Kulturelle Vielfalt und religiöse Vielfalt: In Deutschlands Schulen sind beide Dimensionen â auch mit Blick auf âden Islamâ â RealitĂ€t. Fortbilder/innen stellen hĂ€ufig die Unkenntnis und Ăberforderung der LehrkrĂ€fte zum Thema Islam fest, so auch Ingrid Wiedenroth-Gabler und ihre Kolleg/innen. An diesem Problemfeld setzt die Autorin an. Sie möchte einen Beitrag zum Umgang mit kultureller und religiös-weltanschaulicher Vielfalt leisten, indem sie unterrichtsrelevante Handlungsanregungen liefert mit dem Ziel, âweltanschaulich-interreligiöse Kompetenzâ zu fördern (11).
Wiedenroth-Gabler macht zunĂ€chst in Kapitel 1.1 deutlich, dass sie einen offenen und dynamischen Kulturbegriff vertritt, jedoch âgleichzeitig die Differenzen von unterschiedlichen Landeskulturen nicht ĂŒbersehen willâ (23). Daher schlieĂt sie sich der Definition von Stefanie Rathje an, die Kultur als âgeteilte Praxis der Lebensweltâ und Kollektiv als âStruktur von Gruppenâ ansieht (23-24). Sie verschiebt die Diskussion von Kultur auf Kollektiv, da dieser âweniger bedeutungsĂŒberladen scheintâ (24) und Menschen mehreren Kollektiven angehören und zwischen ihnen wechseln können. Wiedenroth-Gabler erkennt auf dieser Grundlage âethnische Differenzenâ (26) an, schreibt sie aber nicht individuell fest, sondern postuliert, dass âsich trotz aller Differenzen von Individuen und Kollektiven aus sehr verallgemeinernder Perspektive pauschale HomogenitĂ€tskriterien erkennen lassenâ (26) und es so zu Stereotypen kommt, wie âtypisch deutschâ.
Wie das Individuum seine individuelle und kulturelle IdentitĂ€t ausbildet, thematisiert Wiedenroth-Gabler sozialisationstheoretisch in Kapitel 1.2. Zwar wird der IdentitĂ€tsbegriff problematisiert, dennoch wird am Begriff âkulturelle IdentitĂ€tâ festgehalten, da Wiedenroth-Gabler davon ausgeht, dass so wie Subjekte ihre Ich-IdentitĂ€t durch âGrenzen in der GegenĂŒberstellung zu dem Anderenâ (48) gewinnen können, dies auch auf der kollektiven Ebene Sinn mache. Die Antwort auf die Frage, wie man zum kulturellen Wesen wird, erfolgt also auf der Grundlage der Konstruktion des âAnderenâ. Abzulehnen sei aber die Konstruktion der eigenen kulturellen IdentitĂ€t auf Kosten der anderen durch Verabsolutierung, Ethnozentrismus und Abwertung.
Konzepte von InterkulturalitĂ€t und TranskulturalitĂ€t werden in Kapitel 1.3 vorgestellt, wobei auffĂ€llt, dass Wiedenroth-Gabler die 10 Thesen zur Leitkultur von Lothar de MaiziĂšre bei aller Kritik auch wiederum verteidigt, indem sie ihm eine âBindung an das Grundgesetz und die Freiheitsrechteâ und ein âBemĂŒhen um konsensuale Regelnâ (68) bescheinigt. Modelle, die einen erweiterten Kulturbegriff enthalten, die von âhybriden Zugehörigkeiten, von radikaler PluralitĂ€t, von Ăbereinstimmungen und Differenzen aufgrund mehrfacher kollektiver Zugehörigkeitenâ (69) ausgehen, werden aus schulpĂ€dagogischer Sicht allerdings klar bevorzugt. Es wird empfohlen, die Zielsetzungen der Modelle in konkrete Projekte zu ĂŒberfĂŒhren.
Viele Fragen wirft Kapitel 2.1 auf. Darin stellt Wiedenroth-Gabler dar, mit welcher Perspektive sie âden Islamâ sieht. Sie verdeutlicht, dass sie eine âprotestantische Glaubensbrilleâ hat, da sie in diesem Glauben aufgewachsen ist, eine âneutrale wissenschaftliche Brilleâ, durch ihr Studium und zeitweise eine âislamische Glaubensbrilleâ durch die Begegnung mit Muslim/innen und eigene Auseinandersetzungen (74). AnschlieĂend erlĂ€utert sie sehr konkret aus ihrer persönlichen Perspektive den Unterschied zwischen ihrer âneutralenâ wissenschaftlichen Herangehensweise an Religion und WahrheitsansprĂŒche und derjenigen Herangehensweise von Muslim/innen. Diese hĂ€tten âmassive WahrheitsansprĂŒcheâ, âdie Vorstellung, der einzig wahren Religion anzugehörenâ, die fehlende FĂ€higkeit, zwischen theologischem Bekenntnis und einer wissenschaftlichen Aussage zu unterscheiden, da âAussagen der Tradition oft wie historische WahrheitssĂ€tze verstandenâ (74) werden wĂŒrden. Diese Erfahrungen der Autorin werden in dieser Rezension nicht in Frage gestellt. Allerdings wird in Frage gestellt, ob Wiedenroth-Gabler diese Erfahrungen auch mit deutschen akademisch-muslimischen Theolog/innen gemacht hĂ€tte. Aus der Argumentation der Autorin wird nĂ€mlich deutlich, dass sie die neueren Entwicklungen, vor allem die Positionen der deutschen akademisch-islamischen Theologie kaum rezipiert hat. Ein Dialog mit dieser hĂ€tte sie auch vor der einen oder anderen VerkĂŒrzung in ihrer Darstellung âdes Islamâ bewahrt. So werden beispielsweise die Verse, die sie in Bezug auf das VerhĂ€ltnis zu anderen Religionen (83-84) oder zu Frauen (91) zitiert, ohne jegliche exegetische Auseinandersetzung, losgelöst vom historischen Kontext aneinandergereiht. Das vermittelt den nicht selten von konservativen Diskursen geförderten Eindruck, der Koran sei literalistisch und könne ohne historisch-kritische Kontextualisierung gelesen und verstanden werden, eine Herangehensweise, der muslimische Theolog/innen in Deutschland vehement widersprechen.
