EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)

Holger SchÀfer / Christel Rittmeyer
Handbuch Inklusive Diagnostik
Kompetenzen feststellen – Entwicklungsbedarfe identifizieren – Förderplanung umsetzen
Weinheim Basel: Beltz 2021
(728 S.; ISBN 978-3-407-83200-9; 58,00 EUR)
Handbuch Inklusive Diagnostik Das ‚Handbuch Inklusive Diagnostik‘ adressiert Lehrpersonen und nimmt dabei Bezugsdisziplinen wie SonderpĂ€dagogik, Allgemeine PĂ€dagogik, Therapie, Psychologie und Medizin neben der InklusionspĂ€dagogik zu Hilfe, um (schul)praktische wie (bildungs- und sozial-)wissenschaftliche Aspekte zu thematisieren. In fĂŒnf Bereiche gliedert sich das umfangreiche Handbuch, das
theoretische Grundlagen, methodische AnsÀtze und praktische Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigt, um Kompetenzen und Entwicklungsbedarfe zu erfassen sowie Förderkonzepte zu entwickeln.

Teil 1 ‚Grundlagen‘ startet mit einem Beitrag, der unter anderem inklusive Standards und Rahmenbedingungen inklusiver Didaktik darlegt, sowie die Gefahr der Stigmatisierung durch die Konstruktion von Gruppen von Menschen, die nicht entsprechen, anspricht. In weiteren BeitrĂ€gen folgen die Auseinandersetzung mit Formen, Zielsetzungen und Funktionen von Diagnostik, Kompetenzorientierung und Fragen der Unterrichts- und SchulqualitĂ€t sowie mit medizinischen Klassifikationssystemen. Auch die von der WHO herausgegebenen, interdisziplinĂ€r gedachte ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) wird vorgestellt, welche als bio-psycho-soziales Modell neben Gesundheit, Körperfunktionen und -strukturen auch Teilhabe und AktivitĂ€ten sowie sowohl personenbezogene Faktoren als auch Umweltfaktoren miteinbezieht. Auch wenn hier wieder in Kategorien gedacht wird, so entsteht ein ganzheitlicheres Bild von SchĂŒler:innen und ihrem Umfeld.

Unterschiedliche im ersten Abschnitt prĂ€sentierte Verfahren zur Lern- und Entwicklungsstands-Erhebung wie quantitative Tests, quantitative Methoden wie Beobachtungen (die in einer Grafik mit informeller Diagnostik verbunden dargestellt werden, wobei diese als wissenschaftliche Methode eigentlich qualitativen GĂŒtekriterien entsprechen sollten) und auch dialogische AnsĂ€tze oder Portfolios, die sich im Rahmen eines formativen Assessments einsetzen lassen, bieten Potentiale und Chancen. Diese werden – auch in anderen Teilen des Buches – diskutiert.
Zudem wird mehrfach auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die die uneingeschrĂ€nkte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen und somit auch schulischen Leben anspricht, verwiesen sowie gegenwĂ€rtige Entwicklungen, die mit Standardisierung, formalistisch und juridisch begrĂŒndetem Vorgehen sowie Argumenten wie Zeit, Tradierung und Gewohnheit inklusive Entwicklungen erschweren, angesprochen. Hier wird das Spannungsfeld, in welchem sich die Schule bzw. die PĂ€dagog:innen befinden, deutlich.

Teil 2 widmet sich den verschiedenen fachorientierten Fragestellungen und thematisiert u.a. Herausforderungen beim Schriftsprache-Erwerb oder im mathematischen Bereich sowie qualitative Analysen von Schreibprodukten. Mehrsprachigkeit im Unterricht wird ebenso zum Thema wie Diagnostik im Kontext von Bewegung und Wahrnehmung oder der bildnerisch-Ă€sthetische Aspekte. Dieser Teil des Handbuches stellt anhand von Beispielen fĂŒr Lernstandserhebungen, die auch StĂ€rken und FĂ€higkeiten sichtbar machen bzw. dort ansetzen, mit illustrierenden Abbildungen sowie fĂŒr Konzepte der Förderung einen gut nachvollziehbaren Bezug zum unterrichtspraktischen Tun her.

