In ihrer narrativ angelegten, lesenswerten und informativen Studie stellt die Autorin drei Diskursstränge zur frühkindlichen Erziehung dar: Äußerungen von Experten (von Kinderärzten bis zu Pädagogen), Ratgebertexte (von Dr. Czerny bis Dr. Spock) und Elterntagebücher aus den Jahren 1892 bis 2003. Letztere – 73 Tagebücher aus 50 Familien – stehen im Mittelpunkt. Sie werden als soziale Praktiken verstanden, anhand derer sich die Übersetzung der Experten- und Ratgebertexte in subjektives Wissen darstellen lassen soll. Weder eine Verfalls-, noch eine Fortschrittsgeschichte sei dabei herausgekommen, so die Autorin (240f.), sondern der Aufweis eines langfristigen Wandels bei gleichzeitig kontinuierlich vorhandenen Elementen. Dieser Wandel geht vom „beobachteten Kind“ über das „kontrollierte Kind“ zum „eigenen Kind“. Am Anfang steht die frühe wissenschaftliche Erforschung des Kindes, die in genauen Beobachtungen der Entwicklung zu allgemeinen Aussagen über „das“ Kind gelangte, die wiederum in die Ratgeberliteratur einflossen, wo sie normierend wirkten und zu Kontrolle führten. In der letzten Phase bricht diese allgemeine Perspektive zwar zuweilen auf und das individuelle, das „eigene“ Kind wird in den Tagebuchaufzeichnungen sichtbar, doch halten sich bis in die Gegenwart hinein auch Momente der Normierung und Kontrolle.
Mit der Quellenauswahl ist eine spezifische soziale Auswahl verbunden, handelt es sich bei den Eltern, die solche Tagebücher schrieben, in der Regel um bürgerliche, kulturell und materiell besser gestellte Familien. Vor diesem Hintergrund wird am Ende des Bandes dann betont, es sei darum gegangen, die „dominanten Sozialisationsmuster in der bürgerlichen Erziehungsavantgarde im 20. Jahrhundert“ zu rekonstruieren (240). Angesichts der schmalen Quellenbasis konnte dieses Vorhaben aber nicht gelingen. Seine Stärken hat der Band aber zweifellos in den Passagen, in denen Auszüge aus den Elterntagebüchern vorgestellt und interpretiert werden. Dabei macht Gebhardt u.a. darauf aufmerksam, dass selbst der kontrollierende Blick zu dem paradoxen Ergebnis einer stärkeren Auseinandersetzung mit, wenn nicht gar Hinwendung zum Kind führte, auch in der Zeit des Nationalsozialismus, oder dass die Tagebücher der 68er-Generation insofern in einer interessanten Kontinuität zu den Tagebüchern der Elterngeneration der 68er standen, als sie beide einen stark rationalistischen und technologischen Blick auf die Möglichkeiten der Erziehung hatten.
Die Quelle Elterntagebuch bietet vertiefende Einblicke in die Beschreibungen der Kindesentwicklung durch die Eltern. Allerdings wünscht man sich statt der vielen mehr oder wenigen kurzen Auszüge irgendwann doch eine vertiefende Analyse dieser in gewissem Sinne seriellen Quelle. Das schmälert jedoch nicht den Ertrag der Studie.
EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)
Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen
Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert
MĂĽnchen: Deutsche Verlags-Anstalt 2009
(336 S.; ISBN 978-3-4210-4413-6; 24,95 EUR)
Klaus-Peter Horn (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Gebhardt, Miriam: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert. MĂĽnchen: Deutsche Verlags-Anstalt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978342104413.html
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Gebhardt, Miriam: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert. MĂĽnchen: Deutsche Verlags-Anstalt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978342104413.html