Der im Frühjahr 2010 ausgebrochene vehemente Streit über sexuellen Missbrauch resp. sexualisierte Gewalt in konfessionellen, aber eben auch in reformpädagogischen Einrichtungen – wie etwa der Odenwaldschule – hat die Erziehungswissenschaft in einige Unruhe gestürzt, wie nicht zuletzt der im Februar 2011 in Berlin abgehaltene Workshop der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zum Thema Sexualität und Macht in pädagogischen Kontexten offenbarte, auf welchem Ulrich Herrmann den Missbrauchstäter Gustav Wyneken als angeblich nicht zur Reformpädagogik gehörig aus der Schusslinie zu nehmen suchte. Vor diesem Hintergrund kommt den hier anzuzeigenden Veröffentlichungen einige Brisanz zu, insonderheit der in zahlreichen großen Tageszeitungen herzlich begrüßten Streitschrift von Jürgen Oelkers.
(I) Eros und Herrschaft
In seinem vor über zwanzig Jahren erschienenen und inzwischen mehrfach aufgelegten Buch „Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte“ (4. Aufl. 2005) suchte der renommierte Züricher Ordinarius das geistige Erbe der Reformpädagogik zu sichern, nun hingegen scheint dem Autor angesichts der Vorfälle um die Odenwaldschule gleichsam der Kragen zu platzen: Infrage stehen nicht länger einzelne Erbschleicher, infrage steht vielmehr das gesamte Erbe, eben „die“ Reformpädagogik, eine, wie es aussieht, Mit-Gift im wortwörtlichen Sinne. „Das wahre Gesicht der ursprünglichen Reformpädagogik“, so teilt denn auch der Rückumschlag des vorliegenden Buches fast schon in Endzeitstimmung mit, „ist gekennzeichnet von getarnten sexuellen Übergriffen, der Demütigung zahlreicher Schüler, von Führerkult und Intrigen. Die politischen Optionen waren völkisch, chauvinistisch und oft begleitet von rassistischen und antisemitischen Tendenzen.“
Dies klingt nach Tiger, nach Enthüllungsliteratur vom Typ „Schwarze Pädagogik“ – und ordnet den Autor damit, etwas unvermutet, möchte man meinen, in eine eher „linke“ Tradition ideologiekritischer Forschung ein. Ganz so neu ist das Ganze also nicht, „Demütigung“ sowie „Führerkult und Intrigen“ wurden, nicht zuletzt von Betroffenen in Gestalt literarischer Zeugnisse, immer wieder moniert, auch in einer 1961 in der DDR erschienenen Studie von Herbert Bauer, die Oelkers dem Vergessen entrissen hat (und unlängst auch in der Zeitschrift für Pädagogik gegen Theodor Schulze in Stellung brachte). Kaum anders verhält es sich mit „sexuellen Übergriffen“, die spätestens seit Mathilde Vaertings – von Oelkers (wie Klinger) leider nicht erwähnter – Studie „Lehrer und Schüler. Ihr gegenseitiges Verhalten als Grundlage der Charaktererziehung“ (1931) Thema sind, übrigens unter Nennung von Namen wie Hermann Lietz, Gustav Wyneken und, nicht in Oelkers Portfolio: Siegfried Kawerau.
Auch dass einzelne Reformpädagogen – wie etwa Lietz (82, 114 ff) oder Ludwig Gurlitt (255), über deren politische Fragwürdigkeit Oelkers handelt – weit rechts standen, wusste man bereits, die Spur Paul de Lagarde (an drei Stellen knapp erwähnt) hätte sich in dieser Frage als ausbaufähig erweisen können. Verwiesen sei hier nur auf die in den letzten fünfzehn Jahren beispielsweise auch von Uwe Puschner (nicht „Püscher“, wie es bei Oelkers durchgängig heißt) vorangetriebenen Forschungen zur Völkischen Bewegung.
