EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)

Sabine Seichter
Der lange Schatten Maria Montessoris
Der Traum vom perfekten Kind
Weinheim/Basel: Beltz 2024
(195 S.; ISBN 978-3-407-25937-0; 29,00 EUR)
Der lange Schatten Maria Montessoris Dass Maria Montessoris esoterisches TheoriegebĂ€ude in ein kritisches Licht gerĂŒckt wird, ist aus Sicht einer sich selbst so bezeichnenden Erziehungswissenschaft notwendig. Leider ist es auch ĂŒberfĂ€llig. Nachdem Rudolf Steiners Erziehungslehre bereits in den 1980ern mehrfach einer systematischen Kritik unterzogen wurde [1], gilt das fĂŒr die der Dottoressa grosso modo erst seit der Jahrtausendwende [2]. Sabine Seichter moniert folglich, der „marode Zustand der erziehungswissenschaftlichen Forschungsliteratur [sei] fĂŒr eine nĂŒchterne Analyse freilich höchst erschwerend und geradezu peinlich“ (16). Diese Diagnose und dieser Duktus setzen den Grundton fĂŒr die anschließende Kritik.

Kritisieren lĂ€sst sich jedenfalls hinreichend viel an dieser PĂ€dagogik, die hierzulande, genau wie die WaldorfpĂ€dagogik, von der Privatisierung von Bildungseinrichtungen enorm profitiert und zugleich angesichts ihrer Entstehungs- und Erfolgsgeschichte sowie hĂ€ufig selektiven Biographie ihrer Urheberin große AngriffsflĂ€chen bietet hinsichtlich ihrer Grundlegung und Legitimation. Mit dem Erscheinen von Seichters Band erfolgt eine gezielte Kritik an Montessoris „biopolitische[n] Visionen“ im „aktuellen Zusammenhang von Eugenik, Rassentheorie und Optimierungsstreben“, wie bereits der Klappentext ankĂŒndigt und somit den historisch-systematischen Problemhorizont des Werkes benennt. Seichter selbst beschreibt das Ansinnen des Bandes als „ideologiekritische[s] BemĂŒhen, das eugenisch durchtrĂ€nkte Denken Maria Montessoris nĂŒchtern und analytisch nachzudenken“ (18); der gewĂ€hlte Einfallswinkel ist, eingedenk Seichters Forschung und langjĂ€hrigem Engagement in der entsprechenden DGfE-Kommission wenig ĂŒberraschend, eine anthropologische Analyse.

Die Ausstattung, Aufmachung und der um VerstĂ€ndlichkeit bemĂŒhte Schreibstil unterstreichen das im Titel anklingende Ziel einer Entzauberung der Montessori-PĂ€dagogik fĂŒr ein breiteres Publikum hinsichtlich ihres eugenischen, biologistischen, mithin rassistischen Fundamentes. Es kommt zudem selten genug vor, dass ein Werk solchen Zuschnitts bei Erscheinen auf eine starke mediale Resonanz trifft und von Interviews u.a. in DLF Kultur, der FAZ und der NZZ begleitet wird [3]. Unterteilt ist das vorliegende Buch in fĂŒnf (nummerierte) Hauptkapitel und zwei weitere einrahmende ohne Nummerierung.

Vor dem ersten Kapitel fĂŒhrt Seichter in die „Glaubenswelten der Maria Montessori“ ein und skizziert die in Montessoris Werk so prĂ€valente Melange aus positivistisch-naturwissenschaftlichem Optimierungsoptimismus und Entwicklungsdenken [4] sowie harmonistisch-„quasi-religiöse[n] Ansichten“ (8), inklusive ihrer Rezeption durch „die gleichermaßen unbedingte, unwissende und kritiklose Gefolgschaft“ (14). Seichter zieht eine KontinuitĂ€tslinie von der damaligen Eugenik und deren Hoffnungen zu heutigen, technisch ermöglichten Kind- und Menschoptimieren im Zuge von PrĂ€nataldiagnostik, allseitiger Vermessung usw. Im „grenzenlose[n] Streben nach einem besseren Zustand der Menschheit“, das ist der vorweggenommene Schluss Seichters, lĂ€ge „bis heute die Faszination fĂŒr ‚Montessori‘“ (167) – eine These, die durch alternative BegrĂŒndungen (Ablösung des Namens als Marke vom theoretischen Überbau und der pĂ€dagogischen Praxis gleichermaßen; wirksame Historiographie; pragmatische, milieugebundene Kita-/Schulwahl) zu irritieren wĂ€re.

