24 (2025), Nr. 1 (Januar)

Tom Gärtig / Claus Veltmann / Holger Zaunstöck (Hrsg.)
Total real
Die Entdeckung der Anschaulichkeit
unter Mitarbeit von Philipp Wille
Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen / Harassowitz Verlag in Kommission 2024
(221 S.; ISBN 978-3-447-12158-3; 28,00 EUR)
Total real Wenn von der Entwicklung des Realienunterrichts an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert die Rede ist, hatten und haben die Franckeschen Stiftungen (gegründet 1698) und der Hallenser Theologe Christoph Semler (1669-1740) einen festen Platz in der deutschen Bildungsgeschichte. Wie genau es jedoch zu der produktiven Verbindung zwischen Semlers und Franckes Projekt in Halle gekommen ist und in welcher Weise die Wissenschaftsgeschichte der Frühaufklärung Semlers Ideen für eine „mathematische und Handwercks-Schule“ und den Bildungskosmos des Halleschen Waisenhauses in seiner Frühphase formten, wurde in bisher nicht gekannter Tiefenschärfe in der Jahresausstellung 2024 der Franckeschen Stiftungen demonstriert.

Die Modellsammlung Semlers für den Unterricht in seiner Schule befand sich über drei Jahrhunderte hinweg im Kunst- und Naturalienkabinett der Franckeschen Stiftungen. Sie stellt den Kern der diesjährigen Ausstellung dar. Ergänzt wird die Ausstellung durch zahlreiche einschlägige Leihgaben aus anderen öffentlichen und privaten Sammlungen. Der hier zu rezensierende Katalog zur Ausstellung erläutert das eindrucksvolle Ausstellungskonzept und kontextualisiert die Objekte, die unter den Überschriften „Modellkammer. Sehen und Begreifen“, „Werkstatt. Bauen und Bewegen“ und „Observatorium: Beobachten und Messen“ präsentiert werden. Auf die Einleitung und einen Beitrag zur Bedeutung von Anschaulichkeit aus aktueller lernpsychologischer Sicht folgen vier historisch orientierte Beiträge zu Konzept und Inhalt der Ausstellung. Im reich bebilderten Mittelteil werden die Exponate vorgestellt. Den Schluss bilden zwei einschlägige Diskussionsbeiträge zur aktuellen pädagogischen und philosophischen Debatte.

Unter der Überschrift „Das Licht der Weisheit entzünden“ führt Claus Veltmann in den kulturhistorischen Zusammenhang ein, in dem Anschaulichkeit zu einer zentralen Kategorie der Welterkenntnis wurde. Francis Bacons (1561-1614) Idee, die natürliche, reale Welt und ihre Gesetze durch Beobachtung und Experiment zu erschließen, brach die Bahn für neue Erkenntnisinteressen und -methoden. Für die Entwicklung im deutschen Sprachraum steht sein Zeitgenosse, der lutherische Theologe Johann Valentin Andreae (1586-1665) am Beginn dieses Wandels des Wissenskosmos und seiner Folgen für den Unterricht. Ins Zentrum der Didaktik im 17. Jahrhundert gehört fraglos Johann Amos Comenius (1592-1670), aber auch Andreas Reyher (1601-1673) und Erhard Weigel (1625-1699) müssen in dieser Genealogie genannt werden. Veltmann lenkt schließlich den Blick auf den letzten sogenannten „Universalgelehrten“, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der als Mathematiker und Physiker Bildungsstätten forderte, in deren Lehrplan mathematisch-physikalische Bildungsinhalte aufgenommen werden. Auch sein Zeitgenosse Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651-1708), sächsischer Erfinder und Unternehmer, propagierte neue Bildungsinhalte, die in die reale Welt der Naturgesetze einführten. Leibniz und Tschirnhaus standen beide mit August Hermann Francke im Austausch. Mit ihren umwälzenden Ideen trugen sie zur Neukonzeption von Unterricht und Didaktik in den Schulen des Halleschen Waisenhauses bei. Getragen waren diese frühaufklärerischen Impulse allemal von der Überzeugung, den Ruhm Gottes zu vermehren, und damit zugleich von dem Willen, die „gesamte Gesellschaft zu bilden und zu reformieren“. In diesem Sinn inspirierten sie Christoph Semler, seine Modellsammlung aufzubauen, und August Hermann Francke, sie zu nutzen. Wie dies genau geschah, kann in der Ausstellung nachvollzogen werden.

