Anliegen der von Sara Aebi vorgelegten Dissertation „Mädchenerziehung und Mission“ ist die pädagogisch-historiographische Analyse des Quellenbestandes der durch die Herrnhuter Brüdergemeine 1766 in Montmirail gegründeten „Töchterpension“. Aebi konzentriert sich dabei vor allem auf die Gründungsphase sowie den Prozess der Etablierung im Kontext gesamtschweizerischer Mädchenschulen für vorwiegend bürgerliche Kreise bis um 1800. Inhaltlich fokussiert der Band einerseits vor allem die konkrete Praxis einer theologisch orientierten Pädagogik, wie sie für die Brüderunität als Trägerinstitution der Einrichtung nur folgerichtig ist. Andererseits fragt die Verfasserin nach den Ursachen für die Entwicklung des Instituts zu einer keineswegs unbedeutenden Bildungseinrichtung, die bis 1800 etwa 400 Mädchen und junge Frauen durchlaufen haben, die nur zu einem kleinen Teil aus der Unität selbst stammten.
Auf die Einleitung, die über Situation und Bedeutung der Brüderunität in der Schweiz, den Quellenkorpus sowie den Forschungsstand informiert, folgen zwei große Teile, wovon sich der erste mit der Pädagogik der Herrnhuter und einer exemplarischen Orientierung der Mädchenbildung in der Schweiz des 18. Jahrhunderts beschäftigt. Diese wird später einem Vergleich mit der Anstalt von Montmirail dienen, wodurch Aebi die spezifische Bedeutung und Rolle der herrnhutischen Schule zeigen möchte. Der zweite Teil widmet sich konkret dem Pensionat in Montmirail und nimmt den Gründungsprozess und die damit verbundenen Strategien der Brüdergemeine, die Schülerinnen und das Personal sowie das Erziehungskonzept in den Blick.
Wie im Titel des Bandes bereits deutlich wird, fasst Aebi die theologische Pädagogik der Herrnhuter in Montmirail begrifflich als Mission, d.h. als ein gleichermaßen erzieherisches wie religiöses Engagement im Dienst des Aufbaus des Reiches Gottes. Der Ausgangspunkt dieser theologischen Pädagogik liegt für die Brüdergemeine in einer zweipoligen Anthropologie: Neben die erbsündliche Verfasstheit des Kindes tritt die prinzipielle Möglichkeit der Entfaltung einer natürlichen Religiosität (42). Auch wenn die Herrnhuter betonten, dass allein Christus derjenige sei, der eine Transformation der menschlichen Seele ermögliche, konnte doch Erziehung hierfür hilfreich sein. Voraussetzung war dabei – und hierin findet sich zugleich eine Art Anforderungsprofil für die Pädagoginnen und Pädagogen in Montmirail – die Erziehung des eigenen Selbst durch die beständige Hinwendung zu Jesus Christus. Nur gewandelte Seelen konnten noch nicht Bekehrte auf dem Weg zur Wiedergeburt begleiten. Erzieherinnen und Erzieher konnten auf diese Weise an der Errichtung des Reiches Gottes mitwirken (371). Pädagogisch schlug sich diese Denkungsart vor allem in zwei Zielen der „Töchterpension“ nieder: Einmal in der Bewahrung der dem Institut anvertrauten Kinder vor der sündhaften Welt und dann in der Öffnung ihrer Herzen für Jesus Christus (64) zur Ermöglichung einer intimen Kommunikation mit ihm. In methodischer Hinsicht führte dies einerseits zu verschiedenen Maßnahmen, die Mädchen vor „schlechten“ Einflüssen zu bewahren. Dazu gehörten dauernde Kontrolle, aber auch die Pflicht zur Überprüfung von Noten, Literatur oder Teilen der brieflichen Korrespondenz. Damit verbunden war die Intention, eine Persönlichkeit herauszubilden, die bei der „Rückkehr in die sündige Welt“ nicht hinter das erreichte Gnadenniveau zurückfallen konnte (138, 163, 254-257). Andererseits ergaben sich daraus Forderungen an das pädagogische Personal. Den Kindern sollte mit Liebe und Freundlichkeit begegnet werden und erzieherische oder schulische Maßnahmen galt es, auf die Individualität des jeweiligen Kindes abzustimmen (367). Es ist zunächst frappierend zu sehen, wie die von Aebi rekonstruierte pädagogische Praxis der Überwachung sich offenbar problemlos mit einer konzeptionellen Orientierung am einzelnen Kind und freundlicher Zuwendung verträgt. Aber dann erkennt man darin – und Aebi stellt diesen Zusammenhang, wenngleich äußerst knapp, auch her – zentrale Elemente einer modernen Pädagogik des Subjekts mit ihrem (psychologischen) Fokus auf das Kind, wie sie pietistische oder theologische Bildungskonzepte generell hervorgebracht haben (368f). Pädagogische Beobachtung, Diagnose und individualisierter Unterricht lassen sich so als theologisches Erbe gegenwärtiger Erziehungswirklichkeit identifizieren – wenngleich solche Bezüge nicht das Anliegen der streng den Quellen folgenden Arbeit sind.