In den drei folgenden Hauptkapiteln umkreist in anschaulicher Manier Seichter den (bildungs-)historischen Kontext der Entstehung von Montessoris Programm: Die radikale Rationalisierung aller Lebensbereiche, die aufkommende ‚Rassenkunde‘ und die Hoffnung auf den neuen Menschen (mit leider nicht immer ausformulierten Anleihen aus post- und transhumanistischen Diskursen), die Affirmation dessen durch die PĂ€dagogik und das verĂ€nderte Bild des normierten Kindes (und der Mutter). Das vierte Hauptkapitel bildet den quantitativen und qualitativen Schwerpunkt und ist ob der Übertitelung mit „Maria Montessori: Ganz Kind ihrer Zeit“ (70ff) einer Infragestellung ihres Heldinnen- bzw. Prophetinnenstatus gewidmet, ohne eine historische Relativierung zuzulassen – die zeitgenössische Kritik durch Dewey/Kilpatrick, der Fröbelianer wie auch Muchow kommt wohlinformiert zur Sprache.

Seichter zeigt, wie es allererst zu einer solchen Verehrung kommen konnte: Montessori bedient geschickt BedĂŒrfnisse, WĂŒnsche und SehnsĂŒchte im Italien um 1900, das an Unsicherheit generierenden UmbrĂŒchen keinen Mangel leidet. Ohne Industrialisierung, VerstĂ€dterung und biopolitischer Normierung der Gesellschaft wĂ€re Montessoris pĂ€dagogisches Versprechen der KomplexitĂ€tsreduktion und Optimierung bis hin zur Erlösung nicht zu verstehen. Die Autorin kombiniert in ihrer ArgumentfĂŒhrung umfassende Entwicklungen und Beispiele (Weltausstellungen als Ausdruck kapitalistischer Steigerungslogik) mit historisch einflussreichen wissenschaftlichen Strömungen und Einzelpersonen, die fĂŒr das Werk Montessoris zentral werden sollten und deren v.a. Ă€sthetische Argumente als Iteration der Kalokagathie weitreichend Überzeugungskraft entfalten und die zugleich der pĂ€dagogischen PĂ€dometrie und Quantifizierung Legitimation verschaffen (82ff). Besonders durch zahlreiche wörtliche Zitate rassenkundlicher Natur gelingt es Seichter, die BrutalitĂ€t dieses Denkens zu demonstrieren und Montessoris Indifferenz demgegenĂŒber zugunsten der Verbreitung ihrer ‚Methode‘ und ihres Namens zu rekonstruieren. Dass sie zu diesem Zweck „Schwachsinnige“ und „Idioten“ (teils gar als „Minderwertige“ oder „Parasiten“ markiert) einspannt, heute aber ihre PĂ€dagogik als besonders inklusiv vermarktet wird, bildet nur eine Pointe der anhaltenden und WidersprĂŒche ignorierenden Hagiographie Montessoris (134ff).

Das fĂŒnfte und (nicht nummerierte) sechste Kapitel dient einer Fokussierung auf das Denken und Handeln Montessoris durch die Brille foucaultscher Biomacht. Nicht nur lassen sich so zentrale Begriffe der Montessori-PĂ€dagogik wie NormalitĂ€t, Freiheit usw. in ihrer Sinnverdrehung entlarven, sondern zugleich eine Linie ziehen zu postmodernen Bestrebungen technischer Optimierung, die ihren „utopischen bzw. dystopischen Anstrich“ (151) verloren hat und selbst normalisiert wurde. Besonders mit Hinblick auf heutige PrĂ€nataldiagnostik wendet Seichter ihre Montessori-Kritik in eine mit großer moralischer Verve versehene Warnung wider die Naturalisierung anthropologischer Unterschiede, sowohl diskursiv wie biotechnologisch und – selbstverstĂ€ndlich – pĂ€dagogisch, etwa mit Blick auf die „sogenannte Bildungsselektion“ (163).