Dass die Modellsammlung der Kunst- und Naturalienkammer in den Franckeschen Stiftungen auf Christoph Semler zurückgeht und Semler für den naturwissenschaftlichen Unterricht und die Handfertigkeitsunterweisung in den Waisenhausschulen einflussreich war, war schon immer bekannt.[1] Auch die wissenschaftsgeschichtlichen Dimensionen der Verbindung von Semler und dem Waisenhaus sind inzwischen gut erforscht.[2] Tom Gärtig konnte nun auf der Basis von neuen Quellenfunden die wechselvolle Geschichte von Semlers Schule und seinen mechanischen Modellen jedoch genauer rekonstruieren. Semlers mathematische und mechanische „Handwercks-Schule“ existierte von 1706 bis 1713. Semler konnte dieses für die frühe Neuzeit nicht untypische schulische Zusatzangebot nicht dauerhaft etablieren.[3] 1718 schenkte der Theologe seine mechanische Schule dem Waisenhaus und leitete dort die Entwicklung des entsprechenden Unterrichts an. Er selbst nutzte sie weiterhin für eigene Vorträge. Daran anschließend widmet sich Gärtig den eigentlichen didaktischen Neuerungen in den Schulen des Waisenhauses. Im Pädagogium Regium, einer seinerzeit höchst modernen Schule für die höheren Stände, gehörte Handfertigkeitsunterricht zum Lehrplan. In den Quellen als „Recreation“ bezeichnet, belegen die Unterrichtsergebnisse im Drechseln, in Papierarbeiten und im Linsenschleifen ein erstaunlich hohes Niveau. Angeleitet von Handwerkern sollte den Schülern zu einem fachlich grundierten Urteilsvermögen in verschiedenen Tätigkeiten verholfen werden, ein Ziel, das der tradierte Lehrplan nicht angestrebt hatte.

Im vierten Katalogbeitrag dieses Abschnitts werden die räumlichen und geistigen Dimensionen der Franckeschen Schulstadt zusammengeführt. Der „Bildungskosmos“ des Waisenhauses, so Philipp Wille, erstreckte sich zwischen der theologischen Absicht der Ergründung der Schöpfung Gottes und dem Ziel, Wissen über die jeweiligen Gegenstände zum praktischen Nutzen zu vermitteln, und spiegelt sich auch räumlich in den Stiftungen wider. Dass dieser Bildungskosmos im Zuge der Lösung einzelner gesellschaftlicher Teilbereiche aus kirchlichen Autoritätsansprüchen auseinanderfiel, gehört in die Wirkungsgeschichte der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert.

Gerahmt werden die historischen Beiträge der Kuratoren durch aktuelle Perspektiven auf Anschaulichkeit, handelt es sich doch um ein Konzept, das zwar für den Lernprozess offensichtlich nicht überholt, aber zugleich auch stark infrage gestellt wird. Magdalena Novak und Stephan Schwan skizzieren die didaktischen Strategien der Veranschaulichung für den Lernvorgang aus lernpsychologischer Sicht. Dazu gehören Experiment, Reduktion, Verkleinerung oder Vergrößerung zur Modellierung einer Sache und vor allem auch Haptik, sinnliche Erfahrung. Angesichts der gegenwärtigen Digitalisierung in Lernprozessen, die die Haptik ausschließt, fragen die Autoren abschließend danach, ob diese beiden gegenläufigen Stränge von Unterrichtsmedien, hier die auf visuelle Rezeption beschränkte, virtuell bespielte Fläche, dort die sinnliche Erfahrung durch Modell und Experiment, je wieder miteinander verwoben werden können.

