Hat die Welt tatsächlich auf eine weitere Monographie zum Thema Bildung gewartet? Schließlich werden seit Jahren und Jahrzehnten unzählige Versuche publiziert, sich dem „Phänomen Bildung“ auf die eine oder andere Weise zu nähern. Diese sind nicht selten mit dem Anspruch verbunden, eine, wenn nicht gar die Theorie von Bildung zu formulieren. In diese Falle tappt Tenorth zum Glück nicht. Er diskutiert in seiner umfangreichen Studie die „Rede von Bildung“ und verfolgt eine analytische und rekonstruierende Perspektive. In insgesamt 28 Kapiteln, die in fünf großen Teilen plus Einleitungskapitel organisiert sind, widmet er sich der Frage, was Bildung „um und seit 1800“ bedeutet (hat) und „für wen […] die dabei praktizierten historischen Zuschreibungen […] Relevanz, Stabilität und dauerhafte Aufmerksamkeit“ gewinnen. Darauf aufbauend fragt er zudem nach dem „systematischen Status […] dieser Zuschreibungen im Prozess“ und deren Veränderungen bis zu den aktuellen bildungstheoretischen, politischen und öffentlichen Debatten über Bildung (20). Damit spannt er einen großen und umfassenden Bogen über die letzten 250 Jahre Erziehungs- und Bildungsgeschichte und dokumentiert so auch seine eigene Auseinandersetzung mit der Erziehungswissenschaft und ihrer Geschichte.
Im Einleitungskapitel, das sich mit der Frage beschäftigt, ob man überhaupt noch über Bildung reden könne, präsentiert Tenorth einen Überblick über die verschiedenen Diskussionsformen, in denen Bildung verhandelt wird, und macht drei Hauptdiskussionsfelder auf. Bildung kann sowohl ein Platzhalter für gesellschaftliche Probleme sein als auch Thema der Forschung sowie des alltäglichen bzw. schulischen Lebens. Das führe dazu, dass das „Problem mit Bildung“ nicht nur in einem heterogenen Sprachgebrauch liege, sondern vor allem auch in „einer Vielfalt von Themen und begleitenden Theorien, die in der Rede von Bildung simultan präsent sind“ (16). Dieser „Rede von Bildung“ wendet sich Tenorth in den anschließenden Kapiteln zu, wobei er sein methodisches Vorgehen explizit nicht als diskursanalytisch versteht, sondern im Bereich der „historischen Semantik“ verortet, welche „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft“ versteht (23). Damit soll seine Arbeit weder eine „neue Theorie“ noch eine „endgültige historische Analyse“ beinhalten, sondern „allenfalls Beobachtungen, die aus der Distanz traditionelle Formen der Ordnung und überlieferte Praktiken der Rede von Bildung neu befragen“ (ebd.).
Im ersten Teil und unter dem Titel „Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition“ beschäftigt sich Tenorth mit der Bedeutung von Bildung bei verschiedenen Autor*innen zu konkreten Zeiten, wobei diese Bedeutungen nicht aus einer präsentistischen Perspektive rekonstruiert, sondern in ihrer historischen Relevanz für und in ihrer Zeit diskutiert werden. Dabei verweist er vorwiegend auf die „erwartbaren“, „klassischen“ Autoren und Schriften um 1800, wobei auch immer wieder auf „Fehlinterpretationen“ in der Forschungsliteratur hingewiesen wird. Rousseaus Sophie beispielsweise sei nicht wie in einer feministischen Perspektive als „‘zeitbedingter Appendix‘ vormoderner Anschauungen in einem sonst modernen Text“ zu lesen (58), sondern in ihrer historischen Bedeutung als „Verkörperung des Anderen, das Emile noch zu achten und anzuerkennen lernen muss, um die Bildung seiner Identität zu vollenden“ (59). Der zweite Teil dokumentiert die Praxis der Rede von Bildung und unterscheidet zwischen einem anthropologischen Argument, einem Argument, das sich mit dem Umgang mit „Welt“ beschäftigt sowie einem Argument, das die „operative Dimension“ in der Rede von Bildung betrifft, das heißt „die Frage, wie sich zeitlich, sachlich und sozial die Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt zur Einheit fügt bzw. fügen lässt“ (159). Der dritte Teil fokussiert sich auf die erziehungswissenschaftliche Diskussion über Bildung und ist aufgeteilt in ein Kapitel, das die Empirie von Bildungsprozessen diskutiert, in eines, das den Lebenslauf als Bildungsgang thematisiert, und in ein Schlusskapitel, welches sich den Utopien und der Realität von Bildung widmet. Der vierte Teil nähert sich aus verschiedenen Perspektiven der Frage nach dem Verhältnis von Schule und Bildung und betont vor allem die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung, die eben nicht nur als individuelles Projekt und individuelle Vervollkommnung zu verstehen sei (427), sondern auch im Zusammenhang mit Gleichheits- und Gerechtigkeitsfragen sowie mit ökonomischen Diskussionen zu sehen ist, wobei gerade die ökonomische Diskussion nicht als „Verfall“ oder „Devianz“ einer Bildungsdebatte verstanden wird, sondern als integraler Bestandteil des Redens mit und über Bildung (504).