In Kapitel 2.2 geht es darum, wie mit religiöser und weltanschaulicher PluralitĂ€t konstruktiv umgegangen werden soll und wie Extremismen vorgebeugt werden kann. Man stolpert dabei ĂŒber Aussagen wie christliche ReligiositĂ€t sei âweniger sichtbar, pluralisiert und individualisiertâ. Muslimische ReligiositĂ€t jedoch sei âöffentlich sichtbar, teilweise konfrontativâ (122). Auf der Grundlage ĂŒberwiegend quantitativer Studien möchte die Autorin zeigen, dass Muslim/innen eine starke ReligiositĂ€t aufweisen. Diese starke ReligiositĂ€t sei verknĂŒpft mit einer geringeren Verbundenheit mit Deutschland (124), einer Abneigung gegenĂŒber dem Westen und weniger Integrationswille, der Ideologie einer âRĂŒckkehr zu den Wurzeln des Islamâ, einer Bevorzugung religiöser Regeln statt den Gesetzen des Landes, in dem sie leben (125) usw. Einzelne positive Tendenzen werden ebenfalls aufgefĂŒhrt. Im Anschluss daran wird gefragt, ob Ausgrenzungserfahrungen zu âhöherer ReligiositĂ€t mit Fundamentalismusneigungâ fĂŒhren oder ob âfundamentale (muslimische) ReligiositĂ€t, zu Ausgrenzung fĂŒhrtâ (126). Auch hier ist kritisch anzumerken, dass die Autorin sich in ihrer Beschreibung auf bestimmte, zwar ohne Zweifel zahlenmĂ€Ăig starke Diskurse fokussiert, die Leser/innen aber dabei kaum einen Einblick in die Vielfalt der Positionen der in Deutschland lebenden Muslim/innen bekommen, die zum Teil in heftigem Widerstreit stehen.
Die Frage, was interreligiöse Bildung bewirken soll, wird in Kapitel 2.3 behandelt. Es wird postuliert, dass die interkulturelle Bildung erweitert werden muss durch die Dimension Religion und die interreligiöse Bildung durch die weltanschauliche Perspektive. Dabei werden die PrĂ€missen des Projekts Weltethos nach Hans KĂŒng und das Modell zur Entwicklung von interreligiöser und weltanschaulicher Kompetenz nach Manfred Pirner als Grundlage fĂŒr den Umgang mit religiöser und weltanschaulicher PluralitĂ€t in der Schule gewĂ€hlt (141).
Im abschlieĂenden Kapitel 3 werden die Schwerpunktsetzungen der Autorin noch einmal deutlich. Ihre allgemeinen Erörterungen zum Thema âkulturelle Vielfalt in der Schuleâ bilden fĂŒr sie in erster Linie den theoretischen Rahmen und den Hintergrund fĂŒr ihr Schwerpunktthema âIslam als Herausforderungâ. Das vorliegende Buch ist in erster Linie eine religionspĂ€dagogische Handreichung zum Umgang mit eher âkonservativenâ muslimischen Positionen und Diskursen in Deutschland. Es wĂ€re zu wĂŒnschen, dass die Vielfalt und Konflikthaftigkeit der muslimischen Diskurse und die mittlerweile entstandene akademische muslimisch-theologische Kompetenz in Deutschland stĂ€rkere ErwĂ€hnung und WĂŒrdigung gefunden hĂ€tten. Das hĂ€tte nicht nur zu einer breiteren und wirklichkeitsnĂ€heren Darstellung âdes Islamâ in Deutschland gefĂŒhrt, sondern wĂ€re auch dem Anliegen der Autorin dienlich, konkrete Handlungsempfehlungen im Umgang mit den erwĂ€hnten âkonservativenâ muslimischen Diskursen zu entwickeln.
EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)
Kulturelle Vielfalt in der Schule
Islam als Herausforderung
Stuttgart: Kohlhammer 2019
(193 S.; ISBN 978-3-17-035677-1; 29,00 EUR)
Fahimah Ulfat (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Fahimah Ulfat: Rezension von: Wiedenroth-Gabler, Ingrid: Kulturelle Vielfalt in der Schule, Islam als Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317035677.html
Fahimah Ulfat: Rezension von: Wiedenroth-Gabler, Ingrid: Kulturelle Vielfalt in der Schule, Islam als Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317035677.html