In der hoch renommierten „Handbuch“-Reihe des Metzler-Verlags ist nach einem Band über Alexander [1] auch ein „Wilhelm von Humboldt-Handbuch “ erschienen, wie immer „Leben – Werk – Wirkung“ gewidmet. Man wird dem Vorwort des Herausgebers zustimmen, dass „Wilhelm von Humboldt […] zu den zentralen Protagonisten der europäischen Kultur, Wissenschaft, Literatur und Politik um 1800 [gehört]“, dass „sein Werk […] nahezu alle entscheidenden Themen der Epoche auf[greift]“ und er „als Reformator des Preußischen Bildungswesens“ und „als Diplomat auch praktisch Geschichte geschrieben“ hat (vii). Für einen Rezensenten aus der Bildungsgeschichte ist es bei aller Zustimmung aber doch irritierend zu lesen, dass zwar „kaum eine bildungspolitische Debatte ohne die Beschwörung seines Namens auskommt“, dass aber wegen dieser Zentrierung „sein eigentliches Werk bis heute nur Wenigen bekannt“ sei, hatten zumindest die Bildungshistoriker Humboldts Bildungsphilosophie und die Texte über das Bildungswesen und die Politik durchaus zu seinem „eigentlichen Werk“ gerechnet. Aber dieses „eigentliche Werk“ will das Handbuch jetzt sichtbar machen. Ergibt das einen ganz neuen Humboldt?
Das Handbuch stellt Humboldt in fünf Teilen und mit jeweils detailreichen, gelehrten und lesbaren Abhandlungen vor: „Leben und Schreiben“ heißt der I. Block, mit drei Abhandlungen zur Biographie, über „Autorschaft“ und die „Werk- und Briefausgaben“, alle aus der Feder des Herausgebers. Für seine Ambition ist besonders der zweite Text aufschlussreich, der „Autorschaft und Werkbewusstsein“ behandelt. „Unter allen Konzepten von Autorschaft um 1800“ sei die Humboldts „vielleicht das bemerkenswerteste und provozierendste“, mit „seiner im Habitus exklusiven und psychologisch zugleich höchst ambivalenten Autorschaft“ und dem „schon für die Freunde und Vertrauten eklatante[n] Missverhältnis zwischen Geschriebenem und Publiziertem, zwischen Abgeschlossenem und Fragmentarischem“. Vor dem Hintergrund „der verschiedenen Werkausgaben im 19., 20. und 21. Jahrhundert“ resümiert Berghahn: „Wilhelm von Humboldt, einer der wichtigsten Denker seiner Epoche, ist ein Nachlassphänomen“ (31). Aber das ist gerade für seine Theorie von Bildung und seine Praxis von Bildungspolitik ein sehr bekannter Befund, von Humboldts Schriften zum Königsberger oder Litauischen Schulplan von 1809 z.B. wissen wir umfassend erst, seit Spranger 1910 das Ergebnis seiner Archivstudien publizierte. [2] In den weiteren Abhandlungen wird Humboldt deshalb nicht nur in seinen Werken vorgestellt, sondern auch in der Kommunikation mit und der Erfahrung in seiner Welt. Schon Teil II „Orte“ zeigt das mit den für ihn zentralen Stationen in Berlin, Jena/Weimar, Paris, Rom, Wien, London und Tegel – und erst jüngst haben wir ja auch gesehen, dass seine Reiseberichte sich als ethnographische Studien lesen lassen. [3] Auch die sieben Beiträge in Teil III „Werke“, davon erneut vier des Herausgebers, behandeln nicht nur die klassischen, viel zitierten Texte der Anthropologie, Altertumskunde und Ästhetik, Theorie der Bildung, amtliche und politische Schiften, Sprachphilosophie und Linguistik, sondern