EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)

Elisabeth Gergely / Tobias Richter (Hrsg.)
Wiener Dialoge
Der österreichische Weg der Waldorfpädagogik
Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011
(273 S.; ISBN 978-3-205-78621-4; 24,90 EUR)
Wiener Dialoge Der 150. Geburtstag Rudolf Steiners im Februar 2011 war Anlass für zahlreiche neue Publikationen über den Begründer der Anthroposophie und über die von ihm inspirierte Waldorfpädagogik. Besondere Aufmerksamkeit in der pädagogischen Fachwelt verdient darunter der von der „grande dame“ der österreichischen Waldorfbewegung Elisabeth Gergely und von dem durch sein Standardwerk über den Lehrplan der Waldorfschulen bekannt gewordenen Lehrerbildner Tobias Richter herausgegebene Sammelband über den Weg der Waldorfpädagogik in Österreich, dem Heimatland Steiners. Die Herausgeber sehen das Spezifikum des österreichischen Weges in die Waldorfpädagogik in „dem besonderen Rang, welcher der Kunst und einer Entwicklung der Pädagogik aus der Kunst heraus beigemessen wurde“ (13). Dieser ästhetischen Dimension entsprechend haben sie die zahlreichen Beiträge der heutigen Hauptakteure, die Interviews mit noch lebenden und die biographischen Skizzen von verstorbenen prominenten Gründerfiguren sowie die eingefügten Zeitdokumente und Bilder innerhalb des Bandes nach musikalischen Formaten (Präludium, Valse, Rondo u.a.m.) inhaltlich aufeinander bezogen.

Im Mittelpunkt steht die geschichtliche Rekonstruktion der großen Etappen der Waldorfschulbewegung in Österreich: die Gründung der ersten Wiener Waldorfschule im Jahre 1927, ihre Schließung durch die Nationalsozialisten nach dem Anschluss Österreichs 1938, die Wiedergründung der Wiener „Mutterschule“ im Jahre 1966, die allmähliche Ausbreitung auf heute 15 Waldorfschulen (und 30 Waldorfkindergärten) und das im Rahmen des Bologna-Prozesses entworfene Konzept einer Waldorflehrerausbildung auf universitärem Niveau. Hierzu liefert der Band aufschlussreiche Erinnerungen von Zeitzeugen, Dokumente, zurückblickende Kommentierungen sowie programmatische Überlegungen zu aktuellen Projekten. Fast alle Texte sind aus der Perspektive der an diesen Entwicklungsprozessen beteiligten, anthroposophisch orientierten AkteurInnen verfasst.

Sie entwerfen – in besonderem Maße die kürzlich in hohem Alter verstorbene Eurythmistin Elisabeth Gergely – ein monumental wirkendes Bild von den beiden Wiener Schulgründungen 1927 und 1966. Diese entstanden in einem Kräftefeld, das durch drei Akteursgruppen bestimmt wurde: einen anthroposophisch geprägten Schulverein mit einer charismatisch in die Öffentlichkeit hinein wirkenden Führerfigur, eine ungeduldige Elternschaft, die ihre schon im Waldorfkindergarten erzogenen Kinder keiner staatlichen Regelschule mehr anvertrauen will und statt ihrer notfalls den in Österreich zulässigen häuslichen Unterricht vorübergehend in Kauf nimmt , und schließlich eine oder mehrere in Waldorfpädagogik erfahrene Klassenlehrerpersonen, die sich für den weiteren Aufbau der Schule zur Verfügung stellen. Bemerkenswert für die österreichische Waldorfschulbewegung ist dabei die herausragende Bedeutung dreier im vorliegenden Band ausführlich porträtierter Frauen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie aus dem multiethnischen Wiener (Groß-)Bürgertum stammen und sich nach einem universitären Studium ganz der Steinerschen Anthroposophie und einem der von ihr inspirierten lebensreformerischen Praxisfelder verschrieben haben.

Der letzte Teil des Bandes dient der Darstellung der weiteren Expansion der Waldorfpädagogik in die übrigen Bundesländer Österreichs. Sie hat sich seit den neunziger Jahren beschleunigt und zu einigen Innovationen geführt. Kennzeichnend für die neueren, oft kleinformatigeren Waldorfschulen ist einerseits die Integration von Schülern mit Behinderungen und andererseits die Bildung von altersheterogenen Doppelklassen, für die ein der Waldorfpädagogik bislang nicht inhärentes neues Konzept jahrgangsübergreifenden Unterrichts erst noch entwickelt werden muss.

