EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)

Juliane Jacobi / Jean-Luc Le Cam / Hans-Ulrich Musolff (Hrsg.)
Vormoderne Bildungsgänge
Selbst- und Fremdbeschreibungen in der frühen Neuzeit
Köln: Böhlau 2010
(296 S.; ISBN 978-3-4122-0492-1; 37,90 EUR)
Vormoderne Bildungsgänge Das vorliegende Buch entstand im Kontext einer bildungshistorischen Konferenz im März 2009 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld und beinhaltet neben einer Einleitung (auf Deutsch und Französisch) 14 interdisziplinäre Artikel zu den Themenschwerpunkten „Selbstkonstitution im Kontext“, „Institution und Bildungsweg“ und „Solitäre oder Funktionseliten?“

Einleitend wird ein kurzer Überblick über die Motivation zur Tagung gegeben: Bei der Betrachtung der Forschungslandschaft zum Thema Selbstbildnis, Bildung und Biographie fällt auf, dass diese Forschungsperspektive einerseits in letzter Zeit neue Impulse erfahren hat, dabei andererseits aber die Zeit zwischen 1500 und 1750 deutlich vernachlässigt wurde. So beschäftigen sich nur wenige (namentlich Natalie Zemon Davis und Willem Frijhoff) mit der Selbstwahrnehmung einzelner Individuen in der frühen Neuzeit; die Mehrheit der Forscher stellt Typen von Menschen, z.B. nach Stand sortiert, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Vor diesem Hintergrund widmen sich die Autoren der Frage, inwieweit sich die Bildungswege voneinander unterscheiden und ob neben dem „Königsweg“ (9) auch Seitenwege, Schleichwege oder Umwege möglich waren. Unter dem Begriff Bildung wird hier primär die Aneignung von Wissen im Kontext institutioneller und nicht-institutioneller Erziehung verstanden.

Durch die drei Themenschwerpunkte wird eine grobe Vorstrukturierung der Beiträge vorgenommen, wobei die Forschungszugänge jeweils heterogen sind. Unter dem Label „Selbstkonstitution im Kontext“ widmet sich Willem Frijhoff der Frage nach den oben bereits angesprochenen Seitenwegen, Hans Rudolf Velten stellt Überlegungen zur Methode der Auswertung von autobiographischen Texten aus literaturwissenschaftlicher Sicht an, Katja Lißmann greift den pietistischen Brief und Pia Schmid Herrnhuter Lebensläufe als Quelle auf.

Im Bereich „Selbstkonstitution im Kontext“ beschreibt Serge Tomamichel die Bildungsgänge von Stipendiaten des Kollegs von Savoyen, Juliane Jacobi berichtet von den Werdegängen von Waisenkindern, Hans-Ulrich Musolff und Stephanie Hellekamps schreiben über Bildungsgänge von Gymnasiallehrern, Jean-Luc Le Cam setzt sich mit Bildungsgängen im Spiegel von Leichenpredigten und Martin Holý mit Privaterziehern des böhmischen Adels auseinander. Harald Tersch untersucht Bildungsgänge im Kontext eines autobiographischen Berichts über eine Flucht vor den Türken.

Der dritte Bereich „Solitäre oder Funktionseliten?“ umfasst den Beitrag zu einer büchersammelnden Fürstin von Ulrike Gleixner, den Artikel von Jill Bepler über die Bildungsgänge zweitgeborener Fürstensöhne, die Bildung eines Prinzen von Pascale Mormiche und die Beschreibung des Bildungsgangs von Luisa de Carvajal y Mendoza von Michaela Bill-Mrziglod. Während sich Lißmann, Tersch, Gleixner, Mormiche und Bill-Mrziglod jeweils Einzelbiographien widmen, erarbeiten Schmid, Tomamichel, Jacobi, Mulsoff und Hellekamps, Le Cam, Holý und Bepler ihre Thesen an einer ganzen Reihe von personenbezogenen Daten.

Jeder dieser lesenswerten Artikel bietet Besonderheiten und interessante Forschungsdetails. Stellvertretend für die Bandbreite der Perspektiven stehen zwei Beiträge: Der Artikel von Le Cam, der er sich mit Leichenpredigten beschäftigt und der von Tersch, da hier aus einem scheinbar gewöhnlichen, vorgezeichneten Werdegang durch äußere Umstände für eine kurze, begrenzte Zeit ein alternativer Lebensweg wird.

