EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Jan Kellershohn
Die Politik der Anpassung
Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022
(475 S.; ISBN 978-3-412-52250-6; 65,00 EUR)
Die Politik der Anpassung Die im Rahmen seiner Dissertation entstandene Publikation des Historikers Jan Kellershohn zum Wandel von Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet zwischen 1950 und 1980 ist sowohl theoretisch wie auch empirisch sehr ambitioniert. Sie will keine Erfolgsgeschichte der Berufsbildung zur Darstellung bringen, sondern mittels eines Vergleichs mit dem Nachbarland Frankreich regionale bzw. sektorielle Wissenspolitiken explizieren, die einen ‚Qualifizierungsimperativ‘ im Strukturwandel im Zeitraum von 1950–1980 umzusetzen versuchten. Betroffen von einer solchen Herausforderung oder auch Zumutung waren alle Arbeitenden, aber ebenso die Auszubildenden, die sich jeweils auf einen solchen Wandel einzustellen hatten und – so der spezifische Blick dieser historischen Studie – dabei Verluste hinnehmen mussten bzw. oftmals als Verlierer galten.

Die hier pointiert widergegebene Argumentation wird in der Einleitung (Kapitel 1) und im Schlusskapitel (Kapitel 7) ausfĂŒhrlich (und teilweise auch redundant) expliziert. Der Kern der Studie wiederum ist chronologisch gestaltet und vergleicht die Entwicklung der Zechen in Nordfrankreich und im Ruhrgebiet (1950er und 1960er Jahre) (Kapitel 3), geht anschliessend nur noch auf das Ruhrgebiet bezogen auf die Institutionalisierung der Umschulungen in den 1960er Jahren ein, weiter auf die Expansion der Erwachsenenbildung (1960er und 1970er Jahre) und darĂŒber hinaus auf die „Institutionalisierung der Lernbehinderung“ (1966–1980) (Kapitel 4–6). In den ausfĂŒhrlichen Kapiteln 2–6 werden viele bis anhin wenig bekannte Diskussionen und lokale Initiativen im Zusammenhang mit dem Aufbau und Ausbau von beruflicher Bildung, Weiterbildung und Umschulung vorgestellt und auch die Rolle der Kammern, Gewerkschaften und der Lokalpolitik prĂ€sentiert. Dabei wird eine große Zahl an bislang kaum erschlossenen Quellen ausgewertet.

Im Zuge des von wirtschaftlichen Anpassungsproblemen gekennzeichneten Strukturwandels stellte sich u.a. konkret die Frage, wie und ob sich fĂŒr einen ehemaligen Bergarbeiter durch Umschulung eine neue BeschĂ€ftigung in so unterschiedlichen Berufen wie dem eines Programmierers oder Masseurs eröffnen konnte. Im Fokus ist also vorwiegend der mĂ€nnliche Facharbeiter, der zuvorderst ausgebildet, aber angesichts des wirtschaftlichen und technologischen Wandels insbesondere auch ‚mobil‘ sein sollte. Dieser Anspruch auf MobilitĂ€t ist eine zentrale Perspektive der Studie. Er war (und ist) allerdings, wie der Autor feststellt, stark genderspezifisch besetzt: Frauen waren gemĂ€ĂŸ damaliger Berufspraxis und Vorstellung weniger UmschulungsbemĂŒhungen ausgesetzt, da ihnen beruflich, aber auch familiĂ€r eine andere Rolle zugedacht war.

