EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)

Yasemin Karakaşoğlu / Paul Mecheril / Jeanette Goddar
PĂ€dagogik neu denken!
Die Migrationsgesellschaft und ihre Lehrer_innen
Weinheim/Basel: Beltz 2029
(136 S.; ISBN 978-3-407-25801-4; 24,95 EUR)
PĂ€dagogik neu denken! Die Migrationsgesellschaft erfordert neue Perspektiven, die alle Akteur*innen betreffen. Den Diskurs zu einem solchen Ansatz prĂ€gen in vorderster Linie seit vielen Jahren die Erziehungswissenschaftler*innen Yasemin Karakaşoğlu und Paul Mecheril. In dem Band „PĂ€dagogik neu denken! Die Migrationsgesellschaft und ihre Lehrer_innen“ explizieren beide im GesprĂ€ch mit der Journalistin Jeanette Goddar und unter Bezugnahme aufeinander ihre Positionen und deren Konsequenzen fĂŒr die Praxis. Im Mittelpunkt stehen eine gesellschaftskritische Perspektive und eine neue Haltung der SelbstreflexivitĂ€t fĂŒr Lehrer*innen. Das Spezifische an dem Band ist sein GesprĂ€chsformat.

In dem GesprĂ€ch erlĂ€utern Karakaşoğlu und Mecheril ihre Begrifflichkeiten und theoretischen AnsĂ€tze, die sie in den letzten Jahrzehnten vorgelegt haben. Diese sind eingebettet in eine Analyse der politischen und strukturellen Bedingungen des Bildungssystems, global wirkmĂ€chtiger Konfliktlinien wie den PalĂ€stinakonflikt, Islamismus oder Nationalismus. Außerdem lassen sie die Erfahrungen, die sie jeweils im Rahmen der Praktikumsbegleitung in der Lehramtsausbildung gemacht haben, mit einfließen. Goddar hakt nach („Wie bitte?“), will genauer wissen („Was ist daran schlimm?“), bittet um ErlĂ€uterungen und BegrĂŒndungen, fragt nach Beispielen, zieht auch eigene Beobachtungen mit ein, ist hartnĂ€ckig darin, wenn es um die ganz praktischen Konsequenzen geht: „Was soll er denn nun tun?“

Durch die Fragen der Journalistin sind die Themen, die in den Medien, in AlltagsgesprĂ€chen oder auch in der Lehramtsausbildung regelmĂ€ĂŸig gestellt werden, quasi mit an Bord. Die Spannbreite der Themen reicht von der politischen und sozialen Entwicklung Deutschlands zur Migrationsgesellschaft in den letzten Jahrzehnten mit RĂŒckblicken auf die sog. AuslĂ€nderpĂ€dagogik, ĂŒber die kritische Erörterung von gĂ€ngigen Begriffen und Diskursen, etwa zu Religion, bis hin zu konkreten Interaktionen im Schulalltag. Zwar setzen Karakaşoğlu und Mecheril im einzelnen unterschiedliche Akzente, wobei Mecheril in der Tonlage tendenziell ‚schĂ€rfer‘ ist, insgesamt vertreten sie jedoch ein gemeinsames Anliegen. Mit ihrem Band, den sie selbst als „Weckruf“ verstehen, wollen sie dazu beitragen, dass Lehrer*innen eine spezifische Haltung zur Migrationsgesellschaft entwickeln können. Dazu gehört, gegenĂŒber der vermeintlichen NormalitĂ€t von Begriffen wie ‚Migration‘, ‚Migrationshintergrund‘, aber vor allem gegenĂŒber Stigmatisierungen wie ‚Brennpunktschulen‘ skeptisch zu sein: „Die Annahme, Migration sei nur von Bedeutung, wenn die ‚Anderen‘ anwesend sind, ist in etwa so irrig wie jene, ökologische Bildung brĂ€uchten nur Stadtviertel, in denen ein Atomkraftwerk steht, oder GeschlechterverhĂ€ltnisse mĂŒssten an einer MĂ€dchenschule nicht Bestandteil von Diskussionen sein. Migrationsgesellschaftlichkeit ist eine allgemeine Dimension der Gegenwart und der Zukunft – und mit allgemeinen Dimensionen sollten sich alle auseinandersetzen (
) Und wer ihren Goethe kann, ist keine Migrantin mehr“ (39).

Die Mehrheit der Lehramtstudierenden und Lehrer*innen wirke, so Karakaşoğlu und Mecheril, bewusst und unbewusst beim sog. Othering mit. In diesem Prozess wĂŒrden Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien als vermeintlich Andere ausgegrenzt, aus einem nationalistisch verengten Wir ausgeschlossen (23). Dies wĂŒrde insbesondere bei als arabisch markierten mĂ€nnlichen Jugendlichen praktiziert. Das sog. Othering sei „letztlich ein geschicktes Ablenkungsmanöver davon, dass wir es angesichts miserabler Ressourcenausstattung mit einem bildungspolitischen Notstand zu tun haben“ (64).

