EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Walburga Hoff / Elke Kleinau / Pia Schmid (Hrsg.)
Gender-Geschichte/n
Ergebnisse bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung
Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008
(313 S.; ISBN 978-3-412-20247-7; 39,90 EUR)
Gender-Geschichte/n Die Herausgeberinnen der „Gender- Geschichte/n“ sorgten von Anfang an, in unterschiedlichen Positionen dafür, historischen Themen in der Frauen- und Geschlechterforschung einen festen Platz einzuräumen. Der Band versammelt ausgewählte Beiträge zu Arbeitstagungen, die Pia Schmid 1995 ins Leben rief und gemeinsam mit Edith Glaser und Walburga Hoff zur festen Institution an der Universität in Halle-Wittenberg werden ließ, um Nachwuchswissenschaftlerinnen kontinuierlich Gelegenheit zu geben, ihre Forschungsarbeiten in einem größeren, zugleich geschützten Rahmen zur Diskussion zu stellen und überhaupt ein Forum für historisch-systematisch arbeitende Erziehungswissenschaftlerinnen zu bieten. Seit 2008 sind diese Tagungen nun integraler Bestandteil der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

Einleitend ziehen die Herausgeberinnen trefflich und selbstkritisch Bilanz. Die Herausbildung und Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung ist zwar in diversen, sorgfältig edierten Handbüchern dokumentiert. Dem entspricht aber keine durchgehende und selbstverständliche Repräsentation der Forschungsergebnisse in der Bildungsgeschichte. Perspektivisch plädieren sie für eine „konsequent genderorientierte Bildungsgeschichte und den verstärkten Ausbau „bildungshistorischer Jungen- und Männerforschung“ (vgl. 14). Die Beiträge konzentrieren sich dann doch auf die Mädchen- und Frauenbildung, weil es hier offenkundig noch immer Neues zu entdecken gibt.

Die Gender-Geschichte/n gliedern sich in vier Themengebiete, die bereits Gegenstand vergangener Arbeitstagungen waren. Zu jedem Gebiet finden sich drei Beiträge, die – erwartungsgemäß und entsprechend der ursprünglichen Intention – auffällige Unterschiede im Forschungsstand und Reflexionsniveau aufweisen.
Der Bereich „Geselligkeit, weibliche Arbeiten und Lektüre“ bietet Einsichten in die spezifischen Orte, Themen, Mittel und Medien weiblicher Bildungserfahrungen vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.

Jessica Piechocki skizziert am Beispiel von Agnes Wilhelmine Niemeyer (1786-1847) das Leben und Wirken von Frauen in häuslichen Salons. Vom Vater gefördert, vom Gatten August Hermann Niemeyer unterstützt, pflegt sie in Halle – nach dem Vorbild der Berliner Salons – im zugestandenen Rahmen der „halböffentliche[n] Sphäre“ (41) ihres Hauses eigene Geselligkeiten. Ihre Wirkung erschließt Piechocki aus posthumen offiziellen Äußerungen. Sorgfältig ausgewählte und ausgewertete, unveröffentlichte Briefe geben detaillierte Einblicke in das Selbstverständnis dieser Bildungsbürgerin. Das relativ klare Einzelbild kommt jedoch ohne Replik auf die einschlägigen Arbeiten von Petra Wilhelmy-Dollinger aus. – Mit „Weibliche Arbeiten“ greift Pia Schmid ein Thema auf, das sie schon länger begleitet. Entsprechend kenntnisreich, differenziert und fundiert zeichnet sie die Geschichte der Handarbeiten nach und eröffnet zugleich einen neuen Blick auf den vermeintlich nur repressiven Charakter dieser Tätigkeiten, die eine Sonderstellung im Spektrum der weiblichen Arbeiten einnahmen. Neben zwanghafter Zumutungen gibt der Erlös aus den Handarbeiten Frauen die Möglichkeit, „das eigene Leben zu gestalten“ (65). Schließlich wird das Sticktuch vom Wandschmuck zum Symbol für „weibliche Genealogien“ (67). – In ihrer Analyse der Mädchen- und Frauengestalten bei Lily von Muralt kommt Nina von Zimmermann für die Schweiz zu ähnlichen Ergebnissen wie deutsche Mädchenliteraturforschung. Exemplarisch und vergleichend führt Zimmermann die ambivalente, keineswegs nur angepasste, stellenweise auflehnende Haltung der Protagonistinnen vor, die sie zu glaubhaften Vorbildern für weibliche Lebensformen und Pflichterfüllung macht. Der systematische Stellenwert der Ausführungen über Kasthofer-Niederer und Stadlin bleibt leider unklar (vgl. 83f.).

