In der bildungshistorischen Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik findet sich häufig eine Zuwendung zu Persönlichkeiten, die durch ihre Schriften oder ihr Werk einen besonderen Beitrag zu Theorie und / oder Praxis pädagogischen Handelns geliefert haben. Der Name von Ernst Papanek, der 1900 in Wien geboren wurde und 1973 dort starb, taucht hier nur selten auf [1], was nach der Lektüre der von Inge Hansen-Schaberg, Hanna Papanek und Gabriele Rühl-Nawabi herausgegebenen Publikation überrascht.
Schon in dem von Hansen-Schaberg verfassten Eingangskapitel, das die lebensgeschichtlichen Hintergründe der pädagogischen und politischen Arbeit Papaneks beleuchtet, wird deutlich, dass es ihm sowohl in seiner praktischen Arbeit als medizinisch und psychologisch gebildeter Lehrer und Heimleiter als auch in seinem Schaffen als Hochschullehrer und Autor immer wieder um die psychologische und pädagogische Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen ging. Diese pädagogische Profession ging eine Verbindung mit Papaneks politischen Überzeugungen ein, denn als Sozialist und „exponierter Politiker der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs“ (18) arbeitete er unter anderem im Landerziehungsheim Harthof, in der Zentralstelle für das Bildungswesen des Wiener Magistrats und im sozialdemokratischen Erziehungs- und Schulverein „Freie Schule – Kinderfreunde“. Gegen den wachsenden Einfluss der Nationalsozialisten in Österreich kämpfend, ging Papanek schließlich ins Exil, von wo aus er die Widerstandsarbeit fortsetzte und trotz der schwierigen Bedingungen im Untergrund als Herausgeber der „Internationalen Pädagogischen Information“ fungierte, mit der – allen politischen Widrigkeiten zum Trotz – auch weiterhin reformerische pädagogische Entwicklungen dokumentiert und verbreitet wurden (19).
Als der 1938 nach Frankreich geflüchtete Papanek mit seiner Familie die Möglichkeit hatte, in die USA zu emigrieren, traf er eine folgenschwere Entscheidung: Die Bitte der 1912 von jüdischen Ärzten in St. Petersburg gegründeten, später international tätigen Organisation „Œuvre de secours aux enfants“ (OSE), Heime für jüdische Flüchtlingskinder in der Nähe von Paris einzurichten und zu leiten, konnte Papanek nicht ablehnen. So wurde er, maßgeblich unterstützt durch seine Frau Helene, von 1938 bis Sommer 1940 zum „Generaldirektor der schließlich elf über ganz Frankreich verteilten Kinderheime mit 1.600 Kindern“ (19). Diese Tätigkeit endete, als die Lage für ihn und seine Familie immer bedrohlicher wurde, mit seiner Ausreise in die USA, wo er seine pädagogische sowie politische Arbeit fortsetzte und seine Nähe zur Individualpsychologie Alfred Adlers durch seine Funktion als Vorsitzender der „International Society of Adlerian Psychology“ zum Ausdruck brachte.
Die vorliegende Publikation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, „den überfälligen wissenschaftlichen Diskurs“ (29) zu Papaneks Leben und Werk zu eröffnen, widmet sich in erster Linie der Zeit, in der er die Heime aufbaute und leitete, indem sie Papanek selbst zu Wort kommen lässt und Auszüge aus sechs zentralen Texten, die zum Teil zu diesem Zweck übersetzt wurden, wiedergibt. Der erste, nur knapp sechs Seiten umfassende Text stammt aus dem Jahr 1940 und ist eine Art Rechenschaftsbericht an die Förderer der Heime, der die Situation in den Heimen schildert und über die dort lebenden Kinder sowie die Unterrichtsmethoden, die Organisation und die Probleme, mit denen zu kämpfen war, informiert. In aller Kürze vermittelt Papanek so einerseits einen Eindruck von den Belastungen, denen die ihm und seinem Team anvertrauten ca. 300 Kinder ausgesetzt waren, bis sie Zuflucht in einem der vier Häuser fanden. Nahezu alle teilten die Erfahrungen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten, die der Trennung von der Familie und die Ungewissheit über das Schicksal der Eltern. Andererseits wird durch seine Schilderung mehr als angedeutet, mit welcher Behutsamkeit versucht wurde, diese Kinder aufzufangen, ihnen das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und sie „auf einen harten Existenzkampf“ vorzubereiten (44). Die an den Text angehängte Hausordnung macht deutlich, dass die demokratische Mitbestimmung der Kinder einen wichtigen Schwerpunkt in den Heimen darstellte.