Kellershohns Darstellung der Berufsbildung, Erwachsenenbildung und Umschulung wird im Rahmen des Strukturwandels als Experimentalsystem gefasst und ist – wie ebenso im Schlusskapitel explizit hervorgehoben – dezidiert pessimistisch gestaltet. Seine kritische Fragestellung richtet sich im Kern auf die latente Zuschreibung fehlender BildungsfĂ€higkeit und die damit einhergehende Politik der Anpassung; dabei interessieren den Autor weniger die Evaluationen getroffener institutioneller Maßnahmen, aber auch weniger die pĂ€dagogischen und sozialwissenschaftlichen Diskurse als solche, als vielmehr die dem Auszubildenden und Umzuschulenden als Defizite zugeschriebenen fehlenden Lernpotenziale. Im Zentrum steht also die damals eher implizit denn explizit vorherrschende Wahrnehmung, dass Umschulungen nicht die erwĂŒnschten Erfolge erbringen und Auszubildende Lernschranken aufweisen wĂŒrden oder gar als „lernbehindert“ kategorisiert wurden. Eine Historisierung, so der immer wieder mal angemahnte Anspruch, gibt den Blick frei auf FehleinschĂ€tzungen und gescheiterte, aber auch abgewehrte Versuche, Arbeit und insbesondere den strukturellen Wandel durch Bildungsmaßnahmen abzufedern. Der Wille zur Umstellung war da, aber die BildungsfĂ€higkeit bildete eine Schranke bzw. knappe Ressource, die Ausschließungspraktiken provozierte. Die Annahme einer fehlenden UmstellungsfĂ€higkeit fĂŒhrte zu einer ausschließenden Wissenspolitik, welche eine ursprĂŒnglich moralistisch-holistische Eingliederungslogik ablöste, so die dĂŒstere Diagnose des Autors. Der angestrebte Spielraum fĂŒr ‚Vereindeutigungen‘, auch dies ein zentraler Begriff in der vorliegenden Studie, wurden im Verlauf der Jahre eingeengt. Der leere Signifikant des Umstellungswillens, mit der diesen umgebenden Kette von Signifikanten wie AnpassungsfĂ€higkeit oder BildungsfĂ€higkeit wurde laufend restriktiver gefasst und die Adressaten zu bildungsfernen und immobilen Verlierern umdefiniert. Der Vergleich mit Frankreich weist hierbei darauf hin, dass trotz grenzĂŒberschreitenden regionalen Austausch- und Abstimmungsprozessen die national-, branchen- und regionalspezifischen Differenzen im Umgang mit dem Strukturwandel nicht verschwanden bzw. sich kaum anglichen. TatsĂ€chlich war die Bedeutung des Ruhrgebietes als ProjektionsflĂ€che auf der Suche nach dem Umstellungswillen, welcher durch Bildung fundiert bzw. komplementiert werden sollte, so in Nordfrankreich nicht erkennbar.

Jan Kellershohn ist Historiker und stĂŒtzt sich neben den Quellen vorwiegend auf historische Referenzliteratur, gelegentlich ebenso auf allgemein erziehungswissenschaftliche bzw. bildungshistorische Studien. AuffĂ€llig hingegen ist, dass Forschungen aus dem Bereich der (historischen) Berufs- und WirtschaftspĂ€dagogik nicht zur Kenntnis genommen wurden. Deren Einbezug wĂ€re etwa mit Blick auf das Konzept des Berufes, das Anschlussmöglichkeiten an den vom Autor etwas unscharf gefassten Begriff der ‚Wissenspolitik‘ geboten hĂ€tte, von Nutzen gewesen. Die Arbeit ist neben der starken und eigenstĂ€ndigen Profilierung auch im Dialog mit anderen Historikern, so insbesondere Lutz Raphael mit seiner wegweisenden und ebenfalls vergleichenden Studie „Jenseits von Kohle und Stahl“ (2019) [1] (die tatsĂ€chlich auch auf entsprechende berufspĂ€dagogische Literatur Bezug nimmt) zu sehen.

Jan Kellershohns Studie wendet sich bewusst gegen jegliche eindimensionale Narrative. Ein historisch und sozialwissenschaftlich gĂ€ngiges Muster, das dem Neoliberalismus, aber auch dem Klassenkonflikt wie ebenso der Disziplinierung, Responsibilisierung und einem sich durchsetzenden Selbstoptimierungspotenzial eine zentrale Rolle zugesteht, wird gemĂ€ĂŸ den AusfĂŒhrungen des Autors im Lichte der eigenen und mehrere Perspektiven einbeziehenden Forschung relativiert. Das entfaltete Narrativ lĂ€sst – so Kellershohn – auch fĂŒr heutige Zeiten Skepsis aufscheinen, wenn es darum geht, das ‚Ruhr-Valley 4.0‘ auszurufen bzw. eine Wissens- und Innovationsregion entstehen zu lassen. Seine „schurkische ErzĂ€hlung“ (409) will stattdessen die(se) Geschichte und im Besonderen den Willen zur Umstellung nicht als GĂŒtesiegel, sondern als Kern des Problems, das zu vergangenen, fortbestehenden und neu auftretenden Ausschlusspraktiken fĂŒhrt, lesen. Insofern handelt es sich hier um eine höchst anspruchsvolle, provokante und anregende Studie, die hoffentlich weitere Forschungen motiviert.

[1] Raphael, L. (2019). Jenseits von Kohle und Stahl. Suhrkamp.
Philipp Gonon (ZĂŒrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Gonon: Rezension von: Kellershohn, Jan: Die Politik der Anpassung, Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978341252250.html