EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)

Alexander Wettstein / Marion Scherzinger
Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen
Stuttgart: Kohlhammer 2019
(175 S.; ISBN 978-3-17-034761-8; 28,00 EUR)
Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen Ein störungsfreier Unterricht ist eine Fiktion; vielmehr sind Unterrichtsstörungen Teil des Schulalltags. Der Umgang damit stellt Lehrpersonen aller Schulstufen vor entscheidende Herausforderungen, denn ein störungsanfälliger Unterricht ist für alle Beteiligten nachteilig: für Lehrkräfte, weil er eine Ursache für Burnout darstellt, für Lernende, weil es dadurch zu einer Einschränkung der aktiven Lernzeit kommt. Dabei können sowohl Lernende als auch die Lehrperson selbst der Störfaktor sein. Wie so vieles im Leben sind auch Störungen im Unterricht eine Frage der Perspektive.

Die Autor/innen Wettstein und Scherzinger zeigen auf, was Lehrerinnen und Lehrer über Unterrichtsstörungen wissen müssen und wie sie durch diagnostische Kompetenz, eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung, eine adaptive Klassenführung und durch einen guten Unterricht Störungen im Klassenzimmer wirksam vorbeugen.

Im ersten Teil des Buches wird das Thema Unterrichtsstörungen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Eingangs definieren der Autor und die Autorin Unterrichtsstörungen als Störung des Lehr-Lernprozesses und zeigen auf, dass diese von Schülerinnen und Schülern sowie von Lehrpersonen ausgehen können. Anschliessend präsentieren sie die Ergebnisse ihrer Fragebogenstudie, mit der sie die Wahrnehmungsunterschiede von Unterrichtsstörungen bei Lehrenden und Lernenden in 5. und 6. Klassen erforschten. Die Resultate sind für jede Lehrperson aufschlussreich: Bezüglich der Einschätzung von Störungen bestehen geringfügige Übereinstimmungen zwischen Lehrpersonen und Lernenden. Die Lehrer-Schüler-Beziehung wird sehr unterschiedlich wahrgenommen. Hingegen verorten Lehrpersonen als auch Lernende die Ursachen von Unterrichtsstörungen bei Umständen, die außerhalb ihres eigenen Handelns liegen. Für Lehrpersonen besteht der Grund für Unterrichtsstörungen beispielsweise in der Klassenzusammensetzung, der Klassengrösse und Merkmalen einzelner Lernenden. Nur einige Lehrpersonen reflektieren ihre Unterrichtstätigkeiten bei der Entstehung von Unterrichtsstörungen kritisch. Entscheidend ist aber auch die Selbstwirksamkeitserwartungen der Lehrpersonen. Wer davon überzeugt ist, etwas bewirken zu können, interpretiert Unterrichtsstörungen als Herausforderungen und nicht als Bedrohung. Im weiteren Verlauf zeigen Wettstein und Scherzinger auf, dass Routine- und Affekthandlungen im Zusammenhang mit Unterrichtsstörungen eine Lehrperson einerseits entlasten können, andererseits aber die Gefahr besteht, unbewusst, emotional und stereotyp mit Druck und Strafe auf unerwünschtes Verhalten von Lernenden zu reagieren. Den Schluss des ersten Teiles bilden die Belastungen von Unterrichtsstörungen auf die Gesundheit von Lehrpersonen und die psychischen Bewältigungsformen von herausfordernden Situationen im Unterricht.