Der zweite, ebenfalls recht kurze Text, der im September 1940 gleich nach der Ankunft im US-amerikanischen Exil verfasst wurde und unveröffentlicht blieb, liest sich als Plädoyer für eine unverzügliche Evakuierung der in Frankreich zurückgebliebenen Kinder und deren Unterbringung in noch zu errichtenden Heimen in den USA. Mit diesem Text versuchte Papanek seinen Standpunkt gegen die in den USA vorherrschende Meinung, eine Unterbringung in Pflegefamilien und der radikale Bruch mit der Vergangenheit seien der bessere Weg zu einer gelingenden Assimilation der Kinder in der neuen Umgebung, durchzusetzen. Es folgt die Wiedergabe eines 1943 erschienenen Aufsatzes, den Papanek in den USA publizierte und in dem er unter dem Titel „Post-war educational problems in axis countries“ seine Vorstellungen von der Rolle der Erziehung „als wichtigste Möglichkeit zur Einrichtung einer weltweiten demokratischen Gesellschaft“ (57) darlegt.
Den sich anschließenden vierten Text verfasste Papanek 1944. Er basiert auf Aussagen von jüdischen Kindern, die in die USA emigrieren konnten und die auf einen Fragebogen antworteten, in dem sich Papanek „nach den Umständen ihrer Flucht und nach ihrer Gefühlslage“ (61) erkundigte. Papanek konzentrierte sich auf jüdische Kinder und begründet dies damit, dass er sie in einer „Schicksalsgemeinschaft“ (63) verbunden sehe, die einer besonderen Form der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war. Dies habe zu spezifischen Formen der Traumatisierung geführt, deren „Erkenntnis und deren Behandlung für die Erziehung und das Schicksal der Gruppe und deren Individuen von größter Bedeutung“ (63) seien. Durch die Wiedergabe der berührenden Schilderungen erhält man einen plastischen Eindruck von den Belastungen, denen die Kinder ausgesetzt waren, und vermag dem Versuch Papaneks zu folgen, den Vorgang der Traumatisierung dieser Kinder in unterschiedliche, von den jeweiligen Erlebnissen geprägte Phasen aufzuteilen. In späteren Arbeiten begründete er diese Phaseneinteilung genauer. Seine Schilderungen enden mit einem Plädoyer für die umfangreiche Aufarbeitung dieser Traumata, womit er sich erneut gegen die bereits angesprochene, in den USA favorisierte Methode eines vollständigen Bruchs mit der Vergangenheit wendete.
Mit einem deutlichen zeitlichen Abstand schrieb Papanek 1968 einen Beitrag für eine Festschrift der OSE und gab darin einen Einblick in die pädagogische Arbeit und den Alltag in den von ihm geleiteten Kinderheimen. Auch dieser Text wird wiedergegeben. Hier erfährt man Details über die Organisation des Lebens in den Heimen, über die Probleme, die beispielsweise der Kriegsausbruch mit sich brachte, über das Gefühl der ständigen Bedrohung, aber auch über die Schicksale der Kinder, die zum Teil in die USA ausreisen konnten, die aber zum Teil doch noch in den Vernichtungslagern umgebracht wurden, eine traurige Tatsache, die Papanek sein ganzes Leben beschäftigte.
Den Abschluss dieses Quellenteils bildet die ungekürzte Wiedergabe der nicht genau datierbaren (Ende der 1960er Jahre) und unvollendet gebliebenen Gesamtdarstellung der Geschichte der OSE-Heime. Unter dem Titel „They were not expendable“ versuchte Papanek ein Buch zu schreiben, das alle Facetten der Heimgeschichte zusammenfassen und seine Auffassung von einer „pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit Kindern, die auf der Flucht vor Verfolgung und Krieg waren bzw. den Terror überlebt hatten“ (105), dokumentieren sollte. Diese sehr lesenswerte Darstellung zeigt zwar zahlreiche Wiederholungen von Passagen aus dem zuvor genannten Festschrift-Text (worauf die Herausgeberinnen auch hinweisen), ist aber wesentlich intensiver und aufschlussreicher als dieser, da neue Aspekte berührt werden, die die Intensität der Zusammenlebens sowie der von den Erzieherinnen und Erziehern geleisteten Arbeit verdeutlichen.