Lehrer*innen werden im Rahmen der Ausbildung kaum auf die migrationsgesellschaftliche RealitĂ€t vorbereitet, da dort – wie in der ĂŒbrigen Gesellschaft – Kulturalisierung oder gar die Rhetorik eines Kulturkampfes ĂŒberwiegen. „PĂ€dagogik neu denken!“ heißt fĂŒr Karakaşoğlu und Mecheril: Selbstreflektion und Selbstkritik statt Zuschreibungen und ein gutgemeintes ‚interkulturelles VerstĂ€ndnis‘; Professionalisierung als „PĂ€dagog*innen der Migrationsgesellschaft“ statt „Kulturalisierung der Kinder und Jugendlichen“, die hĂ€ufig vorschnell als muslimisch oder rĂŒckstĂ€ndig statt beispielsweise als pubertierend adressiert werden. Die Lehrer*innen benötigen eine neue intellektuelle, politische, pĂ€dagogische und emotionale Ausstattung fĂŒr die AnsprĂŒche ihres Berufs. Sie mĂŒssen geschult werden in Wissenschafts- und Systemkritik und sensibilisiert werden fĂŒr Prozesse der Diskriminierung und des Rassismus, an denen sie selbst ungewollt oder unbedacht mitwirken.

Karakaşoğlu und Mecheril betonen, dass sie ihre ErlĂ€uterungen nicht als Rezeptwissen verstanden wissen wollen (s. hierzu explizit den Abschnitt „Rezeptwissen fördert Stereotype, Beispiel Islam“). Meines Erachtens gehört es jedoch zu den Verdiensten dieses Buches, dass es sich durchaus als Praxisanleitung lesen lĂ€sst. Was heißt es konkret, professionalisiert statt kulturalisierend auf eine Situation zu schauen? Anschauungsmaterial hierzu findet sich etwa im Abschnitt „Doing Gender, Doing Migrant“. Karakaşoğlu schlĂ€gt, unmittelbar gerichtet an die Adresse einer Lehrerin, die sich als Frau angegriffen fĂŒhle, vor: „Sie werten also das Verhalten des SchĂŒlers nicht als persönlichen Angriff auf sich in ihrer Rolle als Frau beziehungsweise Lehrerin, sondern verfolgen ihr Ziel, die grundsĂ€tzliche Akzeptanz einer fĂŒr alle geltenden Regel einzufordern. Das bedeutet: Sie stellen den pĂ€dagogischen Kontext in den Vordergrund“ (82).

Karakaşoğlu und Mecheril denken nicht von den (zu erziehenden) SchĂŒler*innen, sondern von den gesellschaftlichen MachtverhĂ€ltnissen her. Interessant dabei ist, dass die Haltung, die daraus resultiert, sich auch in ZurĂŒck-Haltung Ă€ußern kann: ZurĂŒckhaltung gegenĂŒber gĂ€ngigen, aber vorschnellen Wertungen. Den Autor*innen ist, dies wird vor allem gegen Ende des GesprĂ€chs deutlich, bewusst, mit welchen Anforderungen Lehrer*innen konfrontiert sind und wie schwierig und anspruchsvoll es ist, nicht bei ‚den Anderen‘, sondern bei sich selbst anzusetzen. In diesem anspruchsvollen Beruf werde „Mut und MĂ€ĂŸigung“ gebraucht: „Mit MĂ€ĂŸigung gemeint ist, dass man eine Einsicht ĂŒber die Begrenztheit des eigenen Wissens hat – ohne sich darin einzurichten. Und Mut braucht es, um querzudenken (
)“ (133).

Der Band ist, so meine abschließende EinschĂ€tzung, eine lohnende LektĂŒre. Der Mehrwert gegenĂŒber anderen Veröffentlichungen aus dem Bereich der Kritischen Erziehungswissenschaft zur Migrationsgesellschaft entsteht aus dem GesprĂ€chsformat. Dieses macht den Band zum einen auch fĂŒr diejenigen lohnend, denen die Argumentation von Karakaşoğlu und Mecheril bereits bekannt sein mag. Sie, die möglicherweise der gesellschaftlichen Analyse und der fundamentalen Begriffskritik nicht in jeder Hinsicht folgen wollen, erhalten AnstĂ¶ĂŸe zum Weiterdenken, können ĂŒber die eine oder andere Zuspitzung irritiert sein oder sich an ihr freuen. Zum andern bietet das GesprĂ€chsformat fĂŒr Neueinsteiger*innen eine gut lesbare EinfĂŒhrung. Der Band sei Lehramtsstudierenden und Lehrer*innen empfohlen, die Interesse an einer wissenschaftlich einschlĂ€gigen Perspektive und an konkreten Hinweisen fĂŒr ihr RollenverstĂ€ndnis und ihre Orientierung in der schulischen Praxis einer Migrationsgesellschaft haben.
Annette Treibel (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Annette Treibel: Rezension von: Karakaşoğlu, Yasemin / Mecheril, Paul / Goddar, Jeanette: PĂ€dagogik neu denken!, Die Migrationsgesellschaft und ihre Lehrer_innen. Weinheim/Basel: Beltz 2029. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340725801.html