EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)

Marion Scherzinger / Alexander Wettstein
Beziehungen in der Schule gestalten
FĂŒr ein gelingendes Miteinander
Stuttgart: Kohlhammer 2022
(152 S.; ISBN 978-3-17-037970-1; 29,00 EUR)
Beziehungen in der Schule gestalten Die mit 152 Seiten kompakte Monographie von Marion Scherzinger und Alexander Wettstein, die 2022 in der Reihe ‚Brennpunkt Schule‘ im Kohlhammer Verlag erschienen ist, bietet einen multiperspektivischen Zugang zum Themenkomplex ‚Beziehungen in der Schule‘. Die acht Kapitel sind in eine Einleitung (Kap. 1), die prĂ€gnant zum Thema hinfĂŒhrt, und drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird die ‚Beziehung zwischen Lehrpersonen und SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern‘ verhandelt (Kap. 2–4); der zweite Teil reflektiert ‚Beziehungen in der Schulklasse‘ (Kap. 5–6); im dritten Teil (Kap. 7–8) steht die ‚Beziehung zwischen Lehrpersonen und Eltern‘ im Fokus. Im gesamten Werk weisen InformationskĂ€sten (S. 34, 64f., 69f. u.ö.) auf intertextuelle BezĂŒge und auf (aktuelle) Publikationsempfehlungen hin, die es den Rezipierenden ermöglichen, anschlussfĂ€hig das jeweilige Thema weiterzuverfolgen. Überdies werden Empfehlungen zur eigenen Rollenreflexion sowie Merkmale von Beziehungsaspekten grau hervorgehoben, was den Text auflockert und dadurch besonders lesefreundlich macht. Kurze Zusammenfassungen nach jedem Kapitel bieten einen fundierten Überblick.

Im ersten Teil (Kap. 2–4) liegt, wie dessen Titel bereits anzeigt, der Fokus auf der unmittelbaren Beziehung zwischen SchĂŒler:innen und ihren LehrkrĂ€ften. Verwiesen wird auf die „Asymmetrie des PĂ€dagogischen“ (17). Die Gewichtigkeit der Sozialbeziehungen als bedeutendes Fundament fĂŒr das „schulische Wohlbefinden und die psychische Gesundheit von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern“ (18f.) wird durch Studien anschaulich gemacht. Scherzinger und Wettstein halten fest, dass „die Beziehung auf der Ebene des Handelns asymmetrisch ist, soll sie auf der sozialen Ebene symmetrisch sein“ (25). Außerdem wird die Verantwortung der LehrkrĂ€fte hinsichtlich der (Aus-)Gestaltung einer positiven pĂ€dagogischen Beziehung betont. In Kap. 3 wird eine solche Gestaltung nĂ€her spezifiziert: Sie solle geprĂ€gt sein von der Grundhaltung, die Kinder in ihrer IndividualitĂ€t anzuerkennen (29); die SchĂŒler:innen sollen Anerkennung erfahren, Vertrauen aufbauen und emotionale UnterstĂŒtzung erhalten können. All das soll durch Sozialbeziehungen im Schulalltag erfahrbar gemacht werden. Dabei tragen die LehrkrĂ€fte die Verantwortung des Classroom Managements, denn dessen (Aus-)Gestaltung muss schließlich wĂ€hrend eines Schulalltages (bewusst) in das Curriculum implementiert werden. Die praktische Umsetzung wird im vierten Kapitel erlĂ€utert: Scherzinger und Wettstein zeigen, dass die meist semantisch negativ aufgeladenen Termini ‚AutoritĂ€t‘ und ‚FĂŒhrung‘ auch positiv konnotiert sein können, vor allem in Bezug auf den positiven Beziehungsaufbau. Dies geschieht, so halten die beiden Autor:innen fest, indem man SchĂŒler:innen fördert, fordert, ihnen etwas zutraut sowie klare Erwartungen, Regeln und Rituale implementiert.