Zwei weitere Beiträge zu heutigen Debatten über Anschaulichkeit sind dem Mittelteil des Katalogs nachgestellt. Christian Wiesmüller wirft aus der Sicht des Technikdidaktikers die Frage auf, ob durch die Digitalisierung und die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz im Unterricht Anschaulichkeit als didaktisches Prinzip abgelöst werden kann. Im Anschluss an Günter Anders Warnungen vor den vom Menschen unkontrollierbaren Folgen der technischen Entwicklung, die durch die Künstliche Intelligenz noch einmal dringlicher geworden seien, beharrt Wiesmüller auf der Notwendigkeit von Erleben, Erfahren und Begegnen mit sinnlich Wahrnehmbarem, damit Kind oder Jugendliche sich in der gegenständlichen Welt zurechtfinden. Angeregt durch wissenschaftshistorische Positionen, nach denen die Vorstellung einer Ganzheit des Individuums eine Konstruktion der westlichen Welt ist, stellt Lukas Nils Regeler die „posthumanistische Weltsicht“ dar. Die für die menschliche Wahrnehmung als konstitutiv angenommene Beziehung von Subjekt zu Objekt ist aus dieser Perspektive obsolet geworden und damit wird zugleich unser westliches, seit dem 17. Jahrhundert geprägtes Weltbild grundsätzlich in Frage gestellt. Die Bedeutung der historischen Vergewisserung für die Erkenntnis neuer Herausforderungen an Schule und Unterricht wird durch diese drei Beiträge unterstrichen, zugleich weisen sie über die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen hinaus.

Wie immer zeugt der sorgfältig edierte Katalog von der hohen ästhetischen und wissenschaftlichen Qualität der Ausstellungen in den Franckeschen Stiftungen. Im Mittelteil finden sich Abbildungen und ausführliche Erläuterungen zu den Ausstellungsstücken, geordnet nach der Präsentation der Exponate. Den ausgestellten Reichtum kann eine spröde Rezension in Worten nicht vermitteln. Es ist ein Reichtum, der über seine bildungsgeschichtliche Bedeutung hinaus ästhetische Dimensionen eröffnet und damit die im Geleitwort vom Direktor der Stiftungen Thomas Müller-Bahlkes aufgestellte Behauptung unterstreicht, dass „das Originalexponat nichts von seiner Aura und Anziehungskraft […] eingebüßt hat“. Für alle Leserinnen und Leser, die es nicht mehr bis zum 2. Februar 2025 nach Halle schaffen, zum Schluss: Es gibt eine Online-Fassung der Ausstellung: https://totalreal.francke-halle.de/kapitel/anschaulichkeit. Für alle jene, die die analoge Ausstellung gesehen haben, gilt: Welche Vorteile und welche Nachteile die analoge und die digitale Form der Präsentation jeweils haben, ist mithin überprüfbar.

[1] Thomas J. MĂĽller-Bahlke: Der Realienunterricht in den Schulen August Hermann Franckes, in: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen. Halle 1997 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 4), S. 43-65.
[2] Kelly Joan Whitmer: The Halle Orphanage as Scientific Community. Observation, Eclecticism and Pietism in Early Enlightment. Chicago, London University of Chicago Press 2015.
[3] Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts gelang dies seinem Schüler Johann Julius Hecker (1707-1768) in Berlin, weshalb mal Semlers, mal Heckers Schule als Deutschlands erste „Realschule“ bezeichnet wurde.
Juliane Jacobi (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Juliane Jacobi: Rezension von: Gärtig, Tom / Veltmann, Claus / Wille, Holger Zaunstöck (Hrsg.), unter Mitarbeit von Philipp: Total real, Die Entdeckung der Anschaulichkeit. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen / Harassowitz Verlag in Kommission 2024. In: 24 (2025), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2025), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978344712158.html