Mit „der“ Jugendbewegung verhält es sich übrigens in dieser Frage kaum besser, wie Oelkers kurz (257) andeutet, dabei außer Acht lassend, dass auch Gustav Wyneken seinen Finger schon früh in diese Wunde gelegt hat, womit nun eigentlich ein neues Problem zur Verhandlung anstünde: die Frage nämlich, ob das eine, die politische Fragwürdigkeit, mit dem anderen, nämlich den „sexuellen Übergriffen“, zusammenhänge. Der von Oelkers im 4. Kapitel dieses Buches ins Zentrum gerückte Fall Wyneken erlaubt eine verneinende Antwort: Man muss nicht politisch reaktionär sein, um sich „Sittlichkeitsvergehen“ an Schutzbefohlenen schuldig zu machen, dazu genügt vielmehr schon eine entsprechende Disposition sowie – so jedenfalls lässt sich Oelkers Referat eines bisher nie berücksichtigten autobiographischen Textes des fast siebzigjährigen Wyneken verstehen – eine unglückliche, durch Leibfeindlichkeit und Zärtlichkeitsmangel gekennzeichnete Kindheit.
Das Problem ist nur: Auch andere, Wynekens vorübergehendes Idol Nietzsche etwa, klagten über eine von ihnen durchlittene, protestantisch geprägte Erziehungsideologie vom Typ „Geist der Schwere“ (Zarathustra), ohne zu Päderasten zu mutieren; sowie, und dieser Einwand ist fraglos gehaltvoller: Wo bleibt Oelkers Bannspruch gegen „die“ Reformpädagogik, wenn er sich in solchen Zufälligkeiten des Biographischen verliert?
Diese Frage erhebt sich auch im Blick auf den von Oelkers verdienstvollerweise ausgegrabenen Fall des 1924 wegen schweren sexuellen Missbrauchs zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilten ehemaligen (1909-1911) Wickersdorf-Lehrers und nachmaligen Schulleiters Georg Hellmuth Neuendorff, „der wie später Mussolini vor dem Spiegel Posen seiner Herrschaft einübte“ und den der Nohl-Schüler Hans Weil, so betrachtet nicht zu Unrecht, als „dämonisch gehetzte Existenz, psychagogisch wirkend“ (262 f), einordnete, damit schon ein Zeichen dafür gebend, welches Ressort hier eigentlich gefragt und betroffen ist: die Psychiatrie.
Deren Zuständigkeit scheint mir auch gegeben in Sachen des gleichfalls von Oelkers dem Vergessen entrissenen Falls des für Stefan George schwärmenden homosexuellen Juristen und Altphilologen Otto Kiefer, Lehrer an der Odenwaldschule von 1918 bis 1935, deren Leiter Paul Geheeb Klagen von Eltern über ihnen zu Ohren gekommenen sexuellen Missbrauch auf skandalöse Weise abwiegelte (266 ff) – ähnlich skandalös übrigens, wie der Lietz-Nachfolger Alfred Andreesen 1926 bei seinem Gutachten für den wg. sexuellen Missbrauchs in 75 Fällen angeklagten Landerziehungsheim-Oberlehrer Karl Freiherr von Lützow agierte (270 f). Kaum weniger fatal nimmt sich der Fall Kiefer aus: In einem von Oelkers analysierten, auf die frühen Zwanziger Jahre zu datierenden und im Archiv der Odenwaldschule deponierten Romanmanuskript gibt Kiefer in kaum verschlüsselter Form Kunde über eine eigene, lang zurückliegende Liebesenttäuschung mit einer Siebzehnjährigen, aber auch über ein – möglicherweise als Kompensation angelegtes – seinerzeitiges Verhältnis mit dem Odenwald-Schüler Klaus Mann (142).
Gewiss: Oelkers weiß dies alles und noch viel mehr mit der für ihn typischen Akribie und auf eine den Leser packende Art aufzubereiten, riskiert damit allerdings, dass diesem Buch die Proportionen abhanden zu gehen drohen: Über die „völkischen“, „chauvinistischen“, „rassistischen“ und „antisemitischen“ Tendenzen der Reformpädagogik erfährt man i.d.R. nur etwas en passant, so etwa im (viel zu langen) Kapitel über die Fidus-Geliebte Gertrud Prellwitz, die Oelkers primär als Autorin eines Odenwald-Schlüsselromans interessiert (286-296).