Kap. 5 und 6, die den zweiten Teil ĂŒber ‚Beziehungen in der Schulklasse‘ bilden, sind praxisnah mit vielen (konkreten) Empfehlungen und Angeboten zum Umgang mit VerhaltensauffĂ€lligkeiten bei SchĂŒler:innen gestaltet. Auch auf hemmende Faktoren beim Aufbau von Beziehungen wie Introvertiertheit oder soziale Ängste wird Bezug genommen (65). Die Autor:innen gehen außerdem ausfĂŒhrlich auf Freundschaften als die „zentrale[n] Beziehungen“ (70) von Kindern und Jugendlichen ein. Es werden sinnvolle Materialempfehlungen ausgesprochen, die zum (kindlichen) Philosophieren ĂŒber Freundschaft und Konflikte anregen können (73). In Kap. 6 wird bereits aus dem Titel ‚ZugehörigkeitsgefĂŒhl und Klassengemeinschaft‘ ersichtlich, dass die Schulklasse nun als soziale Gruppe definiert und beschrieben wird. Dies ist von immenser Bedeutung, da fĂŒr die Rezipierenden hierdurch Inklusions- und Exklusionsmechanismen ersichtlich werden; dieses Wissen kann dabei behilflich sein, Ausgrenzungen und Mobbing prĂ€ventiv entgegenzuwirken. Hierzu empfehlen Scherzinger und Wettstein bspw. den Gebrauch von Soziogrammen, wozu Wettstein selbst forscht (87). Am Ende des sechsten Kapitels werden einige Facetten der Entstehung, Erkennung und PrĂ€vention von (Cyber-)Mobbing beleuchtet. Als bedeutende Quintessenz kann mit Scherzinger und Wettstein „Mobbing als GruppenphĂ€nomen“ (109) bezeichnet werden, da „[j]ede SchĂŒlerin und jeder SchĂŒler [
] in Mobbingsituationen eine bestimmte Rolle als Opfer, TĂ€terin oder TĂ€ter, Assistierende, VerstĂ€rkende oder Verteidigende ein[nimmt]“ (ebd.).

Kap. 7 leitet den dritten Teil ĂŒber die ‚Beziehung zwischen Lehrpersonen und Eltern‘ ein und beschreibt die Schule als „sekundĂ€re Sozialisationsinstanz“ (113). Demnach trĂ€gt eine positive und vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern maßgeblich zu einer gelingenden Schulzeit bei. Obwohl dies selbstverstĂ€ndlich scheint, wird – betonen die Autor:innen – „das Potenzial zwischen Elternhaus und Schule zu wenig genutzt“ (ebd.). Da Familie mittlerweile facettenreich gelebt wird und nicht nur aus Vater – Mutter – Kind besteht, wird ein kurzer Einblick in die Vielfalt von Lebens- und Familienformen gewĂ€hrt sowie auf die Bedeutsamkeit interkultureller Kompetenzen bei den LehrkrĂ€ften hingewiesen (115–119). Kap. 8 synthetisiert die vorangegangenen Kapitel: „Erst wenn Eltern und Lehrpersonen sich gegenseitig vertrauen, kann ein partnerschaftliches VerhĂ€ltnis entstehen, in dem beide Seiten zum Wohl der Kinder und Jugendlichen zusammenarbeiten“ (130). Am Ende des Buches komplettiert die evolutionĂ€re Sichtweise auf soziale Beziehungen die bisherigen Überlegungen: Da wir als Menschen soziale Wesen sind, besitzen wir das „BedĂŒrfnis, dazuzugehören (Bonding), und andererseits das BedĂŒrfnis, Status zu erwerben und Macht auszuĂŒben (Status und Power)“ (131). Insbesondere wenn sich Kinder und Jugendliche (in der Schulklasse) kompetitiv behaupten möchten, ist es unerlĂ€sslich, als Lehrkraft ethische Verantwortung zu ĂŒbernehmen.