auch Dichtungen und Übersetzungen, Tagebücher und autobiographische Schriften, immer vor dem Hintergrund ihrer wechselvollen Entstehungs-, Editions- und Rezeptionsgeschichte. Für die zentrale These, dass für Humboldt ein ganz neues Verständnis von Autorschaft anzusetzen sei, spricht schließlich vor allem der für diese Handbuchtradition ungewöhnliche und sehr umfangreiche Teil IV „Briefe“, mit 17 Beiträgen. Berghahn muss trotz der Fülle dennoch ausdrücklich betonen, dass „eine strenge Auswahl […] notwendig“ war, um „auch die Ergebnisse der gegenwärtig ausgesprochen lebendigen Brief- und Schreibforschung“ zu beachten (die er einleitend zu „IV.“ knapp vorstellt). Berghahn erhebt innovativen Anspruch vor allem für diesen Teil IV seines Handbuchs, denn er sei „originär in seinem Anspruch, Humboldts Briefe nicht nur als Dokumente, sondern als Brief-Werk, also als konstitutives Element seines Œuvres zu behandeln“. Das bedeutet sogar, wie er diese These „pointiert“ zuspitzt, „dass – angesichts des fragmentarischen Charakters der meisten seiner Schriften – die großen und programmatischen Briefe an Georg Forster, Caroline [von Humboldt], Schiller, Goethe, Friedrich August Wolf, David Friedländer, Germaine de Staël und viele andere den „eigentlichen“ Schriften Humboldts im Hinblick auf Präzision und Fokussierung überlegen sind“ (viii). In Teil IV wird die Korrespondenz mit den hier angesprochenen und weiteren Zeitgenossen, z.B. A.W. Schlegel oder Nicolovius, detailliert behandelt. Die starke These, dass die Briefe den Texten „im Hinblick auf Präzision und Fokussierung überlegen sind“, wird dabei zwar z.T. erhärtet, die weitere Humboldt-Forschung muss sie jetzt weiter prüfen; bildungshistorisch und -theoretisch z.B. wurden Briefe ja von Spranger bis Benner schon viel genutzt [4]. Teil V „Kontexte“ vervollständigt diese umfassende Situierung von Leben und Werk. Als relevante Umwelten Humboldts werden der Deutsche Idealismus, seine jüdischen Freundschaften sowie Universität und Museum in Berlin dargestellt. Über seine spezifische These hinaus soll das Handbuch nicht nur „die Aktualität Wilhelm von Humboldts unterstreichen“, sondern ihn als den „spannendsten, vielschichtigsten, interdisziplinärsten und vorurteilslosesten Denker in seiner Relevanz für unsere Gegenwart erkennbar“ machen, sein „unermüdliches Engagement für Emanzipation, für Bildungsgerechtigkeit, für politische Partizipation, für Toleranz, für einen weltanschaulich neutralen Staat, gegen Zensur, gegen Rassismus, gegen Sklaverei und sein[en] Respekt vor der Vielfalt menschlicher Kulturen und Sprachen“ (vii) – und zum Glück meiden die Texte selbst eher diesen hagiographischen Ton, den der Herausgeber anschlägt. Die Autoren, von Jürgen Trabant zu Sprache über Ernst Osterkamp zur Korrespondenz mit Goethe oder Uta Lohmann über die Berliner Haskala und Humboldts jüdische Freunde immer ausgewiesene Kenner, konzentrieren sich auf ihr Thema, stellen übersichtlich den thematischen Befund, zentrale Aspekte der Forschungslage und offene Probleme dar und eröffnen damit den Zugang zu ihrem jeweiligen Revier, wie man es von Handbüchern erwarten darf.