Der Einstieg in den zweiten Teil des Buches bildet eine Erkenntnis aus der Hattie-Studie (2013), die besagt, dass rund 30% der Leistungsunterschiede von Lernenden auf die Lehrperson zurückzuführen sind. Damit knüpfen Wettstein und Scherzinger an ihre Fragebogenstudie an und zeigen den Leserinnen und Lesern in vier Kapiteln auf, wie Lehrpersonen ihr eigenes Verhalten in Interaktionen mit den Lernenden kritisch überdenken können und auf welche Weise sie Unterrichtsstörungen vorbeugen. Der Blick wird damit auf die Unterrichtshandlungen der Lehrperson gelegt, wobei der Schwerpunkt im Umgang mit Unterrichtsstörungen nicht in der Reaktion der Lehrperson auf Unterrichtsstörungen liegt, sondern in der Art und Weise, in welcher eine Lehrperson ihren Unterricht gestaltet, die Klasse führt und eine Lehrer-Schüler-Beziehung aufbaut. Genau diese Punkte sind die entscheidenden, denn so gelingt es Unterrichtsstörungen differenziert wahrzunehmen, sie zu analysieren, durch systematische Prävention vorzubeugen und angemessen auf Störungen im Unterricht zu reagieren. Dies können Lehrpersonen jedoch nur tun, wenn sie merken, was in der Klasse und im Unterricht abläuft. Dazu brauchen Lehrpersonen diagnostische Kompetenz, die es ihnen erlaubt, nicht vorschnell zu urteilen, sondern alternative Interpretationen zu entwerfen und Störungen als Hinweise von Lernenden zu verstehen. Anschließend wird aufgezeigt, dass eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung Störungen effektiv vorbeugen kann. Ein freundlicher Umgangston, gegenseitiger Respekt, Herzlichkeit und Wärme schaffen Sicherheit und Vertrauen und machen Lehrpersonen nahbar. Im nächsten Kapitel werden die Kunst der Klassenführung veranschaulicht und Vermeidungsstrategien von Störungen erörtert: Die ganze Klasse im Auge behalten, die unterschiedlichen Bedürfnisse der Lernenden erkennen, Verzögerungen im Unterrichtsfluss vermeiden, bewältigbare Herausforderungen und Lernende aktiv am Unterricht beteiligen lassen. Zum Schluss werden die Merkmale guten Unterrichts ausgeführt, der sich dadurch auszeichnet, dass der Unterricht gut rhythmisiert ist, die Lehrperson ihren Lernenden etwas zutraut und sie partizipativ in den Unterricht einbindet. Eine neugierige Lehrperson, die mit Interesse an den Unterrichtsstoff herangeht, motiviert damit auch ihre Lernenden und fungiert als Modell. Den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Lernenden begegnet die Lehrperson dabei mit innerer Differenzierung.

Auf eine Ausblendung soll hingewiesen werden. In der heutigen Zeit tun wir uns schwer mit dem Begriff der «Autorität». Er ist – wie auch der Begriff «Führung» (Klassenführung) - ein schwieriger Begriff und häufig negativ konnotiert. Der Autor und die Autorin zeigen hervorragend auf, was eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung ausmacht; sie gehen aber nicht darauf ein, ob und inwiefern diese Beziehung asymmetrisch ist und wie es sich dabei mit der Autorität einer Lehrperson verhält. Gerade für Berufseinsteigerinnen und -einsteiger unter den Lesenden wäre eine Abgrenzung und Klärung des Autoritätsbegriffes wünschenswert gewesen.

Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag zum Thema Unterrichtsstörungen und spricht ein breites Fachpublikum an. Es rekurriert inhaltlich breit auf zentrale vorliegende Forschungsergebnisse und bereitet diese stringent-systematisch auf. Damit wird den Lesenden eine individuelle Auseinandersetzung mit subjektiven Theorien sowie persönlichen Handlungsmustern ermöglicht. Viele Beispiele aus der Praxis illustrieren die hoch komplex ablaufenden Interaktionsprozesse im Unterricht. Eine lohnende Lektüre für Studenten und Studentinnen sowie Experten und Expertinnen, die sich in Lehre und Praxis mit Störungen im Unterricht befasst.
Saskia Sterel (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Saskia Sterel: Rezension von: Wettstein, Alexander / Scherzinger, Marion: Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen. Stuttgart: Kohlhammer 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317034761.html