Als eine weitere Neuentwicklung auf dem österreichischen Weg der Waldorfpädagogik stellt Carlo Willmann schließlich den dreijährigen berufsbegleitenden Master-Studiengang Waldorfpädagogik am Zentrum für Kultur und Pädagogik an der Donau-Universität Krems dar. An diesem Außeninstitut des Fachbereichs Bildungswissenschaft der Alanus-Hochschule in Alfter bei Bonn soll die bislang praktisch-seminaristisch geprägte Ausbildung zum Waldorfklassenlehrer im Dialog mit den universitären Disziplinen ein akademisches Niveau erreichen und damit einen unmittelbaren Anschluss an die bildungswissenschaftliche Forschung.

Für den außenstehenden Beobachter ergibt sich als das durchgehende Spezifikum des österreichischen Weges der Waldorfpädagogik nicht die „Entwicklung der Pädagogik aus der Kunst“, sondern die Verspätung gegenüber den Entwicklungen in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten (insbesondere der Schweiz und den Niederlanden). Denn als die erste Wiener Waldorfschule zwei Jahre nach Steiners Tod im Jahre 1927 ihre Schultore öffnete, gab es in Deutschland schon fünf Waldorfschulen nach dem Modell der von Steiner geleiteten Stuttgarter Mutterschule; und es waren auch schon in London, Basel, Lissabon, Budapest, Oslo und New York entsprechende Schulgründungen erfolgt. Nachdem die Steiner-Schulen im „Großdeutschen Reich“ durch die Hitler-Diktatur zur Schließung gezwungen worden waren, begannen nach der Befreiung 1945 in Westdeutschland schon bald die ersten Wiedereröffnungen. Als die Wiener Waldorfschule schließlich 1966 als erste in Österreich ihren Betrieb wieder aufnehmen konnte, waren in Deutschland inzwischen schon wieder 28 Schulen aktiv. Gegenwärtig besucht in Deutschland bezogen auf die Gesamtpopulation ein Schüler von 150 eine der ca. 230 Waldorfschulen, in Österreich nur einer von 424 eine der 15 Steiner-Schulen. Für eine strukturelle Erklärung dieser eher langsam und zaghaft voranschreitenden Schulbewegung in Österreich liefert der Band nur wenige Hinweise, die leicht hätten ergänzt werden können. Es liegt auf der Hand, dass anders als in Deutschland, wo die meisten Schulgründungen lange Zeit vor allem in ehedem mehrheitlich protestantischen Regionen erfolgten, das weitgehend homogen katholisch geprägte Österreich ein zu schwerer Boden für die Aussaat der anthroposophischen Pädagogik war. Die erste Waldorfschule stellte einen in Österreich vordem nicht bekannten nichtkonfessionellen Typ von Privatschule dar, dem die Schuladministration das „Öffentlichkeitsrecht“ nur nach der Erfüllung langjähriger und konzeptionell tiefgreifender Auflagen [1] verlieh. Bis heute erhalten in Österreich die in aller Regel katholischen Privatschulen eine volle staatliche Finanzierung der Lehrergehälter, die Waldorfschulen nur zu einem Zehntel, was sie auch deutlich von ihren zu etwa 60-80% ihrer Kosten staatlich bezuschussten Partnerschulen in Deutschland unterscheidet. Ein weiterer Grund für den späteren Neustart der Wiener Waldorfschule mehr als zwei Jahrzehnte nach Kriegsende liegt in der Tatsache, dass die Stadt Wien bis zur Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Österreichs durch den Staatsvertrag im Jahre 1955 in der sowjetisch besetzten Zone lag. Dort konnte das für die Waldorfschulen so charakteristische – mehr oder weniger stark anthroposophisch inspirierte – Bildungsbürgertum offensichtlich sein Engagement für eine Schulgründung noch nicht ungehindert entfalten.

Rückblickend ist festzustellen, dass der Sammelband seinem Untertitel gerecht wird und eine breit angelegte, informative Darstellung des österreichischen Weges der Waldorfpädagogik aus der Teilnehmerperspektive heraus liefert. Die mit dem Haupttitel „Wiener Dialoge“ geweckten Erwartungen an einen Diskurs mit unterschiedlichen Positionen werden allerdings nicht erfüllt; denn die Waldorfpädagogen bleiben hier – auch in den Interviews – fast ausschließlich unter sich. Ihre vielfältigen, oft verklärenden Selbstbeschreibungen bedürfen mithin noch der Ergänzung durch andere historische Quellen und nicht zuletzt der nüchternen vergleichenden wissenschaftlichen Analyse.

[1] Einer solchen Auflage der Wiener Schulverwaltung an die Waldorfpädagogen zur Erlangung des Öffentlichkeitsrechts verdankt die Waldorfschulbewegung beispielsweise die mittlerweile zum Standardwerk avancierte Monographie Tobias Richters „Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule“ (Stuttgart: Freies Geistesleben 2003).
Heiner Ullrich (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heiner Ullrich: Rezension von: Gergely, Elisabeth / Richter, Tobias (Hg.): Wiener Dialoge, Der österreichische Weg der Waldorfpädagogik. Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978320578621.html