenen Hochschulreformen und den „1968er“-Protesten an den hessischen und bayerischen Hochschulen in den Vordergrund der Analyse. Als Ausgangspunkt ihrer Studie wählt sie den Zeitraum ab 1957/58 und verweist damit auf in der zeitgeschichtlichen Forschung häufig diskutierte Einschnitte, die sich sowohl ökonomisch als auch bildungspolitisch als Paradigmenwechsel, z.B. durch das „Wirtschaftswunder“ und den „Sputnik-Schock“, beschreiben lassen. Ihre Untersuchung endet im Jahr 1976 mit der Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes des Bundes. Mit diesem zeitlichen Rahmen deckt sie zwei spannungsreiche Jahrzehnte der Bundesrepublik ab, die von bildungspolitischen Debatten und Auseinandersetzungen mit Reformüberlegungen und -umsetzungen geprägt waren. Dieses Spannungsfeld mit unterschiedlichen bildungspolitischen Interessen, Forderungen und Kritiken diverser Institutionen, Gruppierungen und einzelner Protagonisten wird anhand eines sehr umfangreichen und beeindruckenden Quellenkorpus rekonstruiert.

Mit ihrer Arbeit ordnet sich Anne Rohstock in eine seit 1998 existierende Forschungslinie ein, die die so genannten „langen 60er Jahre“ als eine besondere Transformationsphase in der Bundesrepublik hervorheben, in der sich entscheidende politische, ökonomische und kulturelle Entwicklungen vollziehen. Auch die Ereignisse um „1968“ an den Hochschulen werden in diesen Kontext gestellt. Anne Rohstock konzentriert sich ausschließlich auf die Länder Hessen und Bayern und untersucht diese komparativ. Aufgrund der unterschiedlichen parteipolitischen Verhältnisse in Bayern und Hessen sieht sie hier die Möglichkeit eines kontrastierenden und systematischen Vergleichs „als heuristisches Instrument zur Überprüfung von tatsächlichen Folgen von Reform und Revolte“ (6). Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen u.a. folgende Fragen: „In welchem Zusammenhang standen Hochschulreform und Hochschulrevolte […]? Waren die Neuordnungsbemühungen der Politik, wie sie insbesondere in der Verabschiedung von Hochschulgesetzen in den Bundesländern zwischen 1968 und 1973 zum Ausdruck kamen, tatsächlich eine Folge des studentischen Aufbegehrens an den Universitäten?“ (405).

Dabei fragt sie nach dem Anteil der studentischen „Revolutionäre“ an den Hochschulreformen, nach den Reaktionen unterschiedlicher Gruppen aus Öffentlichkeit, Politik und Hochschulen auf die Forderungen der radikalen Studierenden sowie nach den Folgen dieser Reaktionen für die Hochschulreformen. Weiterhin wird nach Leitmotiven der Politik und der Hochschulen gefragt, die die Hochschulreformen in der Bundesrepublik prägten, sowie danach, inwiefern diese mit den Forderungen und Vorstellungen der Studierenden kollidierten. So nimmt sie verschiedene Protagonisten der Reformen, ihre Befürworter und Kritiker in den Blick und macht gleichzeitig Veränderungen, aber auch die Persistenz von Hochschulstrukturen deutlich. Zuletzt fragt sie nach den Folgewirkungen von „1968“ auf die Hochschulreformen in Hessen und Bayern.

Die ausgewerteten Dokumente entstammen einer Reihe unterschiedlicher Archivbestände, darunter Überlieferungen des hessischen und bayerischen Kultusministeriums und der Staatskanzleien beider Länder sowie von Stiftungsarchiven und Hochschularchiven. Weiterhin zieht sie u.a. Vorlesungsverzeichnisse, diverse Nachlässe und Deposita, studentische Zeitschriften und Flugblätter hinzu.

Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Teil „Hochschulreform in Bayern und Hessen 1957-1967“ eröffnet Anne Rohstock dem Leser einen Einblick in den „Krisendiskurs um die Zukunftsfähigkeit der Hochschulen“ (6), der seit Ende der 1950er Jahre öffentlich und politisch geführt wurde und vielschichtige Reformprozesse in Gang setzte. Beispiele hierfür sind der Ausbau der Hochschulen, Studienreformdiskussionen und erste Umsetzungsversuche sowie die Einführung von Zwischenprüfungen und „befristeten Immatrikulationen“. Ziel war es, auf die von Zeitgenossen ausgemachte Hochschulkrise, die sich u.a. in einer postulierten „Rückständigkeit“ im internationalen Wettbewerb sowie den überfüllten Hörsälen durch die Bildungsexpansion äußerte, zu reagieren. Dass die von der Politik angestoßenen Reformen jedoch nicht nur auf Akzeptanz stießen, sondern vor allem seitens der Hochschullehrer und Rektoren auch auf massive Gegenwehr, wird besonders bei der Verabschiedung der Landeshochschulgesetze zwischen 1965 und 1967 deutlich, aber auch bei einzelnen Maßnahmen wie beispielsweise der Schaffung von Parallellehrstühlen, um die hohe Zahl der Studierenden an der Universitäten aufzufangen.

Anne Rohstocks Darstellungen in diesem Kapitel verdeutlichen, dass bereits Reformbestrebungen im Gange waren, die heftige Auseinandersetzungen zwischen Politik und Hochschulen hervorriefen, in denen die Hochschulen die Rationalisierung- und Ökonomisierungsabsichten der Politik massiv kritisierten. Sie konstatiert hier, dass „Politisierung und Ideologisierung der Hochschulreformdebatte […] keineswegs alleinige Folge der studentischen Revolte, sondern letztlich vor allem Konsequenz des bildungspolitischen Paradigmenwechsels in den frühen 1960er Jahren“ (409) waren.