Das Literaturverzeichnis ist breit gefĂ€chert und grundsĂ€tzlich auf dem aktuellen Stand. Es verwundert jedoch, dass zwei einschlĂ€gige ForschungsbeitrĂ€ge zu pĂ€dagogischen Beziehungen nicht aufgefĂŒhrt sind: zum einen Ludwig Liegles bedeutende Monographie ‚BeziehungspĂ€dagogik‘ (2017), die bspw. auf die wichtige Unterscheidung von inter- und intragenerationellen Beziehungen und deren Dynamiken sowie auf die Bedeutsamkeit von Kinderfreundschaften eingeht – Themen, die eine zentrale Stellung auch bei Scherzinger und Wettstein einnehmen und somit einige Analogien zu Liegles Publikation aufweisen. Er ergĂ€nzt außerdem das Beziehungsspektrum um die Beziehung mit sich selbst [1]. Dies kann fĂŒr SchĂŒler:innen, aber auch fĂŒr LehrkrĂ€fte Ă€ußerst gewinnbringend sein. Zum anderen machen Scherzinger und Wettstein den Verantwortungsaspekt hinsichtlich der LehrkrĂ€fte stark und verweisen auf Arbeiten Annedore Prengels. Hier hĂ€tte zusĂ€tzlich ihre erhellende und prĂ€gnante Arbeit zur ethischen PĂ€dagogik in Kitas und Schulen (2020) BerĂŒcksichtigung finden können. Ein (nicht-)gelingendes Miteinander kann auch fĂ€cherspezifisch große Unterschiede aufweisen, wenn die physische NĂ€he (vermehrt) beim intra- und intergenerationellen Lernen im Mittelpunkt steht: Man denke z.B. an ‚körpernahe FĂ€cher‘, bei denen DemĂŒtigungen wĂ€hrend des Sport-, Technik-, oder Hauswirtschaftsunterrichts [2] vollzogen werden. DiesbezĂŒglich kann man die Reckahner Reflexionen zur Ethik pĂ€dagogischer Beziehungen und die Prinzipien ethischer PĂ€dagogik zu Rate ziehen [3].

Die Publikation ist uneingeschrĂ€nkt fĂŒr alle pĂ€dagogischen Akteur:innen und jene, die es werden möchten, aber auch fĂŒr die Hochschule zu empfehlen. Die LektĂŒre gewinnt ihren Reiz dadurch, dass sich LehrkrĂ€fte aller Schularten angesprochen fĂŒhlen dĂŒrfen. Dies zu explizieren, wĂ€re durchaus von Vorteil und wĂŒnschenswert gewesen. Insgesamt jedenfalls legen Scherzinger und Wettstein eine profunde Übersicht der pĂ€dagogischen Beziehungen im Kontext ‚Schule‘ vor, die fĂŒr Theorie und Praxis ĂŒberzeugt.

[1] Liegle, L. (2017). BeziehungspÀdagogik. Erziehung, Lehren und Lernen als Beziehungspraxis. Stuttgart: Kohlhammer.
[2] Beispiele zu DemĂŒtigungen im Sportunterricht werden hier eindrĂŒcklich beschrieben: Gommel, M. (2022). Diese DemĂŒtigungen haben SchĂŒler:innen im Schulsport erlebt. Online verfĂŒgbar unter: https://krautreporter.de/4269-diese-demutigungen-haben-schuler-innen-im-schulsport-erlebt?shared=0cc7fb45-c906-4292-8994-49332562c8d9 [zuletzt aufgerufen: 27.09.2024].
[3] Prengel, A. (2020). Ethische PĂ€dagogik in Kitas und Schulen. Weinheim: Beltz.
Mike Lebzelter (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mike Lebzelter: Rezension von: Scherzinger, Marion / Wettstein, Alexander: Beziehungen in der Schule gestalten , FĂŒr ein gelingendes Miteinander. Stuttgart: Kohlhammer 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317037970.html