Joachim Bauer spricht als Medizinprofessor und Psychotherapeut ein 141seitiges „Lob der Schule“ aus. Zur Lösung gegenwärtiger Probleme im Bildungswesen reicht nach seiner Auffassung die von Bueb im „Lob der Disziplin“ (2006) vorgebrachte Forderung nach mehr Autorität und Respekt allein nicht aus. Laut Umschlagstext werden Perspektiven vorgestellt, die „sich für Schüler, Lehrer und Eltern aus aktuellen neurowissenschaftlichen und medizinischen Forschungen ergeben“. Sie sollen einen Beitrag zur Durchsetzung einer „für das Gelingen des Projekts Schule“ für notwendig erachteten „Neurobiologie der Schule“ leisten, die „in den täglichen Lehrbetrieb und Lernprozess“ einfließen soll. Der Autor beabsichtigt „lebensnahe Hinweise“ darauf zu geben, „wie der Nährboden aussehen muss, auf dem Liebe zum Leben, Motivation und die Lust am Lernen wachsen können“ (8). Dafür werden „Zusammenhänge zwischen Lebenssituationen und zwischenmenschlichen Erfahrungen einerseits und andererseits die durch sie beeinflussten neurobiologischen Abläufe, die der Motivation und Leistungsbereitschaft eines Kindes zugrunde liegen“ (14), dargestellt. Welches sind die vom Autor für die Schule für wichtig gehaltenen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse? Welche Bedeutung haben sie für die „pädagogische Praxis“? Inwiefern muss sich die Erziehungswissenschaft bzw. die Schulpädagogik auf eine „Neurobiologie der Schule“ einlassen?
Bauer geht auf die Themenbereiche „Schüler verstehen – eine Neurobiologie der Schule“, „Schulen – Orte des Grauens oder ‚Treibhäuser der Zukunft’“, „Lehrer“, „Berufswahl und Lehrerausbildung“, „Eltern“, „Die Politik, die Wissenschaft und das Problem der Qualitätssicherung“ sowie „Junge Menschen, die Schule und das Land, in dem wir leben“ ein. Die Kernaussage des Buches gründet in der Unterscheidung von drei in der Schule wirksamen dynamischen Größen, die neurobiologisch verankert seien: die Motivation (in erster Linie) der Schüler, die Kooperation von Lehrkräften, Schülern und Eltern sowie die Beziehungsgestaltung im Unterricht. Jedes Beziehungserleben sei vom Gehirn gesteuertes, neurobiologisch grundgelegtes Erleben und Verhalten. Dies muss nach Bauer der Ansatzpunkt sein, „wenn wir die Probleme der Schule“ (16) lösen wollen.
An neurobiologischen Details erfährt der Leser, dass der Mensch über ein Trio an Motivationsbotenstoffen verfügt, nämlich das Leistung anregende Dopamin, die (zur Vereinfachung zu einem Botenstoff zusammengefassten) zu körperlichem und seelischem Wohlbefinden beitragenden Opioide und das „Freundschaftshormon“ (19) Oxytozin. Außerdem wird dem Leser kundgetan, dass die von Bandura in den 1970er Jahren entwickelte Vorstellung des „Lernens am Modell“ eine neurobiologische Bestätigung erfahren hat. Verlässliche Beziehungen und Vorbilder mitsamt deren „Spiegelungen“ stellen nach Bauers Auffassung die entscheidenden zwei „neurobiologischen Stellschrauben“ (39) dar, um mit Schülern u.a. an ihrem Selbstwirksamkeitserleben zu arbeiten. Bauer formuliert seine Ratschläge beispielsweise in „12 Hinweisen zum Auftreten von Lehrkräften“, in einem Vorschlag für einen „Schulvertrag“ und in Anregungen zu „Elternhaus und Schule als ‚mirror system’“.