In der Summe ist dies weit weniger als zur Untermauerung des hoch ambitionierten Klappentextes erforderlich gewesen wäre – aber wohl ausreichend, um den im Vergleich dazu lahmen Schluss zu rechtfertigen, in dem nur noch davon die Rede ist, dass „die künftige Entwicklung ohne die Heroen der Landerziehungsheimbewegung auskommen [muss]“ (305). Aber selbst diese Pointe ist nicht zwingend, so dass das Fazit auf der Hand liegt: Oelkers Streitschrift, die von dunklen Seiten in Landerziehungsheimen handelt und hierauf in einem glanzvollen Kapitel mit dem Titel Ein englischer Erziehungsstaat einstimmt, trägt, so betrachtet, möglicherweise den falschen Titel und bleibt letztlich, jedenfalls für mein Empfinden, eine Antwort schuldig: Was haben die hier in vielfachen Varianten und schockierenden Details unterbreiteten Abgründe des Menschlich-Allzumenschlichen mit „der“ Reformpädagogik und deren politischer Fragwürdigkeit zu tun?
(II) Pädagogischer Eros
Das Buch von Magdalena Klinger, eine Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, lässt sich auf den ersten Blick ohne weiteres jenem von Oelkers zur Seite stellen, der Rückumschlag jedenfalls ist gleichfalls kräftig zupackend: „Durch eine historische und ideologiekritische Analyse wird der Pädagogische Eros als ein Mythos entlarvt, der bis heute unser gesamtes Bildungsdenken prägt.“ Doch auch in diesem Fall gilt offenbar, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht war, sprich: ein wenig „pustet“ die Verfasserin schon in ihrem Vorwort, wenn sie meint, den Pädagogischen Eros nur „als sexuelle Missbrauchs-Chiffre“ betrachten zu wollen, stelle „eine unzureichende Verkürzung“ (VI) dar.
Die restliche Abkühlung erfolgt dann im Text, etwa im Kapitel über Wyneken (das zwei extrem instruktiven Abschnitten über Stefan George und Hans Blüher nachfolgt und leider eingeleitet wird von manch schiefem Urteil über die Jugendbewegung, etwa wenn unter Berufung auf Ulrich Herrmann von einer angeblich erst im Ersten Weltkrieg greifenden „Hinneigung zu ‚Volkstum’ und damit verbunden zu Nationalismus und Militarismus“ [164] die Rede ist): Aus Wynekens zwischen 1934 und 1936 verfasstem Hauptwerk „Weltanschauung“ (1940; 21947), von Oelkers übrigens unwirsch mit dem Attribut „offen rassistisch“ (250) ad acta gelegt, wird die Deutung des Eros als „Ansatzpunkt jeder höheren Kultur in den Seelen des Menschen“ (224) in Erinnerung gebracht und mithin eine Lesart vorbereitet, die Wynekens Kampf gegen die in seiner Epoche beobachtbare allfällige Leibfeindlichkeit und Sexualitätsverfolgung – mitsamt der daraus entspringenden Folgen, etwa in Gestalt von zahlreichen Schülerselbstmorden – überhaupt erst einmal im Kontext der Zeit verständlich macht und insoweit begründet erscheinen lässt.
Mit dem dann allerdings wieder lahmen Argument, wonach die diesen Kampf antreibende Idee vom Pädagogischen Eros vielleicht „glaubhafter gewesen [wäre], wenn er [Wyneken] im Prozess wegen sexuellen Missbrauchs an zweien seiner Schüler nicht so schwer belastet und verurteilt worden wäre“ (232), endet dieses Kapitel, das den Leser letztlich allein lässt mit seiner Frage, ob der Pädagogische Eros denn nun hinreichend als „bloße Mißbrauchsmetapher, der (sic!) die „Übergriffigkeit“ auf Heranwachsende zu bemänteln hilft“ (Rückumschlag), überführt sei – oder eben nicht. Offenbar Letzteres, weswegen diesem Kapitel noch zwei weitere folgen, beide in der erkennbaren Absicht geschrieben, den in der Schlussbetrachtung nachgereichten Bannspruch auf Wyneken und alle jene (wie „Paul Geheeb, Gerold Becker u. a.“), die „der freizügigen antiken Moral huldigen, um ihre individuellen sexuellen Präferenzen zu befriedigen“ (388), abzusichern.
