Wenn der Nestor der bundesdeutschen Schulentwicklungsforschung „Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung“ vorlegt, ist der geneigte Leser, der professionelle Praktiker, der empirische Schulforscher sehr gespannt, was der Autor zum Ende seiner akademischen Laufbahn mitzuteilen hat. Schließlich sind in seiner Erfahrung vier Dekaden Schulentwicklung als kritischer Freund, teilnehmender Beobachter und empirischer Forscher geronnen.
Im Gegensatz zur potentiellen Erwartung enttäuscht das Buch zunächst auf den ersten Blick. Vorgelegt werden nicht aufeinander aufbauende Studien, die, womöglich bilanzierend, auf geleistet Theoriearbeit zurückschauen und hypothesengestützt geprüft sind, sondern Aufsätze, die an unterschiedlichen Stellen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den letzten knapp fünfzehn Jahren publiziert wurden. Wer in dem Feld arbeitet bzw. gearbeitet hat, kennt den einen oder anderen auf jeden Fall (bzw. dazugehörige Referenztexte) und kommt nicht umhin, den Band schon zur Seite zu legen, weil er sich einreiht in das ärgerliche Publizieren als Wiedervorlage, wie es sich in letzter Zeit verbreitet. In aller Kürze ließe sich dabei vermerken, der Leser findet in den Texten alles zwischen Kienbaum, Klippert und Klafki, also eine Trias aus Organisationsentwicklung, Methodentraining und schulpädagogischer Emphase, dies gewürzt mit begrifflichen Unschärfen (Gestaltungsautonomie, Teilautonomie und kooperative Autonomie von Schule bzw. Selbstständige Schule) und theoretischen Versatzstücken (System- und Strukturtheorie, Symbolischer Interaktionismus und Konstruktivismus bzw. Subjektive Theorie und Skripts).
Hans-Günter Rolff hat die mit einer Wiedervorlage verbundene Kritik anscheinend auch antizipiert und schreibt in seinem Vorwort fast zögerlich, dass er theoriestrategisch nicht versucht, „Makrotheorien wie z.B. die System- oder Handlungstheorie auf Schulentwicklung zu applizieren, auch nicht ein Bündel von Berufstheorien wie z.B. die Organisations-, Führungs- oder Governancetheorien auf Schulentwicklung anzuwenden. Ich versuche vielmehr einzelne Fragestellungen der Schulentwicklung theoretisch zu fassen und gelange so zu einem Fächer von Teiltheorien wie z.B. Unterrichtsentwicklung, Steuerung oder datenbasierte Intervention, die als solche schon Erklärungskraft haben, aber auf eine Synthese noch warten“ (10). Das bedeutet: Letztlich muss der Leser selbst versuchen, sich (s)eine Theorie der Schulentwicklung aus den vorgelegten Texten zu konstruieren; denn im gesamten Band fehlen verbindende Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln, die zumindest eine Spur legen. Auch ein zusammenfassender Abschluss bleibt ausgespart, der sowohl das bilanziert, was hier als „Teiltheorien“ beschrieben wird, also auch das, was hier „Makrotheorien“ heißt. Zu Recht werden die Teilstücke bzw. -texte im Übrigen auch nicht als Studien bezeichnet; vielmehr sind sie einfach durchnummeriert von 1 bis 13, von „Schulentwicklung: Entstehungsgeschichte, Begriff und Gelingensbedingungen“ (11-20) bis zu „Ein Gesamtsystem des Pädagogischen Qualitätsmanagements (PQM)“ (237-257).
Auf einen zweiten Blick erschließt die hier vorgelegte Aufsatzsammlung das Betätigungsfeld von Hans-Günter Rolff in kongenialer Weise. Die Beiträge umreißen sein Oeuvre aus vierzig Jahren beginnend mit der Studie, auf die hier gar nicht Bezug genommen wird, die aber am Anfang seiner Karriere stand, nämlich „Bildungsplanung als rollende Reform“. Sie machte Rolff 1970 einem breiten Publikum bekannt. Darin hieß es, Bildungsplanung „als rollende Reform gewinnt ihre präzise und inhaltlich ausgefüllten programmatischen Konturen erst durch einen öffentlichen Lernprozess sukzessive im Zuge ihrer Durchführung. Sie wird also weder von einer vorgegebenen Gesellschaftstheorie abgeleitet noch von einer überlegenen Machtposition aus einfach dekretiert. Bildungsplanung als rollende Reform nimmt indes das Postulat der freien Entfaltung der Persönlichkeit ernst, indem sie die Richtung der Entfaltung nicht dogmatisch vorschreibt, sondern umgekehrt alle Restriktionen, die ihr entgegenstehen, abbaut und alle Voraussetzungen, die sie zu fördern in der Lage sind, zu realisieren trachtet. Sie ist emanzipatorische Planung“ [1].