Ich frage mich, in welcher Weise derlei Verlautbarungen für die Erziehungswissenschaft und für pädagogische Tätigkeitsbereiche Veränderungen bewirken (sollten). Mehrere von Bauers Einschätzungen wirken plakativ, so zum Beispiel, wenn er den derzeitigen Sportunterricht als „über weite Strecken – nicht nur aus der Sicht der Schüler – lächerlich, sowohl quantitativ als auch qualitativ“ (41f.) beschreibt, die Sinnhaftigkeit „Kinder im Jazzchor, in einer Musical- oder Rapgruppe oder im Formationstanz auszubilden“ (40f.) als positiv hervorzuhebenden Gegensatz zur „aufgezwungenen“ Vermittlung des Wissenskanons der Klassik darstellt oder wenn er Schulen pauschal als „Orte der ständigen Zeitnot und Hetze, Orte des Grauens“ (44) diskreditiert.
Die auf die pädagogische Praxis bezogenen Folgerungen sind nicht neu, jedoch besteht ein Bruch zwischen ihnen und den ihnen zugrunde liegenden neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Bauer hebt beispielsweise hervor, dass Unterricht aus verschiedenen Phasen bestehe und dem Unterrichtsbeginn eine Schlüsselrolle zukomme. Aber was legitimiert einen Neurowissenschaftler zu Aussagen über die didaktisch-methodische Gestaltung von Unterrichtseinstiegen? Fraglos sind Lehrkräfte und Eltern ebenso wie ggf. andere Bezugspersonen wichtige Vorbilder im Sozialisationsprozess von Kindern und Jugendlichen. Aber werden Beziehungsarbeit und Vorbild- bzw. Spiegelungsfunktion bedeutsamer, nur weil sie hier als „neurobiologische Stellschrauben“ gepriesen werden? Bauers Werben um mehr Kompetenzentfaltung von Lehrkräften im Bereich ‚Beratung’ trifft meine volle Zustimmung. Warum aber „nur“ approbierte psychologische Psychotherapeuten und evtl. auch Mediziner mit abgeschlossener psychotherapeutischer Zusatzausbildung als Moderatoren und Lehrerfortbildner gelten können sollten, erscheint nicht nachvollziehbar.
Insgesamt trägt das Buch nur wenig zum neurowissenschaftlichen Erkenntnisgewinn seiner Leser bei. Der angenommene Zusammenhang zwischen neurowissenschaftlichen Kenntnissen über Lernprozesse und didaktisch-methodischem Handeln von Lehrkräften ist nicht belegt. Wer – aus welchen Gründen auch immer – für pädagogische Fragen auf Tipps und Ratschläge eines Mediziners setzt, wird dem aufklärerischen Gestus Bauers sicher etwas abgewinnen können. Kundenbewertungen beim Buchversand amazon, in denen das Buch schon mal als „pädagogische Goldader“ gepriesen wird, sollte man nicht aufsitzen. Nach allem, was man aus seriösen Auseinandersetzungen über die Schnittstellen von Neurowissenschaften und Pädagogik weiß, ist Euphorie fehl am Platz [1]. Erziehungswissenschaftler müssen sich gleichwohl fragen, was es bedeutet, wenn Bauer von Lehrern als „Insider“ betrachtet wird und sein Buch als Werk der Extra-Klasse durchgeht.
[1] Vgl. dazu Nicole Becker: „Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik“. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005 (vgl. auch http://www.klinkhardt.de/ewr/78151436.html).
EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)
Lob der Schule
Sieben Perspektiven fĂĽr SchĂĽler, Lehrer und Eltern
Hamburg: Hoffmann und Campe 2007
(141 S.; ISBN 978-3-455-50032-5; 12,95 EUR)
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Bauer, Joachim: Lob der Schule, Sieben Perspektiven fĂĽr SchĂĽler, Lehrer und Eltern. Hamburg: Hoffmann und Campe 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978345550032.html
Daniel Blömer: Rezension von: Bauer, Joachim: Lob der Schule, Sieben Perspektiven fĂĽr SchĂĽler, Lehrer und Eltern. Hamburg: Hoffmann und Campe 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978345550032.html