Das eine, eher theoretisch angelegte Kapitel mündet nach einem Exkurs über Pierre Bourdieus Habituskonzept ein in die These, dass der Pädagogische Eros als Initiationsritus gelesen werden könne, „der die Absicht verfolgt, die Exklusivität einer sozialen Gruppe als führender (Bildungs-)Elite aufrechtzuerhalten (bzw. herzustellen) und zu reproduzieren“, deutlicher und auf den hier interessierenden Punkt hin gesprochen: Klinger hält die Kritik der pädagogischen Nutzung der Erotik (als Eros) im Dienste „einer auf gesellschaftlichen Führungsanspruch zielenden männlichen Elite“ (280 f) für geboten.
Das andere, eher ideengeschichtlich orientierte Kapitel führt zu einem durchaus analogen Befund, nun im Rückblick auf geisteswissenschaftlich-pädagogische Konzepte wie dem des „pädagogischen Bezugs“ Herman Nohls resp. dem der „pädagogischen Liebe“, die in der Summe einem „Herrschaftsdiskurs von überwiegend elitären männlichen Seilschaften“ zugerechnet werden, der zu einem „Bildungsmythos“ führt, der „die Gesellschaftsmitglieder […] durch die Lenkung und Kontrolle ihres sexuellen Begehrens […] zum (vermeintlich) Besseren erzieht (d.i. das von einigen gesellschaftlich Erwünschte)“ (376). Solche Sätze im Ohr, ist man fast versucht, die Autorin eine Tigerin zu heißen – die als solche die moderaten Zwischentöne im Wyneken-Kapitel sowie im profunden, gut 100-seitigen Einleitungsabschnitt über den pädagogischen Eros in der Antike vergessen macht.
Die möglicherweise wichtigste Frage scheint mir dabei in beiden Büchern unter den Tisch gefallen zu sein: Wenn, wie einleitend in Erinnerung gerufen und von Klinger auf spannende Weise nacherzählt (354 ff), sexualisierte Gewalt 2010 in konfessionellen wie reformpädagogischen Einrichtungen gleichermaßen Thema wurde und auch in gleichsam „normalpädagogischen“ Institutionen wahrscheinlich sein dürfte – wie sinnvoll kann es dann sein, nur einer der beiden Fährten nachzugehen, wie in den beiden hier vorgestellten Studien geschehen? Dass beide Arbeiten je für sich lesenswert sind, sei dabei abschließend ausdrücklich betont, mit einem deutlichen Prä für Oelkers, dem etwas gelingt, was man wohl – sicherlich ab der 2. Auflage – Pflichtlektüre heißen darf, allerdings eine, die (offenbar auch, seiner Schlussbemerkung aus dem Vorwort zufolge, den Verfasser) traurig stimmt(e) und nachdenklich macht(e).
EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)
Sammelrezension zum Thema Pädagogischer Eros
Eros und Herrschaft
Die dunklen Seiten der Reformpädagogik
Weinheim / Basel: Beltz 2011
(340 S.; ISBN 978-3-4078-5937-2; 22,95 EUR)
Pädagogischer Eros
Erotik in Lehr-/Lernbeziehungen aus kontextanalytischer und ideengeschichtlicher Perspektive
Berlin: Logos 2011
(430 S.; ISBN 978-3-8325-2923-9; 44,50 EUR)
Christian Niemeyer (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Niemeyer: Rezension von: Oelkers, JĂĽrgen: Eros und Herrschaft, Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340785937.html
Christian Niemeyer: Rezension von: Oelkers, JĂĽrgen: Eros und Herrschaft, Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340785937.html