Es mangelt nicht an EinfĂĽhrungen in die Erziehungswissenschaft, so der Tenor vieler Rezensionen zu EinfĂĽhrungen in die Erziehungswissenschaft. Einen neuen Vorschlag, Studierende in erziehungswissenschaftliche Forschungsthemen einzufĂĽhren, haben nun Helmut Fend und Fred Berger vorgelegt. Wie bei jedem Buch, das mit dem Anspruch antritt, umfangreiches erziehungswissenschaftliches Wissen zu synthetisieren und das Wichtigste daraus zu destillieren, stellen sich Fragen der Auswahl und Schwerpunktsetzungen und ihrer BegrĂĽndung. Die Autoren gehen offen mit diesem Problem um, indem sie betonen, dass es sich um eine EinfĂĽhrung unter anderen handelt.
Die spezifische Differenz zu vielen anderen Einführungsbüchern – und aus Sicht der Rezensenten auch eine zentrale Stärke des Buchs – besteht darin, dass sie einen starken Fokus auf die historisch wandelbaren Kontexte des Aufwachsens und die damit verbundenen variierenden soziostrukturellen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen von Erziehung legen. Damit gelingt ihnen die Darstellung eines ungemein vielgestaltigen und komplexen Panoramas der historischen und gegenwärtigen Realität unterschiedlicher Formen von Erziehung und Erziehungsverhältnissen, der damit einhergehenden Sichtweisen auf Kinder und deren praktische Folgen.
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert, deren Inhalte im Folgenden kurz resümiert werden, bevor abschließend Anspruch und Ertrag kritisch gewürdigt werden. In der Einleitung erläutern die Autoren mit der kulturvergleichenden und der historischen Perspektive auf Erziehungsverhältnisse die beiden zentralen Organisationsprinzipien der Einführung und explizieren ihr eigenes Wissenschaftsverständnis, das sie dem Buch zugrunde legen. Neben einem theoriegeleiteten empirischen Blick auf die Erziehungswirklichkeit wird auch die Diskussion explizit normativer Fragen miteingeschlossen. Im zweiten Kapitel werden Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft eingeführt und erläutert sowie pädagogisches Handeln von anderen Tätigkeiten abgegrenzt.
Hierbei wird ein besonderer Fokus auf die historische gewachsene Einsicht in die Eigenentwicklung von Heranwachsenden gelegt, die von außen gefördert, aber nicht kausalschematisch determiniert werden kann. Im dritten Kapitel wird u.a. mit Rekurs auf kulturanthropologische Forschung zu traditionell lebenden Gruppen für die immensen Unterschiede von Erziehungsformen sensibilisiert, die in kulturellen, ökonomischen und soziostrukturellen Differenzen begründet sind und hierdurch verständlich und erklärbar werden. Darüber hinaus wird auch vergleichende sozialisationstheoretische, sozial- und entwicklungspsychologische und soziologische Forschung zu universellen Gemeinsamkeiten und Differenzen in Generationenverhältnissen vorgestellt, wobei hier insbesondere das Mutter-Kind-Verhältnis und (im Anschluss an Max Weber) das Verhältnis der Weltreligionen zu unterschiedlichen Verständnissen und Formen der Erziehung im Zentrum der Analyse stehen. Im vierten Kapitel wird eine historische Perspektive auf Erziehungs- und Bildungsphänomene eröffnet mit dem Fokus auf Prozesse der zunehmenden Methodisierung und Humanisierung von Erziehungsverhältnissen. Wie jedes historisch gewachsene Phänomen können die Erziehungsverhältnisse der Gegenwart als historischer Fortschritt oder Verfall gedeutet werden, wobei moderne Erziehungsgeschichte von den Autoren – alles in allem – eher als Fortschrittsgeschichte bewertet wird. Er folgt ein kurzer idealtypischer Überblick über geschichtliche Epochen und ihre Erziehungsformen von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Abschließend wird noch auf gewandelte Familienverhältnisse in der Moderne eingegangen. Das fünfte Kapitel legt den Blick auf die jüngere Geschichte und Gegenwart und beschäftigt sich zunächst mit Fragen der pädagogischen Wirkungsforschung, insbesondere