Aebi verhandelt die pädagogisierte Theologie der Herrnhuter, wie sie in der Mädchenschule in Montmirail praktiziert wurde, vor allem unter dem Begriff der „Mission“. Dass missionarische Profil der „Töchterpension“ ergibt sich für die Autorin aus einer Reihe zentraler pädagogisch-theologischer Aspekte: Zu nennen wären ebenso die Bewahrung vor Sünde wie die Befähigung zu einem frommen Leben in der Welt wie die Vorstellung der Pension als einer Schule des Heiligen Geistes mit dem Ziel der Ausbreitung des Reiches Gottes (64, 138, 156). Hinzu kommt eine systematische Praxis religiöser Erziehung, die den Schulalltag durchzieht und im Vergleich zu anderen Mädchenschulen in der Schweiz ungewöhnlich ist. Dazu gehörten geistliche Singstunden, Liturgien oder Versammlungen mit Predigt sowie seelsorgerliche Gespräche der Pensionärinnen mit ihren vorgesetzten Erziehern, in denen Letztere auch die Aufgabe hatten, den „Gnadenstand“ der Mädchen zu begutachten (253, 303, 310).
Wenigstens zum Teil dazu standen wohl die Interessen der Eltern in Konkurrenz. Diese wünschten sich für ihre Töchter, so Aebi, in erster Linie die Möglichkeit, eine dem bürgerlichen Stand entsprechende Bildung zu erwerben. Dazu zählten nicht zuletzt die Fähigkeit zur sicheren Konversation in französischer Sprache, gute Manieren sowie Musikunterricht (165, 202). Offenbar gelang in Montmirail, was im Hallenser Gynäceum gescheitert war: Die Verbindung pietistischer und bürgerlicher Bildung (168). Der Grund dafür lag vermutlich in der schweizerischen Tradition der sogenannten „Welschlandaufenthalte“ für Mädchen aus Familien des Adels, Bürgertums oder Klerus der deutschsprachigen Schweiz. So erwünscht diese Aufenthalte bei den Eltern waren, so sehr waren sie auch mit Sorgen hinsichtlich sittlicher Gefahren verbunden (9, 77, 130). Das Herrnhuter Projekt in Montmirail konnte durch die Brüdergemeine als moralisch einwandfreiem Träger diese elterlichen Bedenken zerstreuen und aufgrund der Offenheit der Herrnhuter für Bildung – gerade auch für Mädchen – beide Anliegen im Prinzip miteinander verbinden.
Aebis instruktive Studie erschließt akribisch die Quellen zur „Töchterpension“ in Montmirail aus bildungshistorischer Sicht und stellt sie gekonnt in den Zusammenhang der zeitgenössischen Mädchenbildung in der Schweiz wie der theologischen Pädagogik der Brüdergemeine. Dadurch ermöglicht sie der Leserschaft einen interessanten und bisweilen spannenden Zugriff auf eine bedeutsame Vorstellungswelt der Erziehungsgeschichte im Kontext des Christentums. Es gelingt ihr, die Erziehungspraxis und die damit verbundenen religiösen Denkweisen im Pensionat von Montmirail eindrücklich herauszuarbeiten. Das religiöse Motiv wird dabei in seiner ganzen Ambivalenz deutlich. Es ist Motor ständiger Selbst- und Fremdkontrolle, aber ermöglicht als Praxis der Subjektivierung auch Räume zur Entwicklung von Affektivität und des Bewusstseins seiner selbst. Abgesehen von einigen Redundanzen, sprachlich gewandt und den Quellen verpflichtet, liegt mit dieser Studie eine detail- und erkenntnisreiche Arbeit vor, die einen spezifischen Aspekt pietistischer Pädagogik lebendig werden lässt und daher beim Lesen eine gewisse Vorkenntnis erfordert.