Der abschließende fünfte Teil fragt, ob es eine „Theorie der Bildung“ gebe und kommt zum Schluss, der schon in der Einleitung postuliert worden ist, dass man „spätestens angesichts hypertropher Phantasien von Pädagogik […] skeptisch nach den Grenzen der Wirksamkeit der Bildung fragen“ müsse und mit der „Ambivalenz der Forschungsbefunde zu leben lernen“ habe. „Selbstkritik darf dann so wenig fehlen wie Distanz gegenüber der Emphase und Ironie gegenüber der eigenen Ambition. Sich der allfälligen Forderung nach den Bildungsidealen zu verweigern, das wird selbst eine moderne Erwartung an Bildung und den Gebildeten“ (641). Dabei wird auch gezeigt – und diesem Argument ist ein eigenes Kapitel gewidmet –, dass es entgegen der oft zitierten Aussage, Bildung sei nicht übersetzbar oder ein „deutscher“ Begriff, vergleichbare Diskussionen auch in anderen Sprachkontexten gibt. Diese Erkenntnis überrascht zwar nicht, wenn man sich nicht auf den Begriff Bildung fixiert, sondern die Fragen bzw. Problemstellungen in den Mittelpunkt rückt, welche mit und durch den Begriff diskutiert werden. Aber die internationale Anschlussfähigkeit des Bildungsbegriffs zu betonen, ist dennoch eine Stärke dieser Studie, auch wenn diese Erwähnung nicht unbedingt ein schmeichelhaftes Licht auf die deutschsprachige Erziehungswissenschaft wirft.
Angesichts des Umfangs der zu besprechenden Publikation kann hier nicht auf die Gesamtheit der Argumente eingegangen werden. Deshalb soll die Frage diskutiert werden, von wem, weshalb und vor allem auch wie diese umfangreiche Publikation zu lesen ist, die selbstverständlich auch ganz traditionell, vom Anfang bis zum Ende, gelesen werden kann. Die einzelnen Kapitel und Themenblöcke beziehen sich aufeinander und es wird immer wieder deutlich gemacht, welchen Beitrag das konkrete Kapitel für die gesamte Argumentation zu leisten vermag. Man kann sich aber auch die individuell interessierenden Kapitel gemäß Inhaltsverzeichnis selektiv auswählen und wird immer wieder auf interessante und / oder überraschende Argumente stoßen, welche die eigene Reflexion zu und über Bildung in seiner historischen Dimension anzuregen vermögen. Eine solch selektive Lektüre wird durch die strukturierte Argumentationslogik, die in der Einleitung eingeführt wird, unterstützt. Auch helfen die zusammenfassenden Kapitel, die Übersicht über die Gesamtargumentation nicht zu verlieren.
Allerdings ist auch zu fragen, ob für das „eigentliche“ Anliegen der Publikation, das „Reden über Bildung“ von seinen überzogenen Ansprüchen und Vorstellungen zu „befreien“, eine etwas schlankere Publikation, die zudem auch methodisch anders hätte ausgerichtet werden müssen, nicht hilfreicher gewesen wäre. Braucht es tatsächlich immer sämtliche Verweise auf Quellen, die das eigene Argument stützen? Müssen alle Diskussionsfelder des Redens über Bildung in eigenen Kapiteln angesprochen werden? Wäre nicht vielmehr eben doch eine diskursanalytische Herangehensweise „interessanter“ bzw. sinnvoll gewesen, die nicht wie die historische Semantik „nur“ die „Rede über Bildung“ als Gegenstand der Analyse diskutiert, sondern – in einem Foucault‘schen Verständnis – auch danach fragt, welche Funktion diese Rede im Diskurs einnimmt? Eine solche Perspektive wäre allerdings weniger an die Rede über Bildung bzw. die deutschsprachige pädagogische Debatte anschlussfähig, da eine solche diskursanalytische Perspektive die Bedeutung und Relevanz des Begriffs Bildung in Frage stellt. Würde aber nicht gerade in einer solchen radikalen Historisierung der „Rede über Bildung“ das eigentliche Potenzial einer historischen Auseinandersetzung liegen? Diese Fragen sollen die Bedeutung der Publikation nicht schmälern, sondern vor allem das Nachdenken über die Rede über Bildung anregen und gerade auch die Historische Bildungsforschung explizit dazu ermuntern, sich kritisch mit ihren Epistemologien auseinanderzusetzen. Unabhängig davon ist der Publikation aber eine breite, nicht nur bildungshistorisch interessierte Leserschaft zu wünschen.
EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)
Die Rede von Bildung
Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz
Berlin: J.B. Metzler 2020
(696 S.; ISBN 978-3-476-05668-9; 74,99 EUR)
Rebekka Horlacher (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rebekka Horlacher: Rezension von: Tenorth, Heinz-Elmar: Die Rede von Bildung, Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz. Berlin: J.B. Metzler 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978347605668.html
Rebekka Horlacher: Rezension von: Tenorth, Heinz-Elmar: Die Rede von Bildung, Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz. Berlin: J.B. Metzler 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978347605668.html