Der dritte Teil fokussiert die Förderplanung. Mögliche Ablaufschritte und die Wirkung der Förderplanung auf die Wahrnehmung und Begleitung der SchĂŒler:innen wird aufzeigt, besonders wenn diese kollaborativ und kommunikativ-partizipativ erstellt, reflektiert, evaluiert und fortgeschrieben sowie als Teil der Schulkultur betrachtet wird. Bedeutsame Elemente förderorientierter Prozesse wie formatives Assessement, Portfolio-Arbeit oder Feedback werden praxisbezogen dargestellt und auch der Bezug zu ICF und Teilhabezielen hergestellt. Die zunehmende Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien und deren Möglichkeiten, Chancen und Herausforderungen, werden an dieser Stelle ebenfalls skizziert.

Teil 4 widmet sich spezifischen Fragestellungen. So werden neben der FrĂŒhförderung, Autismus, unterstĂŒtzter Kommunikation und Übergang ins Berufsleben, Themen in den Förderschwerpunkten Sprache, sozial-emotionale Kompetenzen und Verhalten, Lernen, Kognition sowie Begabung und Fluchtgeschichte behandelt.

Manche der hier genannten Tests und Verfahren werden nicht von Lehrpersonen durchgefĂŒhrt. So gehören beispielsweise Intelligenztestungen sowie autismusspezifische Tests wie ADOS oder ADI-R in den TĂ€tigkeitsbereich von (Klinischen) Psycholog:innen. InterdisziplinĂ€re Vernetzung und Zusammenarbeit ist bei der inklusiven Diagnostik bedeutsam. Eine KlĂ€rung von Rollen und Aufgabenbereichen einzelner Professionist:innen ist fĂŒr gelingende Kooperation bedeutsam und könnte deutlicher gemacht werden.
Abgerundet wird dieser Teil mit der kritischen Auseinandersetzung mit RTI, dem Response-to-Intervention-Konzept, einem stufenweise aufgebauten, evidenzbasierten Mehrebenen-Programm zur PrĂ€vention und Intervention bei Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten, welches FĂ€higkeiten und die Frage nach Wirksamkeit in den Mittelpunkt rĂŒckt.


Der fĂŒnfte und letzte Teil widmet sich dem Ausblick einer inklusiven Diagnostik, die durch einen aktiven, dialogischen, ko-konstruktiven Prozess gekennzeichnet ist, und nimmt Biografisches, Lernprozesse und Lernergebnisse in den Fokus. Auch unterschiedliche Grenzen der Diagnostik werden thematisiert.
Neben Diagnostik als strukturierendem [2] Element fĂŒr pĂ€dagogische Arbeit, gilt Beratung als koordinierend [2] und stellt ebenfalls eine bedeutsame Kompetenz von Lehrpersonen dar, der ebenfalls im letzten Teil Rechnung getragen wird. Kollegiale Fallberatung bei Problemstellungen kann hilfreich sein und im VerstĂ€ndnis, dass alle Lehrer:innen fĂŒr alle SchĂŒler:innen und die gemeinsame Schulkultur verantwortlich sind, können Lösungen im Team gefunden und umgesetzt werden.
Nicht nur innerhalb der Profession stellt Kooperation eine zentrale Gelingensbedingung dar, auch multiprofessionell und im Austausch mit außerschulischen Institutionen ist diese bedeutsam. Dem wird durch die exemplarische Darstellung der Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie Rechnung getragen und die Bedeutsamkeit von Kooperation sowie Wissen, Mut, Entschlusskraft und Respekt in Hinblick auf mögliche unterschiedliche LebensverlĂ€ufe von Kindern und Jugendlichen anschaulich gemacht.