Was Sabine Seichter vorlegt, ist folglich nichts Geringeres als ein notwendiger Weckruf zur (Wieder-)Erlangung wissenschaftlicher Strenge bzgl. der Montessori-PĂ€dagogik und ihren Implikationen bei aller Anerkennung der von ihren UrsprĂŒngen und ihrer Namenspatronin emanzipierten Praktiken und Praxen. Konzeptuell stellt sich die Frage danach, womit sich Seichters Kritik mit ihrem starken anthropologischen Fokus relationieren oder gar stĂ€rken ließe, etwa in Hinblick auf die dem Konzept inhĂ€rente Ökonomisierungslogik, Praktiken der Verschleierung und andere strategisch-methodologische EinsĂ€tze, Montessoris PolitizitĂ€t, ihre ReprĂ€sentation reformpĂ€dagogischen Denkens usf.

Insgesamt, das soll bei allen kleinen bis mittleren Beanstandungen den Schlusspunkt dieser Besprechung bilden, ist es ein großes Verdienst Seichters die Notwendigkeit der Kritik an einer der SĂ€ulenheiligen unserer Disziplin anschaulich aufzuzeigen, auf aktuelle Diskussionen zu beziehen und einem breiten Publikum zugĂ€nglich zu machen. Die LektĂŒre wird nicht nur dem pĂ€dagogischen Fachpersonal an entsprechenden Einrichtungen anempfohlen, sondern auch Kolleginnen und Kollegen in der Wissenschaft, die (wie der Rezensent selbst) wĂ€hrend ihres Studiums im Modus einer zumeist unkritischen Lesart mit Maria Montessori und ihrer PĂ€dagogik bekannt gemacht wurden.

[1] Prange, Klaus (1985): Erziehung zur Anthroposophie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Ullrich, Heiner (1986): WaldorfpÀdagogik und okkulte Weltanschauung. Weinheim: Juventa.
[2] Hofer, Christine (2001): Die pĂ€dagogische Anthropologie Maria Montessoris - oder: Die Erziehung zum neuen Menschen. WĂŒrzburg: Ergon. Leenders, HĂ©lĂšne (2001): Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpĂ€dagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Fuchs, Birgitta (2002): Maria Montessori. Ein pĂ€dagogisches PortrĂ€t. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/UTB. Proske, Wolfgang (2005): Die Montessori-PĂ€dagogik und ihre weltanschaulichen Grundlagen. In: Forum Demokratischer AtheistInnen (Hrsg.): Mission Klassenzimmer. Zum Einfluss von Religion und Esoterik auf Bildung und Erziehung. Aschaffenburg: Alibri. Böhm, Winfried (2010): Maria Montessori. EinfĂŒhrung mit zentralen Texten. Paderborn: Schöningh. Reiß, Marcus (2012): Kindheit bei Maria Montessori und Ellen Key. Disziplinierung und Normalisierung. Paderborn: Schöningh.
[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/buch-ueber-reformpaedagogin-der-lange-schatten-der-maria-montessori-dlf-kultur-025b412f-100.html; https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/maria-montessori-von-inklusion-kann-keine-rede-sein-19539048.html; https://www.nzz.ch/wissenschaft/maria-montessori-vertrat-rassistische-und-eugenische-denkweisen-ld.1814423 .
[4] Vgl. Buck, Marc Fabian (2016): Vorsicht Stufe! Zur Kritik von Entwicklungsmodellen des Menschen in der PĂ€dagogik. Diss. phil., HU Berlin. https://doi.org/10.18452/17436. Hier: 55ff.
Marc Fabian Buck (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marc Fabian Buck: Rezension von: Seichter, Sabine: Der lange Schatten Maria Montessoris, Der Traum vom perfekten Kind. Weinheim/Basel: Beltz 2024. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340725937.html