Fast vierzig Jahre später kommt dieser Auftrag quasi vermittelt im Endbericht zum Projekt „Qualitätsentwicklung in Netzwerken“ an niedersächsischen Schulen wieder. Darin heißt es, betrachtet „man diesen Aufbau mit seinen unterschiedlichen Gremien, wird deutlich, dass dieses Projekt nicht nur Schulen miteinander vernetzt hat, sondern auch die unterschiedlichen Steuerungs- und Unterstützungssysteme. (…) Zusammenfassend kann man sagen, dass mit der vorliegenden Projektarchitektur eine dezentrale Schulentwicklung mit zentraler Rahmen- bzw. Kontextsteuerung ermöglicht wurde“ (224; Hervorhebung A.G.).
Ich denke, in dieser Beschreibungsstruktur findet „Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung“ seine zentrale Klammer. Hans-Günter Rolff markiert seine anfängliche theoretische Expertise mit seiner langjährigen schulforscherischen Erfahrung. Die Rezeption der Bürokratietheorien der 1960er Jahre hatten ihm nämlich gezeigt, dass Planungen für Experimentalprogramme scheitern müssen, wenn sie an fernen Reißbrettern entstehen, weil Schulen keine Fabriken sind, in denen Maschinen gewartet oder aufgebaut werden, sondern Handlungseinheiten mit eigenständigen Logiken und personalen Bezügen. Deshalb geht es für ihn immer um das Verhältnis von weitgehend selbstständiger einzelschulischer Gestaltung in der regionalen Eingebundenheit und schulsystemischer Gesamtverantwortung durch den föderalen Bundesstaat. Je nachdem welche Position dabei gerade eher federführend ist, betont Rolff mal die eine mal die andere Seite stärker [vgl. 2]. Auf der Suche nach einer Synthese bleibt er dabei sein Forscherleben lang.
Nimmt man den Studiengedanken ernst, gehen die dreizehn hier vorgelegten von der Einzelschule als pädagogischer Handlungseinheit im Sinne Fends aus [3]. Rolff fragt, „welcher Spielraum angesichts einer stets dominanter werdenden globalen Ökonomie für eine auch nur halbwegs eigenständige Schulentwicklung bleibt“ (40). Er handelt von „Gestaltungsautonomie“, der „pädagogische(n) Ausgestaltung eines erweiterten Rahmens von Schulentwicklung“ (50) und von „Dezentralisierung und Verantwortungsverlagerung des Tagesgeschäftes an die unterste Ebene“ (51). Dabei sind „Druck und Zug“ nötig, „pressure and support“ (206)), um „Engagierte“ und „Aktivisten“, „Skeptiker“ und „Gegner“ (36) an einer Schulentwicklung zu beteiligen, die mehr sein will als Neujustierung einer alten „Aufsichtsspanne“ (53) im Sinne des Beckerschen Aufsichtsparadigmas einer verwalteten Schule [4].
In der Umsetzung seiner Leitideen modelliert Rolff im organisationstheoretischen Rahmen Entwicklungsprogramme für eine sich verändernde Schulentwicklung, die auf die konkreten Akteure zielt, ihre Interessen in Steuergruppen und professionellen Lerngemeinschaften verankert und durch „konfluente Leitungen“ moderiert sieht. Diese neuen Schulleitungen definieren „Grenzen“ und klären „Rollen“ (92). Offensichtlich ist dabei die Schwierigkeit der Umsetzung vor Ort; denn Schule gilt dem Autor auch als „Eisberg“ (35) und die Veränderung ihrer „Grammatik“ durch auf Kompetenzbasis formulierten Bildungsstandards als „harzige Angelegenheit“ (132), die nicht im „pädagogischen Reduktionismus“ einer Drei-Fächer-Schule aus Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaft aufgehen darf (210).
