Das sächsische Volksschulwesen im 19. Jahrhundert galt in Deutschland weithin als mustergültig und vorbildlich. Wie diese zeitgenössische Einschätzung aus heutiger Sicht zu beurteilen ist, ließ sich bislang nicht sagen, da eine entsprechende, modernen Ansprüchen genügende Untersuchung noch ausstand. Eine solche legt jetzt Hans-Martin Moderow mit seiner bei Ulrich von Hehl und Heinz-Werner Wollersheim entstandenen Leipziger Dissertation vor. Der Verfasser ordnet seine Arbeit in die Reihe der in den letzten Jahren entstandenen Regionalstudien zum deutschen Bildungswesen ein, welche – gerade im Blick auf das lange 19. Jahrhundert – die Preußenzentrierung der bisherigen Forschung kritisieren und zu einer Relativierung der als zu einseitig empfundenen Perspektive beitragen wollen (33-35).
Ziel der Studie ist es, in einem Längsschnitt einen Überblick über die Entwicklung des Volksschulwesens im Königreich Sachsen zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und den 1870er Jahren zu geben. In der Einleitung werden drei Analysekomplexe genannt: Erstens Schulpolitik einschließlich Verfassungs-, Verwaltungs- und Institutionengeschichte, zweitens seminaristische Lehrerbildung und drittens „Fragestellungen der neueren bildungsgeschichtlichen Forschung“ (40). Deren Untersuchung erfolgt anhand der Auswertung von Archivalien, vor allem des sächsischen Kultusministeriums und der mittleren Schulaufsichtsbehörden, sowie von gedruckten Quellen, etwa Lehrerzeitschriften und Landtagsprotokollen. Die ältere Literatur zum sächsischen Volksschulwesen bildet ebenfalls eine wichtige, durchgängig herangezogene Grundlage der Arbeit. Gedruckte Quellen und Literatur werden allerdings im Literaturverzeichnis nicht getrennt aufgeführt.
Die Studie ist weitgehend chronologisch aufgebaut, jedoch mit der Ausnahme, dass die Volksschullehrerbildung über den gesamten Zeitraum in einem eigenen Abschnitt behandelt wird. Diese Gliederung führt teilweise zu Überschneidungen bzw. Wiederholungen, weil im Lehrerkapitel Sachverhalte wieder aufgegriffen werden (müssen), die zuvor schon behandelt worden sind (z.B. 428). Der Verf. unterscheidet in der Entwicklung des sächsischen Volksschulwesens sechs Phasen: die Zeit „um 1800“, Staatsreform und Volksschulgesetz 1831/35, den Vormärz, die Revolution 1848-1850, die Reaktionszeit sowie den „Weg ins Kaiserreich“ in den 1860er/1870er Jahren.
Der Verlauf entspricht insgesamt dem, was auch über andere deutsche Staaten bekannt ist. Erste Reformen im Volksschulbereich erfolgten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit einem Schwerpunkt in den Jahren 1800 bis 1816. Das von Gottlob Leberecht Schulze entworfene, in Deutschland weithin als vorbildlich angesehene und 1835 verabschiedete Volksschulgesetz nahm eine umfassende Regelung der äußeren Schulverhältnisse vor. Es ist im Zusammenhang mit der sächsischen Staatsreform zu sehen, die 1831 u.a. zur Einrichtung eines Kultusministeriums und in den Folgejahren zu einer Vereinheitlichung der Schulverwaltung auch auf der mittleren und unteren Ebene führte. Ansonsten stand bis 1848 das Gelehrtenschulwesen im Zentrum der Schulpolitik. Nach der Revolution konstatiert Moderow keine schulpolitische Reaktion in Sachsen oder zumindest „keine stringente Reaktionspolitik“ des Ministeriums (258). Dieser Befund kann allerdings angesichts der dann doch aufgezählten, recht zahlreichen Einzelmaßnahmen (u.a. im Bereich der Disziplinierung der Volksschullehrerschaft und des Seminarwesens) sowie der konservativen bis orthodoxen Personalpolitik in der Schulverwaltung nicht recht überzeugen. Auch ist eine aktive Verwaltungspolitik und die Fortführung von Reformen z.B. in der Lehrerbesoldung kein Gegenargument. Mit den 1860er Jahren setzte im sächsischen Volksschulwesen eine „liberale Ära“ ein, die das seit 1835 bestehende System grundlegend veränderte und in das umstrittene Volksschulgesetz von 1873 sowie das Gesetz über Gymnasien, Realschulen und Seminare von 1876 mündete.