Sabine Toppe eröffnet das Themengebiet „Armut, Soziale Arbeit, Professionalisierung“ mit einer soliden Studie über die Funktion von Familienleitbildern und Mütterlichkeit in betrieblichen Kinderaufbewahrungsanstalten am Beispiel zweier Unternehmen der Bremer Textilindustrie um 1900. Ausführliche und detaillierte Tatsachenschilderungen unterstützt Toppe fotographisch und ergänzt sie durch kritische Analysen der Firmenideologie, die entsprechend der (Doppel-)
Belastungen in der weiblichen Erwerbstätigkeit überkommene Leitbilder substituieren. – Mit Bertha Pappenheim (1859-1936) präsentiert Britta Konz ein jüdisch-religiös motiviertes Konzept sozialer Arbeit. Konz zeigt deutlich die Hoffnungen, Ziele, Argumente und Teilerfolge der engagierten Frauenrechtlerin auf, mit denen sie die Professionalisierung sozialer Arbeit sukzessive vorantrieb. Dabei kommen aber auch ihre Idealisierungen und Fehleinschätzungen zum Tragen (vgl. 135). – Die Eröffnungsrede der Sozialen Frauenschule von Alice Salomon am 15. Oktober 1908 steht im Zentrum des Beitrages von Walburga Hoff. Sequenzanalytisch rekonstruiert sie den Sinn, um den Zusammenhang zwischen Gesinnungsgemeinschaft und professioneller Ausbildung im Schulmythos als säkularisierten Orden aufzuzeigen. Das gelingt – manchmal etwas umständlich und redundant, wie es dem Verfahren eignet – letztlich überzeugend, obgleich Salomons Intention sicher kein „völliges Novum“ (155) darstellt.

Christa Kersting bereichert das Themengebiet „Bildungstheorien, Bildungspolitik und Bildungspraxis“ mit einem exzellenten Teilbericht aus einem DFG-Forschungsprojekt zur deutsch-angloamerikanischen Kommunikation über weibliche Bildung. Der klaren Darstellung der Ziele des „International Council of Women“ (ICW) folgt entlang ausgewählter Kongressthemen der Nachweis länderspezifischer Differenzen auf der Rezeptionsebene theoretischer Ansätze und den entsprechenden bildungspolitischen Impulsen oder Umsetzungen. – Die „Geschichte einer Ausgrenzung“ stellt Elke Kleinau für die Frauenbewegung in der Reformpädagogik ausführlicher als in einem früheren Artikel dar. Leider nehmen die männlichen Ausgrenzungsstrategien sehr viel weniger Raum ein als die bildungspolitischen Programme, Aktivitäten und Richtungskämpfe der Frauen. – Die 68er Bewegung gibt sicher viele offene Fragen auf. Der Beitrag von Karla Verlinden lässt allerdings wichtige historische Kenntnisse vermissen und erscheint dadurch undifferenziert und vorurteilsbehaftet. Eine sachliche Aufklärung wäre z.B. durch ein objektiv hermeneutisches Verfahren möglich gewesen, wie es vorbildlich von Hoff angewandt wird. Dies hätte die Autorin vielleicht davor bewahrt, bestimmte Interpretationsmöglichkeiten von vorneherein auszuschließen.

Interessant sind dagegen wieder die Beiträge zu „Die Ausgrenzung des ‚Fremden’ – nationale, völkisch-nationale und koloniale Frauenbildung“. Bettina Irina Reimers trägt genau und anschaulich Informationen über Programm, rassistische Intention und Schulungspraxis des Bundes Artam zusammen. Sie vergleicht den Bund mit anderen Erwachsenenbildungsangeboten der Zeit und klärt die Motive, die Frauen zum Beitritt bewogen. – Susanne Spindler untersucht Anlass, Entwicklung und osteuropäische Wendung der Kolonialen Frauenschule Rendsburg und klärt das zugrunde liegende Frauenbild. Die Aussagen einer ehemaligen Lehrerin und der bis heute erscheinende Rundbrief ehemaliger Schülerinnen legen Zeugnis von latent fortexistierenden Feindbildern und eigenen Vortrefflichkeiten ab. – Wolfgang Gippert gibt fundiert Einblick in das DFG-Projekt „Nation und Geschlecht“, das u.a. Lebenserinnerungen und Reiseberichte von Lehrerinnen und Erzieherinnen analysiert und dabei methodisch äußerst sorgfältig, quellenkritisch und interdisziplinär vorgeht, um „Selbst- und Fremdkonstruktionen“ (300ff.) aufzudecken.

Mit einer Ausnahme sind die Gender-Geschichte/n insgesamt eine anregende und lesenswerte LektĂĽre.
Johanna Hopfner (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johanna Hopfner: Rezension von: Hoff, Walburga / Kleinau, Elke / Schmid, Pia (Hg.): Gender- Geschichte/n, Ergebnisse bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978341220247.html