Die für den bildungsphilosophischen und -historischen Kontext einschlägigen Texte zeigen dabei keineswegs einen neuen oder einen bisher noch unbekannten Humboldt. Franz-Michael Konrad resümiert vor dem Hintergrund der Forschung und eigener Arbeiten souverän und übersichtlich die „Theorie der Bildung und Bildungsreformen“. Dabei rekonstruiert er einerseits sorgfältig den bekannten Quellenbestand, sieht auch die Interpretationsprobleme, die Humboldts der Entstehung und dem Kontext nach sehr diverse Texte aufwerfen, und nutzt für die Klärung der dominierenden Botschaft auch den selbst ja noch kontroversen Stand der langjährigen Diskussion und forschung – seit Spranger 1910, könnte man sagen. Dabei ist er im Konfliktfall geneigt, sich eher die konservative Lesart zu eigen zu machen, wenn er z.B. Humboldts „Stufen des Unterrichts“ etwas rasch und gegen Humboldts eigenen Sprachgebrauch mit ‚Schularten‘ gleichsetzt und ziemlich bald statt von „schulischem Unterricht“ durchgängig vom „Gymnasium“ spricht, was keineswegs unstreitig ist – aber er markiert die Varianz der Deutungen. Dennoch sollte man parallel und für die Philosophie auch „Humboldt und der Deutsche Idealismus“ (Dirk Westerkamp in Teil V) lesen. Für den „Formelkram des Berechtigungswesens“, an dem die „neuhumanistische Bildungsidee […] erstickt“ sei (173), sollte Konrad sich schließlich an Humboldt selbst und dessen Begründung von Prüfungen halten, um zu sehen, welche historische Zäsur mit der Einführung und Durchsetzung des Leistungsprinzips für alle gesetzt wurde. Sven Haase, durch eine Studie über ihre Frühgeschichte ausgewiesen, schreibt über „Humboldt und die Berliner Universität“. Er resümiert den Stand der Forschung, wie er bis 2010 zum Jubiläum der Universität vorgelegt wurde, knapp, ohne neue Akzente. Allerdings verdient seine These Kritik, wonach Humboldt in seiner Funktion als Sektionschef „als Erfolg […] die Reform des Schulwesens verbuchen“ konnte. Haase sieht „Reform“ wie „Erfolg“ darin, dass sich „das Schulwesen […] zukünftig in drei aufeinander aufbauende Schularten (Elementarschule, Bürgerschule und Gymnasium) gliederte“ (363) – aber das ist eine kühne These. Das mit der Systembildung des 19. Jahrhunderts sich entwickelnde soziale Klassenschulsystem und seine zwei nebeneinander bestehenden, strikt separierten Strukturen kann man weder politisch, seit dem Scheitern des (Humboldt-)Süvernschen Schulgesetzentwurfes, noch bildungstheoretisch Humboldt zurechnen – schon Konrad sieht das differenzierter. Aber das gehört auch zu den Vorzügen eines guten Handbuchs, dass es die Konflikte über Texte, Lesarten und Interpretationen sichtbar macht, die ein großer Denker wie Humboldt aufwirft.
[1] Ette, O. (2021). Alexander von Humboldt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler.
[2] Spranger, E.: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Berlin 1910. Spranger profitierte auch von den Editionen bis dato unbekannter Schriften Humboldts, die B. Gebhardt Ende des 19. Jahrhunderts vorgelegt hatte.
[3] Dafür Mattig, R. (2019). Wilhelm von Humboldt als Ethnograph. Bildungsforschung im Zeitalter der Aufklärung. Beltz.
[4] Man lese Spranger 1910 oder Benner, D. (2023). Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang moderner Anthropologie, Gesellschaftstheorie und Bildungsreform. 4. Aufl. Beltz. Benners Analyse von „Humboldts Bildungstheorie im Lichte einer autobiographischen Notiz“ (11) lebt stark von nachgelassenen Schriften.
EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)
Wilhelm von Humboldt
Leben – Werk – Wirkung
Stuttgart: J.B. Metzler 2022
(426 S.; ISBN 978-3-476-02637-8; 89,95 EUR)
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Berghahn, Cord-Friedrich: Wilhelm von Humboldt, Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978347602637.html
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Berghahn, Cord-Friedrich: Wilhelm von Humboldt, Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978347602637.html