Im Hinblick auf die einleitend formulierten drei Analysekomplexe kommt die Studie zu folgenden Ergebnissen: Erstens. Im Bereich der Schulpolitik betont der Verfasser die enge Verbindung von Volksschule und Kirche. Bis 1873 sei das Schulwesen „eine kirchliche Angelegenheit“ gewesen (148). Erst das im Zuge des „Kulturkampfes“ in Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie verabschiedete Gesetz von 1873 schuf eine „entkirchlichte“ und weitgehend unter fachmännischer Aufsicht stehende Volksschule. Die Verwaltung, insbesondere die Ministerialbürokratie, spielte in Sachsen wie in den anderen deutschen Staaten eine zentrale Rolle bei den Schulreformen. Dazu trug auch die große personelle Kontinuität auf der Referentenebene bei. Ein weiterer wichtiger Akteur war der Landtag, der phasenweise eher bremsend als unterstützend wirkte. Gegenüber dem reaktionären Parlament der frühen 1850er Jahre beispielsweise konnte die Regierung Gehaltsverbesserungen für die Lehrer nur in Verbindung mit verschärften Disziplinarmaßnahmen („Maulkorberlass“) durchsetzen. Die Lehrerschaft schließlich meldete sich verstärkt seit dem Vormärz zu Wort, zunächst mit Petitionen und in der Lehrerpresse, dann im sächsischen Lehrerverein.
Zweitens. Nach ersten Ansätzen der seminaristischen Lehrerbildung im 18. Jahrhundert kam es mit der Staatsreform und dem Volksschulgesetz von 1835 zur „eigentlichen Gründung des sächsischen Seminarwesens“ (392), beginnend mit einer einheitlichen Verwaltung und Prüfungsordnung. In den 1840er Jahren wurde die Ausbildung in einem vierjährigen Kursus landesweit angeglichen. 1873 wurden die Proseminare in einen sechsjährigen Kursus integriert. Als konservativ und gleichzeitig modernisierend charakterisiert der Verf. die sächsische Seminarordnung von 1859. Mit der Vereinfachung und Konzentration des Unterrichts und dem Ziel, kirchlich gesinnte Lehrer heranzubilden, war die Ordnung den Stiehlschen Regulativen in Preußen verwandt, hatte aber eine eigene Vorgeschichte. Der auch in Sachsen spürbare Lehrermangel in den 1850er Jahren und die Expansion des höheren Schulwesens führten zum Ausbau des Seminarwesens und schließlich dazu, dass seit 1865 gute Seminaristen die Leipziger Universität besuchen konnten.
Drittens. Die einleitend diskutierten „Zugänge der Geschichtsschreibung zur Schulgeschichte“ (17ff.) und „erziehungswissenschaftlichen Perspektiven“ (27ff.) werden in der quellennahen Darstellung eher implizit aufgegriffen als explizit diskutiert. Das gilt auch für den Vergleich der sächsischen Volksschulentwicklung mit der in anderen deutschen Staaten, insbesondere Preußen. Er wird zwar nicht konsequent durchgehalten, aber in der Einleitung und in der Zusammenfassung aufgegriffen und eine Positionsbestimmung Sachsens vorgenommen. Moderow bescheinigt dem Seminarwesen eine „Spitzenstellung“ im Rahmen der preußisch-deutschen Lehrerbildung (456). Auch die Bildungsleistung der sächsischen Volksschule sei – gemessen an der sehr hohen Alphabetisierungsrate von über 95% um 1830 und nahezu 100% im Jahr 1874 – beachtlich gewesen. Insgesamt kommt der Verfasser im Hinblick auf die anderen deutschen Staaten und die Periodisierung des Volksschulwesens zu der Überlegung, ob nicht eher Preußen wegen seiner Größe und Vielgestaltigkeit als „Sonderfall in der deutschen Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts“ zu betrachten sei (466).
Der Vergleich und die Einordnung der sächsischen Entwicklung bilden allerdings genau genommen erst den zweiten Schritt. Das Hauptanliegen und die Leistung der Studie liegt vielmehr darin, auf der Basis gründlicher Quellenarbeit den Kenntnistand über das sächsische Volksschulwesen erheblich erweitert und einen differenzierten, modernen Anforderungen genügenden Überblick über dessen Entwicklung geliefert zu haben. Weitere so differenzierte regionalgeschichtliche Studien sind nötig, um die Frage, welche Entwicklungsverläufe die Sonderfälle waren, beantworten zu können.
EWR 7 (2008), Nr. 2 (März/April)
Volksschule zwischen Staat und Kirche
Das Beispiel Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert
(Geschichte und Politik in Sachsen 25)
(Geschichte und Politik in Sachsen 25)
Köln,Weimar,Wien: Böhlau 2007
(545 S.; ISBN 978-3-412-11706-1; 64,90 EUR)
Sylvia Kesper-Biermann (Bayreuth)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sylvia Kesper-Biermann: Rezension von: Moderow, Hans-Martin : Volksschule zwischen Staat und Kirche, Das Beispiel Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert (Geschichte und Politik in Sachsen 25). Köln,Weimar,Wien: Böhlau 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978341211706.html
Sylvia Kesper-Biermann: Rezension von: Moderow, Hans-Martin : Volksschule zwischen Staat und Kirche, Das Beispiel Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert (Geschichte und Politik in Sachsen 25). Köln,Weimar,Wien: Böhlau 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978341211706.html