Das zweite Kapitel der Arbeit mit dem Titel „Wartet nicht auf Veränderungen an der Uni, sondern macht sie selbst! Studentenrevolte und Hochschulreform 1967-1969“ konzentriert sich auf die Studentenrevolte und macht einerseits die Zielsetzungen, Strategien und Taktiken der Neuen Linken – eine Gruppierung, die neben Studierenden auch Personen aus Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft zusammenfasste – für beide Länder deutlich und zudem die Reaktion der Hochschullehrer, aber auch die des Staates auf die studentischen Proteste. Diese waren vielschichtig und reichten von drastischen Sanktionen gegen „Unruhestifter“ bis hin zu einer Offenheit für studentische Anliegen. Wie unterschiedlich studentische, aber auch öffentliche Gruppen auf die Proteste reagierten, macht sie im dritten Kapitel „,68‘ annehmen oder ablehnen? Die gesellschaftliche Reaktion auf die studentischen Forderungen“ deutlich und kommt zu dem Schluss, dass es „einerseits zu einer vordergründigen inhaltlichen Annäherung zwischen den radikalen und gemäßigten studentischen Gruppen und zu einer Stärkung linker studentischer Vereinigungen“ kam, andererseits aber auch „zu einer zunehmenden Spaltung der Studentenschaft“, woraus sich eine „Gegenbewegung“ gebildet habe (244f.). Studentische Organisationen wie die Deutsche Studenten Union (DSU) oder das Aktionskomitee Demokratischer Studenten (ADS), aber auch einzelne Studierende distanzierten sich öffentlich von den radikalen Studenten, während die Reaktionen und Aktionen der Assistenten, der Gewerkschaften, der Parteien und ihrer Jugendorganisationen sowie der Hochschullehrer ambivalent ausfielen.

Im vierten und letzten Kapitel betrachtet Anne Rohstock unter dem Titel „Hochschulreformen in Bayern und Hessen 1968-1976“ die Reformen, die nach den Studentenunruhen umgesetzt wurden. Dabei fragt sie nach den Auswirkungen der Revolte auf die Reformbestrebungen, vergleicht die gemeinsamen und unterschiedlichen Entwicklungen in Hessen und Bayern, betrachtet die Umsetzungen der Reformen an den Universitäten unter dem Einfluss der Gegenreformer – einer konservativen Gegenbewegung bestehend aus Hochschullehrern, Personen aus Politik, Öffentlichkeit und Bildungsinstitutionen mit dem Ziel, „die Hochschulreform der Universitäten und die Hochschulpolitik der sozialdemokratisch und sozialliberal“ (378) regierten Länder zu verhindern – bis zur Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes 1976.

Nach einer kurzen Zusammenfassung ihrer Ergebnisse schließt sie ihre Arbeit mit einem Ausblick ab, in dem sie die Reformphase der „langen 60er Jahre“ mit den gegenwärtigen Bestrebungen einer Neuordnung der Universität vergleicht (415ff.). Hierbei sieht sie zwischen Bonn und Bologna trotz der unterschiedlichen Rahmenbedingungen erstaunlicherweise Ähnlichkeiten, nämlich in der Diskussion um die Krise der Hochschulen, in den politischen Initiativen sowie in den Reaktionen auf die Reformbestrebungen der Politik. Schließlich formuliert sie drei Thesen, in denen sie der Frage nachgeht, wie es zu einer erneuten Entstehung und Wiederkehr eines solchen „hochschulpolitischen Krisenszenarios“ kommen konnte.

Die vorliegende Arbeit knüpft an Ergebnisse bereits erschienener Studien zur Thematik „1968“ und Hochschulreformen der 1960er Jahre an, stellt aber insofern eine herausragende Arbeit dar, als dass hier ein umfangreiches Quellenkorpus herangezogen wird, das es erlaubt, die unterschiedlichen Protagonisten, die an den Reformbestrebungen beteiligt waren, in den verbindenden analytischen Blick zu nehmen. Gleichzeitig führt diese detaillierte Auswertung leider auch dazu, dass der Leser an einigen Stellen den Überblick über die vielen Akteure und ihre Bestrebungen und Handlungen verliert. Die Arbeit hebt sich zugleich deutlich von den bisher überwiegend ereignisorientierten Publikationen zu Hochschulreform und „1968“ ab.

Insgesamt bietet sich dem Leser ein differenzierter Blick auf die Entwicklung der Hochschulreformen in Hessen und Bayern – die sich erstaunlicherweise nicht nur als konträr darstellen lassen – und auf die Forderungen und Aktionen unterschiedlicher Institutionen und Protagonisten. „1968“ bekommt insgesamt zwar noch eine wichtige Bedeutung zugesprochen, verliert aber zugleich sein Alleinstellungsmerkmal, indem es in einen weiten Rahmen gesellschaftlicher und politischer Veränderungen der „langen 60er Jahre“ gesetzt wird. Anne Rohstock hebt dementsprechend hervor, dass der Anteil „der Studentenrevolte sowohl an dem hochschulpolitischen Aufbruch als auch an dem reformerischen Aufbruch […] geringer [ist], als bisher angenommen“ (415). Sie hat mit ihrer Untersuchung einen überzeugenden Beitrag zur Erhellung der Bedeutung von „1968“ an den Hochschulen geleistet.
Morvarid Dehnavi (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Morvarid Dehnavi: Rezension von: Rohstock, Anne: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“?, Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976. München: Oldenbourg Verlag 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978348659399.html