Diesen Papanek-Texten vorangestellt ist ein Beitrag von Gabriele Rühl-Nawabi zur „Rezeption des individualpsychologischen Ansatzes Alfred Adlers durch Ernst Papanek“ (33), der sich aufgrund seiner Kürze auf den Gemeinschaftsbegriff bei Adler und die Formen der Gemeinschaft in den OSE-Heimen konzentriert, andere Aspekte jedoch nur anreißt. Hier wird in der von Rühl-Nawabi geplanten Dissertation zu Leben und Werk Papaneks sicher mehr zu lesen sein.
Das Buch wird abgeschlossen durch einen mit vielen Fotos illustrierten Essay von Hanna Papanek, geb. Kaiser, der Schwiegertochter Ernst Papaneks. Hanna Kaiser kam als 12-jährige in eines der von Papanek geleiteten Heime und blieb dort – nach einem zwischenzeitlichen Wechsel – insgesamt ein Jahr, bevor sie im Dezember 1940 zusammen mit ihren Eltern in die USA auswandern konnte, wo sie wieder mit der Familie Papanek zusammentraf, woraus sich 1947 die Eheschließung mit Gustav Papanek ergab. Dieser sehr persönlich geprägte Text, der entsprechend als Zeitzeuginnenbericht gelesen werden muss – Satzanfänge wie „ich glaube“, „ich kann mir gut vorstellen“ verdeutlichen dies –, vermittelt einen intensiven Eindruck vom Heimleben, der dort sich entwickelnden Gruppendynamik und der Bedeutung, die das Leben in der Heimgemeinschaft für die Kinder hatte. Kaiser berichtet auch über Ressentiments, denen Papanek in Bezug auf seine religiöse Haltung – als Sozialist spielte diese für ihn eine eher untergeordnete Rolle – und seine pädagogischen Überzeugungen begegnen musste, sowie über massive Kritik, die seine Entscheidung, nach einer Warnung 1940 die Heime Hals über Kopf zu verlassen und in die USA zu fliehen, betrafen. All diese Facetten machen ihren Essay zu einer aufschlussreichen Ergänzung der Texte von Papanek.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass die vorliegende Publikation eine sehr empfehlenswerte Lektüre darstellt, die zur weiteren Beschäftigung mit Ernst Papanek einlädt. Als besonders anregend stellt sich dabei die Möglichkeit eines Gegenwartsbezug dar, denn die Frage nach einem sinnvollen und therapeutischen Umgang mit traumatisierten, alleinreisenden Flüchtlingskindern besitzt momentan eine immense Aktualität. Die von Papanek praktizierte Gemeinschaftsbetreuung in pädagogischer und therapeutischer Hinsicht stellt einen vielversprechenden Ansatz dar, der in rudimentärer Form ja auch schon verfolgt wird. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit den therapeutischen Verfahren, die Papanek praktizierte, könnte hier neue Impulse setzen. Entsprechend ist der von den Herausgeberinnen gewünschte Diskurs wirklich wünschenswert.
[1] Hier sind in erster Linie Aufsätze von Inge Hansen-Schaberg zu nennen: Vgl. hierzu Hansen-Schaberg, I.: „Sie waren unentbehrlich“ – Ernst Papanek und die Rettung traumatisierter Kinder. In: Bildung und Erziehung. Emigration und Remigration in der Pädagogik. Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, Heft 1, 105-121. Vgl. auch: Hansen-Schaberg, I.: Die Wiener Schulreform und ihre pädagogische Umsetzung durch Ernst Papanek in den OSE-Kinderheimen in Frankreich. In: Mitteilungen & Materialien 53 / 2000, 88-99, und in: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands 17 / 2000, Nr. 2, 10-14.
EWR 14 (2015), Nr. 6 (November/Dezember)
Ernst Papanek – Pädagogische und therapeutische Arbeit
Kinder mit Verfolgungs-, Flucht- und Exilerfahrungen während der NS-Zeit
Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2015
(281 S.; ISBN 978-3-205-79589-6; 39,00 EUR)
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rüdiger Loeffelmeier: Rezension von: Hansen-Schaberg, Inge / Papanek, Hanna / Rühl-Nawabi, Gabriele (Hg.): Ernst Papanek – Pädagogische und therapeutische Arbeit, Kinder mit Verfolgungs-, Flucht- und Exilerfahrungen während der NS-Zeit. Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978320579589.html
Rüdiger Loeffelmeier: Rezension von: Hansen-Schaberg, Inge / Papanek, Hanna / Rühl-Nawabi, Gabriele (Hg.): Ernst Papanek – Pädagogische und therapeutische Arbeit, Kinder mit Verfolgungs-, Flucht- und Exilerfahrungen während der NS-Zeit. Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978320579589.html