Das Buch bietet bedeutsame Informationen, die gut nachvollziehbar in fachsprachlicher AusfĂŒhrung den Wissensstand ĂŒber spezifische Fachbereiche darstellt. Schlagwörter und aussagekrĂ€ftige Zusammenfassungen geben einen hilfreichen thematischen Überblick. BeitrĂ€ge mit Falldarstellungen und Visualisierungen von SchĂŒler:innenarbeiten nehmen klaren Bezug zu schulischen TĂ€tigkeitsfeldern. Die BeitrĂ€ge in Teil 3 ergeben in ihrer Gesamtheit ein umfassendes Bild. Die Einbettung in umfassendes theoretisches und System reflektierendes Wissen, das in Teil 1 und 5 dargelegt wird, ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung und Einordnung der Inhalte.

Diagnostik in der inklusiven PĂ€dagogik nimmt die IndividualitĂ€t der SchĂŒler:innen mit ihren einzigartigen StĂ€rken und SchwĂ€chen entwicklungssensibel in den Blick, um gemeinsam den Lern- und Entwicklungsstand zu erfassen, Lernprozesse zu analysieren und Lernbarrieren und -ressourcen transparent zu machen [3]. Ein kritischer Blick auf den Erkenntniswert bestimmter Kategorien, der Beachtung von Intersektionen, von ĂŒberschneidenden Gruppenzugehörigkeiten, sowie die Betrachtung der individuellen Lebensgeschichten samt der sozialen Umgebung ist dabei von Nöten. Hierauf könnte noch verstĂ€rkt hingewiesen werden.
Die Reflexion der Umwelt und der Versuch, Barrieren zu identifizieren und abzubauen bzw. zu verringern [3] sowie die Möglichkeiten der Adaption [2] der Lernumgebungen samt Ideen zur Unterrichtsorganisation und -gestaltung, wird im Buch, das explizit Lehrpersonen als Zielgruppe definiert, selten zum Thema gemacht und sollte in der inklusiven Schule verstĂ€rkt in den Fokus rĂŒcken.

ResĂŒmierend lĂ€sst sich festhalten, dass das vielfĂ€ltige Themen aufgreifende Werk, das mit hoher Expertise aktuelle Themen anspricht, diese durchaus kritisch diskutiert und im vorliegenden Schulsystem positioniert, inhaltlich den Untertitel „Kompetenzen feststellen – Entwicklungsbedarfe identifizieren – Förderplanung umsetzen“ trifft.
Ob dies ein Handbuch zur „Inklusiven Diagnostik“ ist, kann – trotz der BemĂŒhungen einzelner BeitrĂ€ge, aktuelle Diskurse der inklusiven PĂ€dagogik aufzugreifen –diskutiert werden. Dem Anspruch inklusiver Bildung, die Transformation der bestehenden, ableistischen Strukturen von Schule und der Gesellschaft voranzutreiben [1], die sonderpĂ€dagogische Sicht auf Diagnostik grundlegend durch eine inklusive Perspektive abzulösen [2] und die Vision einer alle willkommen heißenden Diagnostik, die als Support- und Serviceleistung fĂŒr alle SchĂŒler:innen verstanden wird [3], kann es nicht gerecht werden. Lesenswert sind die BeitrĂ€ge namhafter Expert:innen jedenfalls.

[1] Buchner, T. (2022). Ableism-kritische Professionalisierung als Beitrag fĂŒr Transformationsprozesse in Zielperspektive Inklusiver Bildung. In O. Koenig (Hrsg.), Inklusion und Transformation in Organisationen (S. 65-76). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
[2] Schuppener, S. & Schmalfuß, M. (2023). Inklusive Schule – Diagnostik und Beratung. Stuttgart: W. Kohlhammer
[3] Simon, J. & Simon, T. (2014). Inklusive Diagnostik – WesenszĂŒge und Abgrenzung von traditionellen "Grundkonzepten" diagnostischer Praxis. Eine Diskussionsgrundlage. Zeitschrift fĂŒr Inklusion, (4). Abgerufen von https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/194
Sabine Höflich (Baden bei Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Höflich: Rezension von: SchĂ€fer, Holger / Rittmeyer, Christel: Handbuch Inklusive Diagnostik, Kompetenzen feststellen – Entwicklungsbedarfe identifizieren – Förderplanung umsetzen. Weinheim Basel: Beltz 2021 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340783200.html