mit Ergebnissen der Erziehungsstilforschung, und damit, was sich hieraus für die Diskussion über gute und gelingende Formen von Erziehung lernen lässt. Darauf aufbauend wird ausgehend von einschlägigen Forschungsbefunden auf den Wandel von Sozialisationsfeldern in modernen Gesellschaften eingegangen, die nahelegen, dass die Rolle von Familie als Ort des Aufwachsens und der Erziehung zumindest teilweise durch die zunehmende Bedeutung anderer Erfahrungsräume relativiert wird. Zu nennen sind hier sozialisierende Einflüsse durch Peers, die (neuen) Medien, die Ausweitung institutionalisierter Formen der Erziehung wie etwa Schulen, die einen größeren Platz im Leben Heranwachsender einnehmen. Im finalen sechsten Kapitel erläutern die Autoren noch einmal die Gestaltungsbedürftigkeit menschlichen Aufwachsens und resümieren die Erträge ihrer Argumentation. Mit Verweisen auf empirisch fundierte Bildungsberichte wird der aktuelle Entwicklungsstand und Entwicklungsbedarf im Umgang mit Kindern in modernen Gesellschaften zusammengefasst und auf die Notwendigkeit verwiesen, neben der Realität und Kontingenz von Erziehungsverhältnissen auch vermehrt deren Güte, Wünschenswertigkeit und Legitimation zu diskutieren.
Zur Kritik: Wenn man mit Fend und Berger davon ausgeht, dass der Sinn und Zweck einer Einführung nicht nur darin besteht, über zentrale Forschungsthemen und Forschungszugänge zu informieren, sondern auch Novizen für das eigene Fach zu begeistern, indem man ihnen eine Idee von der Relevanz und Komplexität der verhandelnden Probleme und Fragen vermittelt, dann – so unsere Einschätzung – erfüllt das vorgelegte Buch diesen Zweck voll und ganz. Die von den Autoren favorisierte kulturvergleichend-historische Doppelorientierung und der damit verbundene Fokus auf Kontexte und Bedingungen des Aufwachsens in pädagogischen Konstellationen scheint aus unserer Sicht besonders geeignet, die Faszination, die mit der Beschäftigung mit erziehungswissenschaftlichen Fragen einhergehen kann, zu vermitteln. Insbesondere angesichts des globalen Fokus verwundert es zugleich etwas – und dies ist selbstverständlich auch aktuellen Debattenkonstellationen geschuldet –, dass Themen einer postkolonialen Erziehungswissenschaft nur beiläufig behandelt werden. Moderne und Kolonialismus, so die in diesem Forschungskontext tradierte Sichtweise, lassen sich jedoch nicht strikt trennen, und dies gilt auch und gerade für moderne Erziehungsverhältnisse. Kritikwürdig dürfte aus Sicht der international-vergleichenden Erziehungswissenschaft ggf. auch sein, dass methodische Probleme, die mit dem Vergleich von Kulturen und Religionen und ihrer Auswirkung auf Erziehungskonzeptionen – insbesondere in einer globalisierten Welt – einhergehen, eher unterbelichtet bleiben. Der Verweis auf diese Leerstellen und Probleme, die ggf. in einer zweiten Auflage durch ein entsprechendes Kapitel gefüllt werden könnte, soll jedoch in keiner Weise die Vorzüge und Leistungen dieser Einführung schmälern, welche allen Interessierten empfohlen werden kann.
EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)
Die Erfindung der Erziehung
Eine EinfĂĽhrung in die Erziehungswissenschaft
Stuttgart: Kohlhammer 2019
(205 S.; ISBN 978-3-17-034515-7; 29,00 EUR)
Johannes Drerup und Moritz Sowada (Amsterdam/Dortmund und Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup und Moritz Sowada : Rezension von: Fend, Helmut / Berger, Fred: Die Erfindung der Erziehung, Eine EinfĂĽhrung in die Erziehungswissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 2019. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317034515.html
Johannes Drerup und Moritz Sowada : Rezension von: Fend, Helmut / Berger, Fred: Die Erfindung der Erziehung, Eine EinfĂĽhrung in die Erziehungswissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 2019. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317034515.html