Vielleicht bleiben die von Aebi in der Arbeit immer wieder gezogenen Querverbindungen zu zeitgenössischen Akteuren, z.B. im Halleschen Pietismus oder zu Rousseau sowie zur historisch-pädagogischen Theoriediskussion mitunter zu zaghaft. Auch der von der Autorin als Interpretament schlüssige Missionsaspekt bleibt auf der Ebene der theologischen Begriffsklärung vage. Beim Lesen irritiert daher, dass die Anstalt in Montmirail – so die Quellen – nicht zur Rekrutierung für die Unität diente, während man sich andererseits erhoffte, dass die ehemaligen Schülerinnen in ihren Familien und Heimatorten zu Multiplikatorinnen würden (139, 336). Ist das nun missionarisch oder doch eher nicht? Möglicherweise hätte es so hilfreich wie interessant sein können, die Erkenntnisse der Arbeit mit der Entwicklung des protestantischen Missionsverständnisses zu konfrontieren, das vor allem durch den Pietismus wichtige Impulse erhielt. Zudem wäre es wichtig gewesen, missionarisches Wirken in einer christlichen Gesellschaft von der eigentlich mit dem Wort Mission assoziierten Verkündigung des Evangeliums unter Nichtchristen in Übersee zu unterscheiden. Dann hätte Aebi etwa zeigen können, wie „modern“ die Herrnhuter Mission dachten, in dem sie z.B. auf die Bedeutung des Vorbildes setzten, „Inkulturation“ betrieben und nicht an oberflächlichen Massenbekehrungen interessiert waren, sondern ihre Bemühungen dazu einsetzten, dass einige wenige den Glauben an Christus in ihrem Herzen ergriffen [1]. Nicht dass Aebi nicht genau diese Aspekte in unzähligen Varianten in den Quellen gefunden und auch dargestellt hätte. Aber die Einordnung in größere Theoriezusammenhänge hätte die Erkenntnisse über das Projekt von Montmirail wohl noch erweitert. In diesem Zusammenhang bleibt auch die Bedeutung der durch Montmirail ermöglichten Kontakte zur reformierten Geistlichkeit nebulös. Ob diese Kontakte und das angestrebte gute Einvernehmen mit der Reformierten Kirche dazu dienten, die Missionsarbeit in einem christlichen Umfeld abzusichern oder ob man sich erhoffte, die dem religiösen Gefühl tendenziell kritisch gegenüberstehenden Calvinisten für eine spirituelle Vertiefung ihrer religiösen Praxis zu gewinnen, bleibt offen [2].
Die Arbeit Aebis stellt damit insgesamt eine äußerst lesenswerte, detaillierte und akribisch erstellte Quellenstudie für alle am Pietismus und an der Rolle des Christentums bei der Entstehung der modernen Pädagogik Interessierten dar.
[1] Vgl.: Hertrampf, S.: „Unsere Indianer-Geschwister waren lichte und vergnügt“. Die Herrnhuter als Missionare bei den Indianern Pennsylvanias 1745-1765. Frankfurt am Main: Peter Lang 1997, 80-82 u. 88-90.
[2] Da es der überkonfessionell-ökumenisch orientierten Brüdergemeine im europäischen Kontext vor allem um eine individuelle Vertiefung des christlichen Glaubens ging, mögen beide Aspekte eine Rolle spielen. Schließlich war eine „innere“ Mission unter Getauften auf die Akzeptanz der regional vorherrschenden Konfession angewiesen (vgl.: Motel, H.-B.: Brüderunität II. Die erneuerte Brüderunität. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Band. 2, 722).
EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)
Mädchenerziehung und Mission
Die Töchterpension der Herrnhuter Brüdergemeine in Montmirail im 18. Jahrhundert
Reihe: Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Band 48
Reihe: Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Band 48
Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
(426 S.; ISBN 978-3-412-50358-1; 65,00 EUR)
Alexander Maier (SaarbrĂĽcken)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alexander Maier: Rezension von: Aebi, Sara: Mädchenerziehung und Mission, Die Töchterpension der Herrnhuter BrĂĽdergemeine in Montmirail im 18. Jahrhundert Reihe: Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Band 48. Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978341250358.html
Alexander Maier: Rezension von: Aebi, Sara: Mädchenerziehung und Mission, Die Töchterpension der Herrnhuter BrĂĽdergemeine in Montmirail im 18. Jahrhundert Reihe: Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Band 48. Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978341250358.html