Die Texte sind durchwirkt mit analytischen Apercus. Es lassen sich vor dem Hintergrund der Rollfschen Erfahrung Kritiken finden zu Klipperts Konzept der pädagogischen Schulentwicklung, das Unterricht auf Methodentraining ganz im Sinne der Herbartianer einschmilzt (147), Prenzels Sinus-Programm, dessen Ergebnisse weniger hergeben als sie vorgeben (174), und der Kliemeschen Expertise zu den Bildungsstandards, bei der es im Kapitel um die Schulentwicklung „um kaum mehr als um Gewinnung von Akzeptanz der Lehrerschaft (geht)“ (215) und in der bezeichnend sei, dass in der sie erstellenden Gutachtergruppe „kein Schulentwickler vertreten war, es war auch kein Schulpädagoge dabei“ (ebd.).
Insgesamt sind die Texte gesponnen um die Schwierigkeit, der „civil servant mentality“ in der verwalteten Schule (70) eine Entwicklungsrichtung zu geben, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung nicht aus den Augen verliert und einer „Balkanisierung“ von Schulen enträt, in der nur gilt : „Jede Schule macht, was sie will, und sie verhält sich zudem aggressiv gegenüber jenen Schulen, die sie als Konkurrenten empfindet“ (199). So nimmt es nicht Wunder, dass Hans-Günter Rolff in den Abschlusstexten versucht, den Netzwerkgedanken stark zu machen und gleichsam „Qualitäts-Sicherung“ und „Qualitäts-Entwicklung“ miteinander zu verschmelzen (236). Dies gelingt dort besonders gut, wo transparente Referenzsysteme entstehen, die nachvollziehbar „bedeutsame Qualitätsbereiche“ beschreiben (200) und Indikatoren für ihre Erfüllung offen legen. Hier verweist er nicht ohne Stolz auf den „Orientierungsrahmen Schulqualität in Niedersachsen“, wiewohl auch hier, bei allem Erfolg, Skepsis bleibt, in Hinsicht auf die Steuerung von Lernprozessen in den Netzwerken selbst oder in Hinsicht auf die die Ausgestaltung einer neuen Unterrichtspraxis (vgl. 229).
„Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung“ regt also zum Nachdenken an, gibt Hilfestellung dazu, wie systemische Schulentwicklung initiiert werden könnte, und bleibt gleichzeitig nüchtern gegenüber der eigenen organisationalen Rhetorik und powergepointeten Graphik. Hans-Günter Rolff zeigt sich dabei als kreativer Hypothesengeber; seine latenten Vermutungen werden ihre empirische Evidenz auch zukünftig in wissenschaftlichen Studien erweisen müssen.
Der Aufsatzband gehört in jede erziehungswissenschaftliche Bibliothek; denn man bekommt den „ganzen Rolff“ auf 259 Seiten. Im Band kann man einzelne Texte nachlesen oder auch in der Zusammenschau einen kursorischen Überblick über das Wirken eines engagierten Schulforschers gewinnen, der sich über die Höhen und Tiefen bundesdeutscher Schulentwicklung geradezu eine jugendliche Frische erhalten hat und nicht melancholisch wurde über das, was immer wiederkehrt. Ein Kassenschlager werden die „Studien“ sicher nicht, denn dafür sind sie mit 49,90 EUR einfach zu teuer – aber Kopierer gibt es ja allenthalben.
[1] Rolff, H.-G. (1970): Bildungsplanung als rollende Reform. Eine soziologische Analyse der Zwecke, Mittel und DurchfĂĽhrungsformen einer reformbezogenen Planung des Bildungswesens. Frankfurt am Main, Berlin, MĂĽnchen: Diesterweg, 170.
[2] Rolff, H.-G. (1991): Schulentwicklung als Entwicklung von Einzelschulen? Theorien und Indikatoren von Entwicklungsprozessen. In: Zeitschrift für Pädagogik 37, 865-886.
[3] Fend, H. (1986): „Gute Schule – Schlechte Schule“. Die Einzelschule als pädagogische Handlungseinheit. In: Die Deutsche Schule 78, 275-293.
[4] Becker, H. (1954): Die verwaltete Schule. In: Becker, H. (1968): Quantität und Qualität. Grundfragen der Bildungspolitik. Freiburg i.B.: Rombach, 147-174.
EWR 7 (2008), Nr. 2 (März/April)
Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung
Weinheim, Basel: Beltz 2007
(259 S.; ISBN 978-3-407-32073-5; 49,90 EUR)
Axel Gehrmann (Schwäbisch Gmünd)
Zur Zitierweise der Rezension:
Axel Gehrmann: Rezension von: Rolff, Hans-GĂĽnter : Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung. Weinheim, Basel: Beltz 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340732073.html
Axel Gehrmann: Rezension von: Rolff, Hans-GĂĽnter : Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung. Weinheim, Basel: Beltz 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340732073.html