Jean-Luc Le Cam skizziert zunächst die Besonderheit der Leichenpredigt als Quelle. Ein besonderer Vorteil ist die vorhandene Menge, einer der Nachteile ihre potentiell euphemistische Beschreibung des Toten. Die Auswahl des erforschten Samples ergibt sich aus der gewählten Gruppe: Ratsverwandte Männer hatten genügend Ressourcen, um Bildungswege beschreiten zu können, sie waren hoch angesehen und ihr Leben ist daher gut dokumentiert. Die Auswertung von 559 Predigten aus den Jahren 1510-1700 ergab ein eher undifferenziertes Bild der besuchten Schulen, da häufig keine eindeutig zuzuordnende Angabe gemacht wurde, einen recht hohen Anteil (40%) von Personen, die in einer Art Lehrverhältnis ausgebildet wurden, und einen etwa ebenso hohen Anteil von Personen (43,4%), die eine Universität besucht haben. Eindeutige Auswirkungen auf den Bildungsgang hatten Kriegszeiten, so nimmt die Quote des häuslichen Unterrichts in diesen Zeiten zu und die des Universitätsbesuchs stagniert oder nimmt ab. Etwa ein Viertel der Personen unternahm in den Jugendjahren eine Bildungsreise. Der Artikel zeigt eher Hauptwege der Bildung, die Seitenwege erahnen lassen.

Harald Tersch folgt dem Bildungsgang des niederösterreichischem Sängerknaben, Kapellmeisters und Schulmeisters Balthasar Kleinschroth in den Jahren von 1683 bis 1684. Im Gegensatz zu den Leichenpredigten sind die Aufzeichnungen Kleinschroths autobiographisch und dokumentieren seine Flucht und die seiner Sängerknaben vor den Türken. Der Text war von vornherein zur Veröffentlichung bestimmt und ist durch Glaubensbekenntnisse und insbesondere durch Danksagungen für die Rettung vor den Türken geprägt. Die ausführliche Darstellung ermöglicht einen konkreten Blick auf die Ausbildung der Sängerknaben und das strikte, von Disziplin und starren Abläufen geprägte, aber durch den Krieg gestörte Leben im Konvikt. Kleinschroths Seitenweg ermöglicht indirekt einen klaren Blick auf den Hauptweg der zeitgenössischen Bildung in Sängerknabeninstituten.

Personen-, Sach- und Ortsregister (inkl. Territorien) ermöglichen eine schnelle und gezielte Suche. Die Heterogenität der Forschungszugänge zeigt alternative Konzepte und ermöglicht einen interessanten Einblick in ein bisher unterschätztes Forschungsfeld. Einzig die Frage nach der theoretischen Anschlussfähigkeit des Wissens bleibt – wie häufig im Rahmen von qualitativer Arbeit an biographischen Quellen, hier noch gepaart mit historischer Spezialität – offen. Dies tut aber der Spannung der Forschungsfrage und den vorliegenden Lösungsansätzen keinen Abbruch.

Durch das Buch soll die Lücke in der Erforschung von Selbstzeugnissen für die Zeit von 1500-1750 geschlossen werden (7), ein Anspruch, der auf den ersten Blick kaum einlösbar scheint. Dennoch, die Auswahl der Themen und die zahlreichen Querverweise geben einen mehr als breiten Einblick in die noch zu erforschenden oder bisher eher unbekannteren Selbstzeugnisse dieses Zeitraums. So kann, wenn das Buch als Ausgangspunkt und Überblick und nicht als Kompendium betrachtet wird, die Forschungslücke insofern als geschlossen betrachtet werden, als sie nun mit (neuem) Forschungsleben gefüllt und bereit für intensive Tiefenstudien ist.
Simone Austermann (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Simone Austermann: Rezension von: Jacobi, Juliane / Cam, Jean-Luc Le / Musolff, Hans-Ulrich (Hg.): Vormoderne Bildungsgänge, Selbst- und Fremdbeschreibungen in der frühen Neuzeit. Köln: Böhlau 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978341220492.html